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Die Kabine
»... dann hol's halt selber runter ...«, schrie er fast, doch dann brach augenblicklich die Verbindung ab, als die Aufzugtüren sich schlossen. Er starrte auf das Smartphone in seiner Hand: Kein Netz. Die Kabine hatte sich in Bewegung gesetzt. Er steckte das Smartphone zurück in die Innentasche seine Anzugjacke. Er wartete.
Er würde sich jetzt nicht von ihr aus der Ruhe bringen lassen. Sie war erwachsen, sie konnte eigenständig Dinge erledigen. Er war ihr Partner, nicht ihr verfluchter Krankenpfleger.
Dann plötzlich rührte sich nichts mehr. Die für das Herabsinken der Fahrstuhlkabine typische Sogwirkung hatte nachgelassen.
Aber die Türen glitten auch nicht auf, so wie sie's eigentlich sollten. Steckte er etwa zwischen zwei Etagen fest? Das wäre mehr als unpassend, dachte er und schaute auf seine Armbanduhr. Gut, noch hatte er Zeit. Aber er würde sich beeilen müssen. Er würde sich wohl oder übels ein Taxi nehmen müssen.
Die Kabine war ziemlich klein und roch unangenehm nach kaltem Tabakrauch und das, obwohl der Boden recht sauber wirkte. Alles wirkte noch neu. Neben den Metalltüren war ein kleines metallenes Viereck in der Holzvertäfelung eingelassen und in dem wiederum war ein Loch, das den Durchmesser einer Zweieuromünze hatte. Er sah sich in der kleinen Kabine um, drehte sich dabei einmal um die eigene Achse, fand aber nichts mehr, außer der Holzvertäfelung an drei Wänden und den zwei Metalltüren. Es war, als stünde man in einem übergroßen Sarg, dachte er bitter.
Er blickte wieder in das Loch, zog dabei seine hellen Brauen zusammen, und zwischen ihnen entstand eine tiefe Furche, wie durch ein Metzgerbeil eingetrieben. Um seine Mundwinkel hatten sich zwei sichelförmige Falten gebildet.
Beim Betreten hatte er kaum auf etwas geachtet, sondern war nur mit dem Telefonat beschäftigt gewesen. Diese dämliche Pute, dachte er, nichts konnte sie selber machen, für alles musste sie ihn her zitieren. Selbst für die kleinsten Dinge. Aber diesmal musste sie es alleine schaffen.
Das Loch eröffnete ihm keinerlei Verständnis, und es gab auch keine Auskunft über das Stockwerk oder zu irgendwas, das ihm weiter geholfen hätte. Es war so tot wie die leere Augenhöhle einer Leiche. Er spürte, dass sich in letzter Zeit ein starker Hang zum Tod in seine Gedanken geschlichen hatte. Vieles erinnerte ihn an das ewige Vergessen, an die ewige Dunkelheit. Er war in seinen besten Jahren, er war körperlich topfit, er hatte nicht ein graues Haar oder auch nur ein Gramm überschüssiges Fett am Leibe. Weswegen machte er sich also darüber Gedanken?
Er richtete sich wieder zu seiner vollen Größe von einen Meter und achtzig auf und verzog dabei leicht seinen schmalen Mund. Die Hand, die den Koffer umklammert hielt, war nun fast knochenbleich und ein leichter Schweißfilm hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Jetzt roch er zum Urin und zum Tabakrauch auch noch das Deodorant, das er sich vorhin auf die Achseln gesprüht hatte und ihm stieg auch der moschusartige Duft seines Aftershaves in die Nase. Die Kabine kam ihn unglaublich eng, ja klaustrophobisch vor.
Er besann sich, besser die Ruhe zu bewahren, denn Panik würde ihn hier nicht raus helfen.
Er holte schnaufend tief Luft, so als müsse er sich nochmals über den Gestank, der ihn inzwischen wie eine Kompresse einzuhüllte, klar werden. Er starrte zur Decke hinauf - denn er musste an die vielen amerikanischen Filme denken, wo in den Aufzugkabinen so eine Art Dachluke eingelassen war, durch die man hindurch klettern und den Schacht erreichen konnte, doch hier war das leider nicht der Fall. Wäre auch zu schön um wahr zu sein. Vermutlich hätte er es alleine niemals dort hinauf geschafft, selbst wenn es eine Dachluke oder wie auch immer man es nannte, gegeben hätte. Obwohl er kein kleiner Mann war. Doch selbst wenn er sich auf seinen schwarzen Lederkoffer gestellt hätte, wäre er nicht dran gekommen. Aber vermutlich hätte dieser unter seinem Gewicht eh nachgegeben. Also, das brachte es alles nicht!
Er trug wie immer zur Arbeit einen tadellosen, blauen Anzug mit Nadelstreifen, ein gestärktes weißes Hemd, eine dunkle Krawatte und schwarze Lederschuhe, die er abends, und dann am nächsten Morgen wieder, auf Hochglanz polierte, bis sie wie das Silberbesteck in der Schublade glänzten. Der linke Absatz war etwas mehr und etwas schiefer abgelaufen als der rechte, aber das fiel zum Glück niemanden auf. Gut, bis auf seine Frau, die ihm fast täglich mit ihrem Rat, eine orthopädische Einlage zutragen, in den Ohren lag. Grauenvoll.
Er griff ein weiteres Mal in seine Anzugjacke - er trug seit Wochen keinen Mantel mehr, weil es immer heißer geworden war -, holte das Smartphone wieder heraus und betrachtete das Display, auf dem sich eine Unzahl von Symbolen für etliche Anwendungen befand. Diese Anwendungen hatte er - bis auf den Kalender - nie gebraucht. Er schrieb keine SMS oder schoss Fotos mit der integrierten Kamera. Er wusste nicht mal, wozu die meisten Anwendungen zu gebrauchen waren und hatte sich auch nie Gedanken darüber gemacht. Aber welcher Absatz mehr abgelaufen war als der andere, das machte ihn zu schaffen. Er schüttelte unwillkürlich mit dem Kopf.
Er klickte sich umständlich über das Touchpad durch die schier endlose Namensliste bis zum Namen seiner Frau durch und betätigte dann das grüne Telefonhörer-Symbol; er legte sich das Handy ans Ohr und strich dabei mit der oberen Kante des Telefons über seine blonden Haarspitzen, die erst kürzlich geschnitten worden waren. Er legte viel Wert auf ein gutes Äußeres, nur so konnte er seinen Kunden gegenübertreten. Es ist wichtig, einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Er hörte kein Freizeichen. Er verfluchte die moderne Technik und die damit einhergehenden Kinderkrankheiten. So nannte man es doch: Kinderkrankheiten. Leicht verärgert drückte er das rote Telefonhörer-Symbol, hielt das Smartphone aber noch immer in der linken Hand umklammert. Sein Gesichtsausdruck drückte nun pure Verzweiflung und Wut aus, während er sich nach der Leiste mit den Etagentasten umsah, doch dann entdeckte wieder nur dieses kleine Loch, das ihn - so schien es ihm nun - wie eine Kameralinse beobachtete und ihn mit kühler Arroganz zu verhöhnen schien. Dann kam ihm eine Idee.
Er wedelte mit der Hand, in der er noch immer das Smartphone hielt, vor dem Loch rum, weil er glaubte, allein dadurch einen Mechanismus auslösen zu können, der die Kabine wieder in Fahrt brachte, doch nichts dergleichen geschah. Noch immer rührte sich nichts, bis auf die Panik in ihm, die jetzt Stück für Stück seine bis dahin aufrechterhaltene Gelassenheit verdrängte. Es gab keinen Notrufschalter oder sonst was, nur dieses kleine Loch, das den Durchmesser einer Zweieuromünze hatte. Er schürzte die Lippen und schnaufte laut. Er schaute auf seine Armbanduhr: er würde es nicht rechtzeitig schaffen. Sobald er wieder Netz hätte, würde er seinen Kunden anrufen müssen und einen neuen Termin vereinbaren.
Er erinnerte sich, dass eine Zeitlang der Aufzug außer Betrieb gewesen war und er wochenlang die Treppen bis zur fünften Etage hinauf und dann zum Erdgeschoss wieder hinunter laufen musste. Und jetzt, wo der Fahrstuhl endlich wieder ging und technisch gesehen auf dem allerneusten Stand war, steckte er nun in dieser beschissenen Kabine fest. Sobald er hier raus sein würde, würde er beim Hersteller Beschwerde einreichen, aber eine, die es in sich hatte! Seine Wut steigerte sich immer weiter und er spürte wie die Zeit immer zügiger verstrich. Wieder sah er zu dem kleinen Loch hin, konnte dessen Bedeutung aber einfach nicht erfassen. Es war eben nur ein Loch, mehr nicht. Sonst gab es nichts, nur dieses Loch. Dabei konnte es sich doch nur um einen Konstruktionsfehler handeln!
Er hatte noch nie von einer solchen Art Fahrstuhl gehört oder gelesen. Er bekam mehr denn je das Gefühl, die Kabine um ihn herum würde von Sekunde zu Sekunde enger werden, wie bei einer Schrottpresse.
Er wollte brüllen, er wollte um sich schlagen, er hätte am liebsten die Kabine in kleine Stück geschlagen, doch wusste er, dass all seine Wut ihn hier nicht heraus bringen würde. Er steckte sich das Smartphone zurück in die Innentasche, stellte den Koffer neben sich auf den Boden, zog sich seine Anzugjacke aus, faltete sie zusammen und legte sie in eine Ecke, so dass sie keine Falten schlug. Dann betrachtete eingehend den Spalt zwischen den zwei Türen, die normalerweise automatisch auf glitten, wenn man die gewünschte Etage erreicht hatte, es aber aus unerfindlichen Gründen nicht taten.
Warum nicht?
Was stimmte mit diesem Aufzug nicht?
Das Hemd klebte inzwischen feucht an seinem Rücken und unter den Achseln hatten sich dunkle Flecken gebildet. Er hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, keine Luft zu bekommen und sog automatisch die stickige Luft der Kabine ein, was er gleich darauf bereute. Verdammt noch mal! Hatte das Scheißding denn keine Klimaanlage? Kam es ihm nur so vor, oder wurde die Luft in der Kabine tatsächlich immer knapper?
Er wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung über das Gesicht, dann hüllte er es mit beiden Händen ein, so als wolle er sich, wie er es als Kind oft gemacht hatte, unsichtbar machen. Er atmete eine Zeitlang in seine hohlen Hände, roch seinen leicht nach Eukalyptus riechenden Atem. Er nahm die Hände wieder vom Gesicht und starrte die Metalltüren an, entschlossen, diese verdammten Türen auf zu bekommen, egal wie.
Er legte seine manikürten Fingernägel in den schmalen Spalt, stellte seine Beine schulterbreit auseinander, atmete tief ein, hielt die Luft in seinen Lungen, zog mit aller Kraft an den Metalltüren und ließ dabei die Luft in einer langanhaltenden Ausatmung durch den Mund entweichen. Es klang wie das Zischen eines Dampfkessels. Die Sehnen an seinem Hals traten hervor, das Hemd spannte sich über seinen breiten Rücken, unter den Nägel traten weiße Halbmonde hervor, doch diese verdammten Türen rührten sich nicht einen Zentimeter. (Stattdessen erklang ein hochtönendes Warnsignal, das ihm schier die Nerven zu zerreißen drohte. Als nach ein paar Minuten wieder Stille eintrat, dröhnte es noch immer in seinen Ohren.)
»Scheiße!« Erschöpft wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Immer mehr hatte er das Gefühl, gleich zu ersticken. Oder auf ewig hier eingesperrt zu sein. Er lockerte seine Krawatte, die ihm in diesen Moment wie ein Galgenstrick vorkam.
Er rief um Hilfe und seine Stimme klang fremdartig in seinen Ohren. Er klopfte die Wände nacheinander ab. Er schlug heftig mit den Fäusten dagegen.
Stieß sogar mit dem Fuß dagegen.
Seine Rufe wurden immer verzweifelter, bis seine Stimme zu einem mickrigen Krächzen verschliss und er nur noch mit wild klopfendem Herzen und rauschendem Puls zum Keuchen fähig war und sich an eine der holzvertäfelten Wände zu einer halb sitzenden, halb hockenden Stellung hinab sinken ließ. Seinen Kopf ließ er kraftlos zwischen seinen aufgestellten Knien sinken. Er starrte starr auf den Metallboden.
Sein Hemd war nun komplett durchgeschwitzt und sein Deo hatte auch bereits kapituliert, und er roch nun seinen eigenen penetranten Körpergeruch und den letzten Rest des Aftershaves. Er saß einfach nur da, lauschte seinen flachen Atemzügen, dem Rauschen seines Blutes, das leise Sirren der Deckenbeleuchtung. Vorher war ihm das Geräusch gar nicht aufgefallen - es erinnerte ihn an das Summen von winzig kleinen Insekten, die in seine Gehörgänge eingedrungen waren und sich dort einnisteten. Er betrachtete seinen umgekippten Koffer, seine zusammengefaltete Anzugjacke, seine auf Hochglanz polierten Lederschuhe mit der Lochmusterung an der Vorderkappe. Irgendwann musste ja jemand kommen! Es war ein großer Wohnblock mit vielen Parteien. Es würde jemand kommen. Es musste einfach jemand kommen! Weitere Minuten verstrichen, in denen nichts geschah.
Plötzlich packte ihn eine heftige Wut auf sich und auf diese stickige Kabine. Er stand wie von der Tarantel gestochen auf und schlug auf das massive Holz der Innenvertäfelung ein.
"Geht auf, Gott verdammt!", schrie er und im nächsten Moment glitten die Türen geräuschlos auseinander, so als wäre nie etwas gewesen.