Mitglied
- Beitritt
- 09.09.2001
- Beiträge
- 290
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Die Kürze der Zeit
Die Kürze der Zeit
"Folie à deux"
1 - Die Ruhe des Schlafs
Sal schlief. Seit vielen Jahren.
*
Steil abfallende Wände, geröllbedeckte Hänge, gebrochene, in der tiefstehenden Sonne schwarz-rötlich schimmernde Felsen und ein stetiger, kühler Wind aus Nordost. Das war Lady's Hide Out.
Ke'an saß auf dem Gipfel eines namenlosen Berges. Sein Blick schweifte über die steinerne Wüste. Wieder einmal fragte er sich, weshalb seine Vorfahren ausgerechnet dieses unwirtliche Stück Land erworben hatten. Nichts wuchs hier. Der geringe Eisengehalt der Steine lohnte den Abbau nicht. Niemand wohnte hier; niemand würde jemals hier wohnen wollen. Lady's Hide Out bestand aus zweihundert Quadratkilometern totem und nutzlosem Land.
Er zog seine Jacke fester um sich. Irgendwann würde er das Rätsel lösen. Falls es ein Rätsel war. Nieke, in ihrer überaus pragmatischen Art, bezweifelte es. Für sie war Lady's Hide Out ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, über das nachzudenken sich nicht weiter lohnte. Sie hätte das Gelände lieber heute als morgen verkauft - wenn es einen Interessenten gegeben hätte.
Der Multikom in seiner Tasche piepste.
"Bist du wieder in den Bergen?", fragte sie. "Hast du vergessen, dass Mareen auf die Lieferung wartet? Und zum Abendessen kommen Gäste. Bis dahin hast du nicht mehr viel Zeit!"
Der Vorwurf in ihrem Tonfall war nicht zu überhören. Ke'an zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern.
"Ich komme", antwortete er. Er war spät dran. Wieder einmal. Sie würde ihn daran erinnern und eine in ihren Augen angemessene Entschuldigung einfordern.
Er seufzte. Nieke war zwei Jahre jünger als er. Trotzdem bestimmte sie den Ablauf seines und ihres Lebens seit dem tragischen Tod der Eltern.
Langsam kletterte er hinunter. Der große Lastengleiter stand wartend auf einem breiten Vorsprung.
*
Zuerst zwang ihn eine für diese Jahreszeit ungewöhnlich breite und hohe Schlechtwetterfont zu einem langsamen Flug. Dann nötigte Mareen ihm ein Gespräch auf. Ihr Mann war, wie so oft, in der Stadt und sie war alleine und suchte nach Geborgenheit und Verständnis. Ke'an entging nicht ihr vom Schicksal getrübter Blick. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie sich sehr nahe gewesen waren. Er brachte es nicht fertig, sie einfach stehenzulassen. Freundlich hörte er ihr zu und dachte gleichzeitig mit einem Gefühl der Ängstlichkeit an die wartende Nieke.
Es dunkelte bereits, als er sich auf den Weg nach Hause machte. Er hatte es nicht eilig. Jetzt nicht mehr. Schon von weiten sah er die hell erleuchteten Fenster des Farmhauses. Niekes kleiner Stadtgleiter stand auf dem Vorplatz, daneben ein Tourenwagen, der vermutlich dem Gast gehörte.
Ke'an hasste es, wenn Nieke einen ihrer Freunde einlud. Er hasste die gierigen Blicke, mit denen die Männer sie auszogen. Er hasste es, den freundlichen Gastgeber spielen zu müssen, während in ihm die Eifersucht brodelte.
Er setzte den Transporter im Schuppen auf. Die Scheinwerfer erloschen. Für wenige Momente sank er hinter dem Steuer zusammen. Früher, als junger Mann, hatte er sich mehr als einmal hier verkrochen. Bilder von grausamer Deutlichkeit hatten ihm gezeigt, was in ihrem Schlafzimmer geschah, und er hatte sich darüber die Knöchel blutig gebissen. Laut summend hatte er versucht, die Geräusche, die flüsternden Stimmen, vor allem: ihre dunkle und sanfte und ihn auf eine besondere Art berührende Stimme zu verdrängen. Seine verzweifelten Mühen waren vergeblich gewesen, denn wie die Bilder waren die Laute nur in seinem Kopf gewesen.
Erneut seufzte er. Durch die sternenlose Nacht ging er hinüber zum Haus. Nieke hörte das Klappern seiner schweren Arbeitsstiefel auf der Holzveranda und öffnete ihm die Tür. Er sah ihre drohend wartende Silhouette im Licht der hellen Deckenlampe. Er blinzelte geblendet.
"Da bist du ja endlich!" Sie war kleiner, schmaler und schmächtiger als er, doch er duckte sich unter ihren Worten.
"Tut mir leid", versuchte er eine Entschuldigung anzubringen, "aber Mareen ..."
"Ich verstehe", antwortete sie beißend. "Ihr Mann besäuft sich mal wieder in der Stadt, und du - du hast sie getröstet."
Ke'an entging nicht die bedeutsame Betonung des Wortes. Die unausgesprochene, ungerechtfertigte Beschuldigung ließ ihn zusammenzucken.
*
Sein Blick fiel durch die Küchentür. Ihre Gäste saßen an einem gedeckten Tisch. Erleichtert stellte er fest, dass Nieke nicht mit dem Essen auf ihn gewartet hatte. Genauso erleichtert registrierte er, dass es sich bei den Gästen um ein Paar handelte.
"Entschuldigen Sie meine Verspätung", sagte er höflich. Er gab der Frau die Hand. "Ich bin Ke'an."
"Mona", antwortete sie mit einem Lächeln. "Eine Arbeitskollegin von Nieke."
"Norris", stellte sich der Mann vor.
"Setz dich", fuhr Nieke dazwischen. Sie drückte ihn auf den Stuhl an der Frontseite des Tisches. Sie schob ihm die Platten mit dem Brot und dem Aufschnitt hin. "Iss."
Ke'an nahm das Messer. Nieke wusste um seine Langsamkeit. Sie wusste, dass er mehrere Minuten brauchte, sich auf eine neue Situation einzustellen. Jetzt aber drängte sie ihn. Ke'an zweifelte nicht daran, dass sie es absichtlich tat. Er durchschaute sie, aber es half ihm nicht. Er sah auf seine schmutzigen Fingernägel. Nieke hatte ihm nicht die Zeit gelassen, sich zu waschen. Oder sich umzuziehen. Die anderen trugen zwanglose, saubere Kleider, er hingegen grobes, verdrecktes Arbeitszeug. Er war der tumbe Landjunge, sie die erfahrenen Stadtmenschen. Er sah nicht hoch, aber er wusste, dass sie ihn beobachteten, während er die Butter auf das Brot schmierte und es belegte. Ihm wurde heiß. Kleine Schweißtropfen traten auf seine Stirn. Sie wussten, dass er wusste, dass sie jede seiner Bewegungen verfolgten ...
*
Er mochte es nicht, wenn Nieke ihn bemutterte. Genau deshalb füllte sie demonstrativ ein großes Glas mit Milch und schob es neben seinen Teller. "Hier", sagte sie.
"Danke", murmelte er.
Sie setzte sich neben ihn auf die Bank. Ihre Nähe war ihm nur zu bewusst. Er spürte den sanften Druck, die sanfte Wärme ihres Schenkels an seinem Bein.
Er liebte Nieke in einem Maße, in dem er nie zuvor eine Frau geliebt hatte. Natürlich wusste er, dass es eine verbotene Liebe war. Niemand durfte jemals davon erfahren. Wenn er mit Nieke alleine war, dann war alles gut. Wenn aber Fremde dabei waren, veränderte sie sich. Dann wurde sie spitz und gehässig in ihren Äußerungen und ihrem Verhalten. Dann ließ sie keine Gelegenheit aus, ihn in Verlegenheit zu bringen. Weshalb musste sie mehr als deutlich zeigen, dass sie ihn nicht als Mann, als Konkurrenten um ihre Gunst betrachtete?
Nieke ignorierte ihn jetzt deutlich. Sie begann ein lockeres Gespräch mit Mona und Norris. Langsam fing Ke'an sich. Er versuchte schließlich, sich so gut er konnte an dem Gespräch zu beteiligen. Höflich hörten die anderen zu, wenn er sich äußerte. Wie man einem Kind lauscht, dachte er. Als er seinen Teller zurückschob und den letzten Rest Milch trank, nahm Nieke wieder Notiz von ihm. Sie sagte: "Ich habe Mona und Norris aus einem bestimmten Grund eingeladen. Norris ist Geologe. Er hat vor wenigen Monaten sein Studium auf der Erde abgeschlossen. Er hat sich bereiterklärt, deine Unterlagen über Lady's Hide Out anzusehen."
Nur für einen kurzen Moment war Ke'an überrascht. Nieke hielt sein Interesse an Lady's Hide Out für eine Träumerei. Ihrer festen Meinung nach hätte er seine Zeit sinnvoller verbringen können als mit der Jagd nach einem Phantom. Aber sie wusste, wieviel es ihm bedeutete. Und natürlich wusste sie, dass alle geologischen Untersuchungen bisher negativ verlaufen waren. Ke'an hielt es nicht für sehr wahrscheinlich, dass ein Neuling wie Norris, frisch von der Universität, etwas würde erreichen können. Doch darauf kam es nicht an. Es war die Geste. Nieke unterstützte ihn trotz aller Bedenken.
Ke'an bedankte sich bei ihr. Er führte Norris in das Arbeitszimmer.
2 - Die Bilder des Traums
Sal träumte nicht.
Während er schlief, füllte ein einfach konstruierter Wärmetauscher einen verschleißfreien Akku. Sobald ein vorbestimmter Wert überschritten wurde, erwachte Sal. Dann sah er sich um und lauschte - und schlief wieder ein.
Sal träumte nicht. Sein Schlaf war wie ein langsames Sterben.
*
Ke'an entschuldigte sich bei Norris. Er zog sich zurück, wusch sich und legte neue, saubere Kleidung an. Danach fühlte er sich wohler.
"Sie haben eine sehr umfangreiche Datensammlung über das Gebiet", stellte Norris fest, der sich unterdessen mit dem Computer beschäftigt hatte. Er gab sich keine Mühe, einen gewissen Respekt in seiner Stimme zu unterdrücken. "Photographien, Falschfarbenaufnahmen, seismologische Aufzeichnungen, Resonanzwerte, Massediagramme - alles denkbare."
"Ja", nickte Ke'an, "und irgendwo in diesen Daten liegt das Geheimnis von Lady's Hide Out verborgen." Er gab dem Computer einen kurzen Befehl. Auf der Projektionsfläche erschien eine farbige Darstellung der Berge.
"Das ist das Ergebnis der Auswertungen", erläuterte Ke'an. Die Unsicherheit, die er bisher gezeigt hatte, fiel von ihm ab. Er bewegte sich auf vertrautem Gebiet. Er erläuterte dem aufmerksam lauschenden Mann das System, das er im Laufe der Jahre entwickelt hatte.
Norris war sichtlich beeindruckt. Schließlich nahm er einen glitzernden Speicherwürfel aus einer Innentasche seiner Jacke. "Die Datenbasis für die wahrscheinlich modernste KI für diesen speziellen Aufgabenbereich. Meine Abschlussarbeit. Ich würde sie gerne einspielen. Wenn sich in Ihren Daten ein Hinweis auf eine geologische Besonderheit verbirgt, dann wird diese KI ihn finden."
Ke'an willigte ohne zu zögern ein. Vermutlich würde es nicht helfen, aber sicherlich würde es auch nicht schaden.
Der Computer übernahm die Daten aus dem Würfel, prüfte und integrierte sie. Gemeinsam verfolgten die beiden Männer die Statusmeldungen auf der Projektionsfläche.
"Hier", sagte Norris. Er deutete auf einen Punkt westlich der Mitte. Die Farbe wurde dunkler, wechselte schließlich ins Blaue.
"Der Index hat sich fast verdoppelt", stellte Ke'an verblüfft fest. "Weshalb?"
Der Computer nahm die Frage als Befehl. Das Bild wechselte. Es zeigte erneut das Geröllfeld - und einen scharfkantigen, U-förmigen Schatten.
"Mehr als 100 Meter breit", murmelte Norris gebannt. "An der Öffnung ca. 30 Meter unter der Oberfläche, an der Rundung ca. 100 Meter." Er sah Ke'an an. "Vermutlich eine Höhle. Zu gleichmäßig, um natürlich zu sein."
"Das Geheimnis von Lady's Hide Out", sagte Ke'an mit steigender Aufregung. "Eine Höhle! Ein Versteck - ein Versteck für die Lady. Lady's Hide Out!"
Er starrte das Bild an. "Ich brauche einen Resonator", stieß er hervor. "Hier und hier." Er tippte in die Projektion. Er lachte, drehte sich und rannte zur Tür.
*
"Nieke!", schrie er. "Nieke! Wir haben es! Wir haben das Geheimnis gefunden!"
Die beiden Frauen kamen herein. Ke'an zog Nieke zu der Projektion. Für einen Moment vergaß er die Anwesenheit ihrer Gäste. Er drückte Nieke fest an sich und strahlte sie an, als er auf den dunklen Schatten zeigte und seine Bedeutung erläuterte.
Sie spekulierten und diskutierten über die Entdeckung. Ke'ans Begeisterung steckte sie an.
"Ich werden morgen den alten Jo'el aufsuchen und mir den Resonator ausleihen", entschloss sich Ke'an schließlich.
"Der alte Jo'el ist nicht mehr im Dienst", stellte Norris mit einem Grinsen fest. Er sah Ke'ans überraschtes und beunruhigtes Gesicht. "Keine Sorge. Ich habe seinen Posten übernommen. Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie auf Ihrer Exkursion. Und natürlich stelle ich Ihnen den Resonator gerne zur Verfügung. Wir haben hier eindeutig eine geologische Besonderheit, die untersucht werden muss."
"Danke", antwortete Ke'an aufrichtig und reichte dem anderen die Hand.
*
Ke'an saß auf der Couch im Wohnzimmer. Nieke beobachtete ihn von der Tür aus. Er hielt die Augen geschlossen und lächelte abwesend. Sekundenlang stand Nieke still. Wovon mochte er träumen?
Sie setzte sich neben ihn.
"Ein ereignisreicher Tag", sagte sie. "Zufrieden?"
"Sehr!" Er küsste sie auf die Wange. "Danke."
Sie schmiegte sich an seine Brust. Ihre Hand streichelte sein Gesicht. Sie fühlte seine Bartstoppeln unter ihren Fingern und in der Weiche ihrer Handfläche. Sie mochte dieses Gefühl.
"Entschuldige - dass ich Mareen zur Sprache gebracht habe. Es ist nur ... ich bin ..." Sie stockte, es fiel ihr schwer, es zuzugeben.
Er drückte sie sanft an sich. "Es gibt keinen Grund für dich, eifersüchtig zu sein."
Sie erinnerte sich an jenen Abend vor zwei Jahren. Jenen Abend, der ihrer beider Leben verändert hatte. Er war bei Mareen gewesen und erst spät nach Hause gekommen. Sie hatte wartend auf der dunklen Veranda gesessen. Sie hatte die quälenden Gedanken nicht vertreiben können. Ke'an und Mareen, Ke'an und Mareen hatte es immerfort und schmerzend in ihrem Kopf gehämmert. Als er kam, hatte sie ihm Vorwürfe gemacht. Sie hatten sich gestritten, sie hatten sich angeschrien, fast hätten sie sich sogar geschlagen. Dann hatten sie sich geküsst. Auf einer Art geküsst, auf der sich Liebende küssten, die eine Ewigkeit getrennt gewesen waren.
Nieke streckte sich aus und bettete ihren Kopf in seinem Schoß. Das war lange her. Jetzt gehörte er nur ihr. Sie wusste es und konnte doch die Eifersucht in ihr nicht vollständig unterdrücken. Denn sie hatte kein Recht auf ihn. Jede andere Frau, auch die verheiratete, doppelt so alte Mareen, hatte ein größeres Recht. Eines Tages würde er eine andere Frau lieben. Eines Tages würde er sie, Nieke, verlassen und die gemeinsam verbrachte Zeit für immer aus seinen Gedanken verbannen.
Sie spürte die Wärme seines Körpers. Sein Atem ging ruhig und langsam.
"Du bis zu spät gekommen", murmelte sie mit geschlossenen Augen.
"Es tut mir leid", antwortete er ehrlich.
"Das verlangt geradezu nach einer Wiedergutmachung", fuhr sie fort und lächelte diabolisch.
"Ja", presste er unbehaglich hervor.
"Küss mich."
Er beugte sich zu ihr. Etwas später und etwas atemlos fragte er: "Wie stellst du dir die Wiedergutmachung vor?"
"Genau so, Dummkopf!" Sie zog erneut seinen Kopf zu sich hinunter.
*
Ke'an erwachte früh und voller Ungeduld. Gutmütig lachte Nieke ihn aus. Verspielt warf sie das Kissen nach ihm.
"Wenn es wirklich eine Höhle ist", meinte sie, "und wenn sich wirklich etwas darin befindet, dann ist es auch morgen noch da."
Natürlich hatte sie recht. Aber es änderte nichts an seiner Unruhe. Er sah ihr nach, als sie zur Arbeit in die Stadt fuhr. Dann setzte er sich an den Computer und starrte den dunklen Umriss auf der Kartenprojektion an. Eine Höhle. Er war sich sicher, er wusste, was sich in dieser Höhle befand.
Die Gesamtbevölkerung des Planeten hatte schon immer niedrig gelegen. Diese Welt war insgesamt zu unfruchtbar. Die Siedler hatten schon in den ersten Jahren eine genetische Datenbank angelegt und, als die Bevölkerungszahl stieg, zwangsläufig eine aktive Geburtenkontrolle eingeführt. Nieke arbeitete in der Analyse. Sie hatte vollen Zugriff auf alle Daten. Sie hatte sie ausgewertet. Zu ihrer Überraschung reichten seine und Niekes genetische Linien nur bis in die dunklen Jahre zurück. Damals mussten ihre Vorfahren mit einem Raumschiff gekommen sein. Doch zu der Zeit war der reguläre Verkehr zwischen den Sternen bereits fast zum Erliegen gekommen. Möglicherweise - vermutlich hatten ihre Ahnen ein eigenes Raumschiff besessen. Sie waren vor dem Schrecken geflohen, hierher, und hatten sich niedergelassen. Ihr Schiff hatten sie versteckt. Lady's Hide Out. Die Lady war ein Raumschiff. Ke'an hatte keine Zweifel.
Er kam fast dreißig Minuten zu früh zu der Verabredung mit Norris.
*
Sie hatten die Multifrequenzimpulsgeber positioniert. Dann hatten sie den Resonator aktiviert. Durch einen ausgeklügelten Rückkopplungsmechanismus bestimmte er die richtigen Frequenzen und die richtigen Winkel. Da man diese Werte nicht berechnen konnte, benutzte das Gerät ein evolutionäres Programmschema.
Die Anzeigen auf dem kleinen Schirm wechselten ständig. Am Anfang starrten Ke'an und Norris ununterbrochen auf das Display. Das Ergebnis konnte in Minuten kommen - oder in Stunden.
Norris war schweigsam. Dankbar registrierte Ke'an es. Es war nicht nötig, die Zeit des Wartens durch sinnlose, verkrampfte Gespräche zu füllen. In sich versunken saßen die beiden Männer nebeneinander. Eng zogen sie ihre Jacken um sich und versuchten, den kühlen Morgen draußen zu halten. Sie sahen in die Ferne. Stumm bewunderten sie die kahle Schönheit von Lady's Hide Out.
Das plötzliche Summen des Resonators war fast schon eine ungewünschte Unterbrechung.
3 - Die Sanftheit des Erwachens
Der Boden pochte kaum merklich. Ein empfindliches mechanisches Pendel nahm die Schwingungen auf und induzierte in einer Spule einen schwachen Strom. Die Spannung überschritt einen sorgfältig berechneten Schwellwert. Ein kurzer Impuls zuckte durch eine kupfergoldene Leitung. Ein elektronischer Schalter kippte um.
Sal erwachte.
*
Ke'an fuhr schnell. Er wollte Nieke die guten Nachrichten überbringen. Natürlich wusste er, dass sie erst in einigen Stunden nach Hause kommen würde. Ungeduldig wartete er auf der Veranda. Als er endlich ihren Stadtgleiter in der Ferne auftauchen sah, sprang er auf und rannte ihr entgegen.
"Nieke!", rief er. "Nieke! Es ist ein Raumschiff! Wir werden es ausgraben! Morgen werde ich Traktoren besorgen, mit dem wir das Geröll entfernen können!"
Zuerst lachte sie über seine ungestüme Begeisterung. Doch dann gefror ihr Gesichtsausdruck. Er verstummte.
"Das wird viel Geld kosten, nicht wahr?", fragte sie reserviert.
Sie hatten das Farmland ihrer Eltern für ein geringes Entgelt an ihre Nachbarn verpachtet. Nieke selbst verdiente gut. Und er, Ke'an, brachte mit seinen kleinen Transportaufträgen ebenfalls Geld in ihre gemeinsame Kasse ein. Sie lebten sparsam mit dem, was sie hatten, und deshalb gut und ohne finanzielle Sorgen. Nieke sah sein plötzlich bedrücktes Gesicht.
Sie umarmte ihn tröstend. "Irgendwie wird es schon gehen", murmelte sie. "Irgendwie."
*
Am Abend feierten sie die Entdeckung in der Stadt. Ke'an überwand sich selbst und zu seiner eigenen Überraschung genoss er das Zusammensein mit ihren neuen Freunden Mona und Norris. Das Essen war gut. Der Alkohol löste ihre Zungen. Sie unterhielten sich, sie scherzten, sie lachten.
Es war Nicholson, Mareens Mann, der den unvermeidlichen Schatten über ihre Freude legte.
Nicholson hatte immer gewusst, dass seine Frau ihn betrog. Deshalb hasste er Ke'an. Aufmerksam verfolgte er alles, was mit ihm zu tun hatte. Vor wenigen Tagen hatte er ein Gerücht gehört, das er nur zu bereitwillig glauben wollte. Er sah die fröhliche Gruppe am Ecktisch. Er sah Ke'an lachen, und sein Hass wuchs ins Unermessliche. Jetzt würde er das Gerücht an die Öffentlichkeit bringen, er würde Ke'an damit zu einen Aussätzigen machen.
Nicht mehr nüchtern stolperte er durch das Lokal. Die Gäste verstummten. Sie beobachteten ihn auf seinem Weg. Sie schienen zu ahnen, dass etwas Ungewöhnliches bevorstand. Nicholson baute sich vor dem Tisch auf. Sein betrunkener Blick blieb an Ke'an hängen. "Nieke ist eine hübsche, junge Frau. Nicht wahr, Ke'an? Und du bist nicht sonderlich intelligent, nicht wahr?", höhnte er laut. "Aber findest du nicht auch, dass es etwas zu weit geht, die eigene Schwester zu schwängern?"
Es vergingen ein paar Sekunden, bevor Ke'an begriff. Er fuhr auf. Er stand sprachlos mit offenem Mund. Doch es war nicht die Anschuldigung, die ihn erstarren ließ. Er blickte auf Nieke hinunter.
"Schwanger?", wiederholte er ungläubig.
In ihren Augen sah er die unerwartete Antwort.
"Wer - wer - ist der Vater?", stotterte er laut.
Nicholson lachte ihn aus. "Wer ist der Vater?", wiederholte er Ke'ans Worte mit ätzendem Spott.
Ke'an bemerkte, dass ihn alle anstarrten. "Ich bin es nicht", sagte er, sich rechtfertigend. "Ich kann es nicht sein."
Niemand glaubte ihm.
*
Ke'ans Gedanken befanden sich in einem wilden Aufruhr. Wellen seltsamer Gefühle in ihm verhinderten ein klares Denken. Die Realität und die Welt seiner Wünsche vermischten sich zu einem unentwirrbaren Ganzen. Nur nebenbei bekam er mit, wie Nicholson zur Seite gedrängt wurde. Sie bezahlten ihre Zeche und beschlossen das Ende des gemeinsamen Abends. Ke'an war es recht. Er hatte so viele Fragen.
Er drängte Nieke, den Wagen am Straßenrand abzustellen, kaum als sie die Stadtgrenze hinter sich gelassen hatten. Vorsichtig berührte er ihren Bauch.
"Im wievielten Monat bist du?", fragte er leise.
"Im dritten."
"Willst du das Kind?"
"Willst du es?", gab sie zurück.
"Ja", brachte er schließlich heraus. "Ja ... aber ... es ist deine Entscheidung. - Willst du es?"
Sie nickte schweigend.
"Wer ...", es kostete Ke'an Überwindung, diese Frage zu stellen. Er hatte Angst vor der Antwort, egal, wie sie lauten mochte. "Wer ist der Vater?"
Sie sagte sehr ruhig: "Du bist es."
Es durfte nicht sein, deshalb zweifelte er: "Du weißt, dass ich mich vor Jahren habe sterilisieren lassen."
Sie nickte erneut. "Ja - aber du bist der einzige Mann, der in Frage kommt. Und die genetische Analyse bestätigt es. Du bist der Vater. - Solche Fälle kommen vor."
Er war nicht erleichtert. "Ist das Kind gesund?"
"Die Wahrscheinlichkeit für einen genetischen Defekt liegt weit unter dem Durchschnitt", sagte sie vorsichtig.
"Ich freue mich", sagte Ke'an nachdenklich. "Ich bin sogar glücklich." Er sah ihr direkt in die Augen. "Dir ist klar, dass du dich dadurch für die nächsten Jahre fest an mich bindest? Durch dick und dünn, in guten wie in schlechten Zeiten?"
Sie umschlang ihn mit ihren Armen. "Anders will ich es nicht", hauchte sie in sein Ohr. "War das ein Antrag?"
"Ja", raunte er heiser zurück. "Wenn du mich willst ..."
"Ja, ich will", flüsterte sie. "Und du, willst du ..."
"Ja, ich will."
Sie lachte ihn an. "Dann darfst du jetzt die Braut küssen."
Das tat er.
4 - Die Kühle des Sommermorgens
Sal beobachte. Noch war es zu früh für eine Entscheidung.
*
Nieke spürte die Bewegungen des Babys. Verträumt lächelte sie aus dem Fenster. Sie dachte wie so oft an Ke'an. Ihren Ke'an. Er hatte sich in den letzten Monaten verändert. Er war ernster geworden, verantwortungsbewusster, liebevoller, noch liebenswerter. Sie seufzte unhörbar. So viel Glück ...
Ihr Hausarzt hatte in der Öffentlichkeit bestätigt, dass Ke'an sterilisiert war. Den Gerüchten war damit eine wesentliche Grundlage genommen worden. Natürlich kannte der Arzt die Wahrheit, aber er würde schweigen. Auch Mona wusste Bescheid, denn aus beruflichen Gründen waren die genetischen Daten für sie kein Geheimnis. Nieke sah durch das Labor zu der anderen. Mona bemerkte ihren Blick. Sie hob den Kopf und lächelte.
"Ich sehe dich an und weiß, was du denkst", sagte sie leicht spöttisch.
Nieke fühlte sich ertappt. In den vergangenen Monaten waren Mona und Norris zu Freunden geworden. Es war nicht recht von ihr, ihnen einen möglichen Vertrauensbruch zu unterstellen. Mona kam zu ihr und setzte sich auf die Tischkante.
"Darf ich dich etwas fragen?"
"Natürlich", antwortete Nieke mit einem Gefühl des Unbehagens.
Mona zögerte. "Wie benimmt sich Ke'an als werdender Vater. Dir gegenüber, meine ich. Wie benimmt sich ein Mann, der Vater wird?"
"Seitdem er es weiß, ist er total aufgedreht. Ständig ist er um mich herum. Er tut alles für mich. Am liebsten würde er mich in Watte einpacken und mich nicht mehr aus dem Haus lassen." Nieke kicherte. "Ich musste sogar ..."
"Was musstest du?"
Nieke errötete tief bis in die Haarwurzeln. Sie hatte schneller gesprochen als gedacht und bereute es.
"Nichts", sagte sie hilflos, "nichts."
"Komm schon, was musstest du?"
"Nun - ich musste ihm nachweisen, dass Sex dem Baby nicht schadet."
Mona lachte. Nach einem Moment fiel Nieke in ihr Lachen ein. Es tat so gut, mit jemanden über Ke'an zu sprechen, als wäre er ein Mann wie jeder andere.
*
Ke'an war glücklich. Nicht nur, dass sie jetzt eine richtige Familie waren oder sein würden. Sein Weltbild hatte sich verändert. Die Prioritäten hatten sich verschoben. Nie hätte er gedacht, dass er diesen männlichen Beschützerinstinkt in sich haben könnte. Doch Nieke und das ungeborene Kind begannen sein Leben fast vollständig zu bestimmen. Lady's Hide Out war immer noch wichtig für ihn. Aber nicht mehr so wichtig.
Er verbrachte viel Zeit auf der Farm, in Niekes Nähe. Dazwischen erledigte er seine Aufträge, und nur hin und wieder, sehr viel seltener als früher, flog er hinaus zu Lady's Hide Out.
Norris hatte ihm einen Bohrer aus der geologischen Abteilung zur Verfügung gestellt. Daneben Material zum Bau eines Tunnels. Ke'an gab sich Mühe. Doch das Geröll war zu instabil. Der Tunnel war bereits zweimal in sich zusammengefallen, und beim ersten Mal war Ke'an nur mit Glück mit dem Leben davon gekommen. Danach war er noch vorsichtiger geworden.
Als er schließlich genügend Geröll zur Seite geräumt hatte, so dass sich eine Öffnung zur Höhle bildete, spürte er nur den Stolz auf seine Arbeit, auf seine Beharrlichkeit. Da war nichts mehr in ihm von der Träumerei, die ihn am Anfang getrieben hatte.
Ich werde doch noch erwachsen, dachte er belustigt.
Der gleißende Strahl der Lampe stach durch das Dunkel. Mit großen Augen bewunderte Ke'an den riesigen, silbergrauen Diskus.
5 - Die Schatten des Tages
Sal ließ es zu, dass der Mann das Schiff betrat. Sal wartete, und seine Geduld wurde belohnt. Der Mann berührte unbeabsichtigt, für einen kurzen Moment nur, einen unscheinbaren Sensor. Es genügte für einen genetischen Abdruck. Sal verglich, und die Abweichungen waren im erwarteten und zulässigen Rahmen. Dieser Mann war ein Nachkomme des alten Kapitäns.
Er erfüllte somit die Kriterien. Er würde Sals neuer Herr sein.
Scheinbar bereitwillig gab Sal Auskunft auf Ke'ans neugierige Fragen. Schließlich wies er auf den Energiemangel hin. Bereits am nächsten Tag stand ein kleiner Meiler vor dem Eingang zur Höhle und pumpte die Energie, die Sal so nötig brauchte, in fast reiner Form durch armdicke Kabel. Langsam stieg die Pegelmarke der Akkus. Unbemerkt prüfte Sal sich selbst und alle Teile des Schiffes.
*
Nieke schrie vor Schmerz. Ihr Arzt hatte sie vorbereitet, ihr auch schmerzstillende Mittel gegeben. Trotzdem schrie sie. Ke'an konnte es kaum aushalten. Er hielt sie sanft und sprach beruhigend auf sie ein. Als die nächste Wehe kam, krallte Nieke sich in seinem Arm fest. Ihr Blick ging ins Leere, ihr Gesichtsausdruck war abwesend, vermutlich hatte sie seine Anwesenheit sogar vergessen. Ke'an trocknete den Schweiß auf ihrer Stirn.
*
Es war kein Zufall, der Raumkapitän Richard Kane auf diese abseits gelegene, unbedeutende Welt geführt hatte. Während er ungeduldig darauf wartete, dass sein Schiff entladen und beladen wurde, hörte er von dem Fund in den Bergen. Seine Neugier war geweckt. Seine höfliche Anfrage, ob er die Lady besichtigen dürfe, wurde von Ke'an freudig aufgenommen und bejaht.
Bereits als Rick in der Höhle stand und den hellgrauen Koloss aus Stahl im Licht der Lampen glänzen sah, erahnte er mit dem Instinkt eines erfahrenen Raumfahrers die Besonderheit dieses Schiffes.
Die Lady war, ohne Zweifel, von Menschen gebaut worden. Doch das Zeichen der Werft suchte Rick vergeblich.
Das Schiff war, auch dies ohne Zweifel, als Frachtschiff konzipiert. Rick fand die typischen Schlitten und Klammern für die Container in den Laderäumen. Was aber hatte das riesige Schwimmbecken auf dem oberen Mitteldeck und was hatten die geradezu luxuriösen Passagierkabinen an Bord eines Frachtschiffes zu suchen?
Rick kannte die verschiedensten Antriebssysteme aus eigener Anschauung, und über die exotischeren hatte er auf der Akademie gehört. Vor dem Röhrensystem auf dem Mitteldeck stand er jedoch hilflos. Hätte er nicht gewusst, dass die Lady ein Raumschiff war, er hätte ihr jede Qualifikation dazu abgesprochen.
Rick stand lange vor dem Bordrechner. Er war groß und klobig und zeugte vom Alter des Schiffes. Dass Sal genauer gesagt aus insgesamt drei Hochleistungsrechnern bestand, verwirrte Rick. Jeder einzelne hätte das Schiff ohne Probleme selbständig steuern können, und es wären noch genügend Kapazitäten freigeblieben.
Die Kapitänskabine bestand aus zwei Räumen. Beide waren für sich und einzelnt genommen Wohn- und Schlafzimmer. Aus einer Eingebung heraus öffnete Rick die Schranktüren des zweiten Raumes. Erschrocken fuhr er zurück, als eine nackte junge Frau mit langem blondem Haar ihn anlächelte. Sie bewegte sich nicht. Ihre seeblauen Augen blieben starr ins Nichts gerichtet. Rick grinste. Er bezweifelte nicht, dass dieser Roboter nicht nur auf dem ersten Blick einer menschlichen Frau zum Verwechseln ähnlich sah. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie einsam ein Raumkapitän sein konnte.
Die medizinische Abteilung gab Rick weitere Rätsel auf. Da war in der Mitte des Raumes der übliche Überlebenstank - und an der hinteren Querwand stand ein zweiter. Er war wuchtiger gebaut, wirkte stabiler und wurde eingerahmt von Maschinen und Kabeln, die nur die Front freiließen. Rick seufzte über diesem Rätsel. Normalerweise stand ein Überlebenstank frei, damit der behandelnde Arzt jederzeit und von allen Seiten auf den Patienten Zugriff hatte.
Ihm fiel auf, dass in der Wand neben dem seltsamen Überlebenstank eine Durchgangsklappe eingelassen war. Er öffnete sie und kroch in eine schmale, kurze, blind endende Nische. Er leuchtete mit seiner Lampe die Wände ab. Er sah die Bedienungspanele von einem Dutzend deaktivierter Hochleistungsrechner. Rick gab das Wundern auf.
Vielleicht hätte sich das Unglück vermeiden lassen, wenn Rick das Erlebte nicht als Episode abgetan hätte. So aber sprach er erst Monate später mit seinem Mentor über das Schiff. Zu seinem Erstaunen erfuhr er, dass die Lady nicht unbekannt war. Ein anderer Name, zu einer anderen Zeit ...
Rick versuchte sofort, sich mit Ke'an in Verbindung zu setzen, aber da war es bereits zu spät.
6 - Der Vorbote der Dunkelheit
Der Wunsch kam für Sal nicht unerwartet. Seit seiner vollständigen Aktivierung hatte er Daten gesammelt, sie analysiert und Lösungen errechnet.
"Ja", antwortete er also. "Die Lady kann diese Höhle aus eigener Kraft verlassen."
"Gut", antwortete Ke'an. "Was kann ich dabei tun?"
Sal wusste, dass die Menschen zumindest glauben mussten, dass sie benötigt wurden. Deshalb bat er Ke'an, in der Pilotenkanzel Platz zu nehmen. Für einen eventuell eintretenden Notfall, der, da war sich Sal sicher, nicht eintreten würde. Seine Kalkulationen ließen keinen Platz dafür.
Die Energie in den Akkus war ausreichend. Sal öffnete den Zufluss zur Starterkammer. Wasserstoff, Tage zuvor von ihm heimlich und unbemerkt in einem einfachen Elektrolyseprozess erzeugt, mit geringen, aber genau berechneten Verunreinigungen, breitete sich aus und wurde gezündet. Das Plasma raste schockartig durch die Röhren des Mitteldecks. Als sich der Kreis schloss, als sich der Einsteinraum deformierte und sich Spalten zu der übergeordneten Raumzeit öffneten, hatte Sal genügend Energie der richtigen Art zur Verfügung. Er füllte die Akkus bis zur Puffergrenze, dann ließ er ein Null-Gravitationsfeld entstehen. Sal formte ein zusätzliches Prallfeld, so wie er es brauchte. Es hüllte zum einem die Lady vollständig ein und schütze sie vor herabfallenden Steinen, zum anderen drückte es das Schiff langsam auf den Tunnel, auf die Wand aus Geröll zu. Langsam, Zentimeter um Zentimeter bohrte sich die Lady durch die Gesteinsmassen der Freiheit entgegen.
Ke'an saß in dem Pilotensitz. Mit großen Augen sah er zu, wie die Steine an einer unsichtbaren Mauer Meter vor der Lady hängenblieben, zermalmt wurden und runterrutschten. Begeisterung und Erregung erfassten ihn, die sich noch steigerten, als der Durchbruch geschafft war und das helle Sonnenlicht in die Pilotenkanzel fiel.
"Nach Süden", sagte er heiser.
Ruhig schwebte das Schiff seinem Ziel entgegen.
*
Nieke saß mit dem schlafenden Baby auf dem Arm auf der Veranda des Hauses. Sie genoss die wärmenden Strahlen der nachmittäglichen Sonne. Ihre Gedanken schweiften ungezwungen und angenehm.
Sie bemerkte am Horizont ein näherkommendes Blinken. Zuerst dachte sie sich nichts dabei, aber dann erahnte sie die Form, und sie wusste plötzlich, was es war. Sie erhob sich, und ungläubig und erstaunt sah sie auf den riesigen, silbernen Diskus. Er schob sich näher, vor die Sonne. Nieke, das Baby, das Haus wurden von dem Schatten verdeckt. Der Vorplatz war groß, aber noch zu klein für das Schiff. Es senkte sich und als es stand, ragte es zu einem Teil über den Giebel des Hauses. Die Rampe senkte sich, und Nieke kam dem lachenden Ke'an auf halbem Weg entgegen.
7 - Die Einsamkeit der Nacht
Der Mittelring der Lady hatte einen Durchmesser von 120 Metern. Die Höhe des Schiffes betrug von der untersten zur obersten Spitze 47 Meter. Die Lady war eine riesige Konstruktion, gefertigt aus Tausenden und Abertausenden Tonnen von Stahlplastik. Fünf Deltastützen trugen ihr gewaltiges Gewicht und pressten es auf lange, schmale Flächen.
Der Boden, auf dem die Lady stand, bestand aus der für diese Gegend typischen Mischung aus Sand und Geröll. Vielleicht wäre nichts geschehen, wenn es sich um einen reinen Sandboden gehandelt hätte. Der Sand hätte sich komprimiert, er hätte irgendwann die nötige Härte erreicht und hätte die Lady gehalten. So aber erwies sich der Untergrund unter dem Gewicht als instabil.
Ke'an und Nieke hörten das Knistern. Sie hoben ihre Köpfe und lauschten. Der Boden brach krachend. Die Lady senkte sich auf die Seite. Nieke beugte sich schützend über das Baby. Mit einer perfiden Genauigkeit traf sie eine vorstehende Verstrebung der Landestützen im Nacken.
Ke'an sprang zu ihr. Er kniete nieder und sah in ihre offenen, gebrochenen Augen. Das Baby schrie.
Der riesige Schatten fiel weiter. Mit der Unterfläche ihrer Hülle tippte die Lady gegen die Spitze des Hauses. Risse zogen knirschend durch die Wände. Aber das Haus hielt. Die Lady stand still.
Tränen des Entsetzens, der Trauer, der Verzweiflung, der Hilflosigkeit flossen über Ke'ans Wangen. Er fasste die leblose Nieke unter und trug sie und das Baby zum schützenden Haus.
Sal hatte reagierte, als der Winkel, den die Lady einnahm, ihre Sicherheit bedrohte. Er jagte einen erneuten Zündimpuls durch die Leitungen. Sal sah über seine Kameras, wie sein Herr im Haus verschwand. Im selben Moment war genug Energie vorhanden, das Null-G-Feld zu aktivieren. Nur Sekunden später schaltete Sal das Prallfeld dazu. Beide Felder umfassten die Lady und den größten Teil des angeschlagenen Hauses. Das Schiff hob sich in die Waagerechte. Es stand jetzt sicher.
Ein Stoß ging durch die Wände des Hauses. Die kaum wiedergewonnene und kaum ausreichende Stabilität ging unter dem Einfluss der energetischen Felder verloren. Die Risse vergrößerten sich. Das Haus brach in sich zusammen.
Ke'an sah die Decke auf sich hinabstürzen. Mit Nieke und dem schreienden Kind auf den Armen stolperte er zurück zur Tür. Ein einzelner Balken splitterte, und die Spitzen bohrten sich tief in seinen Rücken.
8 - Das Grauen des Morgens
Sal aktivierte den Roboter. Er schickte die nackte Frau aus Metall und Kunststoff hinaus. Mit ruhigem, elegantem Schritt und im Wind wehendem Haar ging sie auf das Haus zu. Ihre wasserblauen, eiskalten Augen musterten die bewegungslosen Körper der beiden Erwachsenen. Ihre Optiken fixierten das Baby.
Es erfüllte die Kriterien.
Vorsichtig nahm der Roboter es auf seine künstlichen Arme. Dann trug er das unentwegt schreiende Baby zur Lady.
Dies war nicht der erste kleine Mensch an Bord. Deshalb wusste Sal, dass er nicht die Fähigkeiten besaß, sich angemessen um ihn zu kümmern. Schütze deinen Herrn! Das war Sals Prämisse. Er fand die Lösung in seinen Datenspeichern. Der Roboter brachte das Baby in das medizinische Labor. Sal aktivierte den Überlebenstank an der hinteren Wand. Düsen spritzen und verteilten Wasser. Andere Düsen zerstäubten ein farbloses Pulver. Beides verband sich zu einer goldgelben, zähflüssigen Masse, die den Überlebenstank schnell füllte.
Der Roboter brachte die notwendigen Sensoren an dem kleinen Körper an. Haarfeine Kontakte drangen durch die Haut, und die chemische Affinität ihrer Spitzen ließen sie zielstrebig die richtigen Punkte suchen und finden. Der Mensch würde sehen können - das, was die Kameras aufnahmen. Der Mensch würde hören können - das, was die Mikrophone empfingen. Der Mensch würde sprechen können, und seine Laute würden im Innern des Schiffes erklingen. Viele Jahre zuvor hatte Sal schon einmal auf diese Weise für einen schwerverletzten, hilfsbedürftigen Menschen gesorgt.
Als alle Vorbereitungen getan waren, öffnete sich der Tank, und der Roboter ließ das Baby vorsichtig hineingleiten. Nach einem Moment des Wartens ging er zurück zu der engen Nische in der Kapitänskajüte, und Sal deaktivierte ihn. Mit sanftem, zufriedenem Lächeln starrte die mechanische Frau blicklos aus seeblauen Augen in die Dunkelheit der Kabine.
Stille herrschte an Bord. Das Baby schrie. Aber seine Schreie waren lautlos, denn Sal hatte die Lautsprecher abgeschaltet.
Er überprüfte gründlich seine Systeme. Als er sicher war, wirklich sicher war, dass alles in seinem erforderlichen Rahmen funktionierte, startete er. Ruhig, majestätisch stieg die Lady empor; durch den morgendlichen Nebel in den dunklen Himmel des Horizontes.
Schütze deinen Herrn! Das war Sals Prämisse. Danach hatte er gehandelte. Danach würde er handeln, solange der Strom in seinen metallischen Adern floss.
*
Später - sehr viel später - hörte das Baby auf zu schreien.
(c) by StarScratcher, April 2000