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Die Köchin
Ihr Erbrochendes vermischte sich mit der aufspritzenden Gischt. Innerhalb einer Sekunde hatte das Meer es verschluckt. Eine besonders große Welle erfasste das Schiff und Judith überkam kurz das Gefühl, vom Boden abzuheben. „Aufhören“, dachte sie. „Bitte Aufhören. Bitte.“ Wieder stülpte sich ihr Magen um. Doch dieses Mal gab es nichts außer Flüssigkeit, die sie in das salzige Nass spucken konnte. Erschöpft richtete sie sich auf und hangelte sich an der Reling entlang. Sie musste weiter. Noch eine Verspätung und sie würde ihren Job verlieren.
Der Boden der Kombüse war mit Gummimatten ausgelegt. Wie sie wusste, wuselten unter ihnen viele kleine Kakerlaken. Vorsichtig, um keinen neuen Übelkeitsanfall zu riskieren, hob sie die Sitzflächen der Bänke hoch. Dort befanden sich die Essens-Vorräte. Die eigentliche Küche war durch eine Art Tresen vom Rest des Raumes getrennt. Als sie Spiegeleier und Speck briet, brannte der Geruch von heißem Fett wie ätzende Säure in ihrer Nase.
„Na, mal wieder die Fische gefüttert heute Morgen?“ Peter kam langsam die kleine Treppe hinunter. Er lachte dreckig und entblößte seine braunen Zähne. Braun vom Kau-Tabak, den er großzügig über das Schiff verteilte. Eine Unart, die sie zwang, jeden Abend den Boden und die Tische zu schrubben. „Kaffee?“, murmelte sie. „Klar.“ Sein Blick durchbohrte sie. „Weiß nicht, warum du noch immer hier bist. Ist ziemlich offensichtlich, dass du nicht die Eier für den Job hast.“ Sie antwortete nicht, sondern stellte nur die Tasse auf den Tresen. Peter murmelte etwas von „blöder Ziege“ und setzte sich auf die Bank. Nach und nach trafen die anderen vier Männer ein.
Nach dem Frühstück hatte sie einige Minuten, bevor sie anfangen musste, das Mittagessen vorzubereiten. Erleichtert stieg sie in ihre Koje. Im Liegen war die Seekrankheit besser zu ertragen. Neben ihr auf dem Tisch lag eine Packung Tabletten, die angeblich gegen die Übelkeit helfen sollten. Heute Morgen hatte sie zwei genommen – und sie ein paar Minuten später erbrochen.
Sie schloss die Augen. Tränen der Verzweiflung rannten ihre Wangen hinab. Sie musste hier ausharren, sie brauchte das Geld und dass sie keine Miete zahlen musste, solange sie auf diesem Kahn der Verdammten arbeitete, war für sie ein Segen. Verdammte Schulden, dachte sie. Und zu allem Übel zog ein richtiger Sturm herauf. Der Tag versprach noch schlimmer zu werden.
Mit letzter Kraft schleppte sich Judith zurück in die Kombüse. Das Schiff wurde von den Wellen so heftig hin und her geschüttelt wie Würfel während eines Kniffelspiels. Judith musste sich immer wieder mit den Händen abfangen, um nicht gegen die Wand geworfen zu werden. Ihr Magen begann wild in ihrem Körper herumzuhüpfen und sie schmeckte bereits Magensäure. Sie gab auf. Niemand konnte bei diesem Wetter von ihr erwarten, etwas zu kochen. Selbst, wenn sie ein Seebär gewesen wäre: Wie sollte sie kochen, wenn alles, was nicht befestigt war umherflog? Sie drückte ihre freie Hand gegen den Mund und schaute zu Boden.
Sie hörte, wie die Tür aufgestoßen wurde. Ein Schwall Wasser ergoss sich über die Treppe. Ein Mann in gelben Regemantel und schwarzen Gummistiefeln schleifte etwas herein. Die Szene hätte aus einem Gruselfilm sein können, in dem der Mörder sein Opfer entsorgte. Erst als er Judith fast erreicht hatte, erkannte sie, dass es Rudi war, der den bewusstlosen Peter hereinzog. „Was ist passiert?“, schrie sie gegen den Lärm des Sturms an. Rudi drehte kurz den Kopf nach ihr um. „Der Mast hat ihn getroffen“, schrie er zurück. „Geh aus dem Weg!“ Sie presste sich gegen die Wand und ließ die beiden vorbei.
Dann schlug die Tür wieder auf. Sie sah die Szenerie draußen wie durch eine Kamera, bei der der Fokus falsch eingestellt war. Undeutlich war eine kleine Gestalt zu erkennen. Konnte das sein? Nein. Sie hatte ihm gesagt, er solle in seinem Versteck bleiben. Aber etwas in ihr hatte ihn sofort erkannt und ließ sich nun nicht mehr unterdrücken. Pascal! Der kleine blinde Passagier, den sie vor einer Woche entdeckt und seitdem mit Essen versorgt hatte. Sie sah verschwommen, wie sich die Gestalt die Reling entlang hangelte, den Körper gegen den Wind gedrückt wie gegen eine Mauer. „Nein!“, schrie sie, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte. Sie drehte sich verzweifelt um und zerrte Rudi am gummiartigen Ärmel seiner Regenjacke. „Der Junge!“, schrie sie. „Der Junge ist da draußen!“ „Was für ein Junge?“, Rudi stieß ihre Hand weg und wandte sich sofort wieder Peter zu. „Da ist keiner. Die Mannschaft ist unter Deck, beruhige dich.“
Judith verlor jetzt keine Sekunde mehr, Blut pochte in ihren Ohren. Sie rannte die Treppe hinauf. „Oh Gott, bitte nicht“, dachte sie. Sie winkte mit beiden Armen und versuchte so, Pascal auf sich aufmerksam zu machen. Das Meer nutzte diesen Moment der Unaufmerksamkeit. Im nächsten Moment knallte sie mit dem Gesicht auf den harten Boden. Sie versuchte, sich aufzurichten, glitt aber mit den Händen aus. Schließlich kroch sie auf allen Vieren gegen den Wind an. Es war, als würden Fingernägel über ihr Gesicht kratzen. Sie atmete Salzwasser ein. Nur verschwommen nahm sie die Umrisse des Jungen wahr.
Judith fühlte sich wie in einem Alptraum, in dem sie trotz aller Bemühungen nicht vom Fleck kam. „Noch ein bisschen weiter“, dachte sie. Sie erinnerte sich, wie Moni, ihre beste Freundin, sie beim 800 Meter-Lauf angefeuert hatte, als sie kaum noch atmen konnte und aufgeben wollte. „Du schaffst es“, hörte sie Moni rufen. „Gleich bist du da. Noch ein bisschen weiter.“ Der Schmerz in ihren Lungen von damals war nichts im Vergleich zu den Qualen, die sie jetzt litt. Schließlich – nach schier endloser Zeit – konnte sie die Umrisse der Reling erkennen. „Noch ein bisschen weiter.“ Beim dritten Versuch umfasste ihre Hand endlich den kühlen Stahl. Sie zog sich hoch.
Doch da war nichts. Die Gestalt war verschwunden. „Nein“, sagte sie, doch der Wind, der unbarmherzig in ihrem Rücken stieß, verschluckte jeden Laut. „Neeeeeeinnn du verficktes Scheißmeer.“ Tränen der Verzweiflung schossen in ihre Augen. Sie stand da, ließ den Wind sie langsam vorwärts schieben. Dann war da für eine kleine Ewigkeit gar nichts mehr. Schließlich fühlte sie eine Wärme in sich aufsteigen. Als wäre nach einem Stromausfall das Notaggregat angesprungen. Die Wärme breitete sich in ihrem Körper aus, wurde immer intensiver, bis eine Explosion ungeheure Energien freisetzte. „Mehr hast du nicht drauf?“ schrie sie überheblich. Jeder Windstoß, jede Ladung Meerwasser, die in ihr Gesicht schlug fachte ihren Trotz noch mehr an. „Du machst mich nicht fertig, du nicht.“ Der Wind schien ihr die ketzerischen Worte aus dem Hals fegen zu wollen, sie konnte sich noch nicht einmal selbst hören. Sie bekam einen Hustenanfall. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie es. An der Reling. Da war etwas. Ohne zu überlegen lockerte sie ihren Griff, ließ sich ein Stück vom Wind tragen und packte zu. Sie zog den Jungen, der an einer Hand über der Reling hing, soweit hoch, dass er Halt fand. Nach einem verzweifelten Kampf hatte er seinen Körper über die Stahlrohre gehievt und beide fielen auf den Boden.
Rudi saß neben Peter in der Kajüte, als Judith den Jungen hereintrug. „Was zum Teufel …?“, fragte er. Aber Judith beachtete ihn nicht. Sie legte Pascal in die zweite Koje, befreite ihn von seinem durchnässten T-Shirt und der Jeans und wickelte ihn in so viele Decken wie sie nur finden konnte. Zitternd sank sie neben der Koje zu Boden. Peter stöhnte und wandte sich zur Seite. „Was macht die denn hier?“ krächzte er. „Dachte, die ist auf dem Klo und verursacht ihre eigene Überschwemmung.“ Ein krächzendes Lachen ertönte. Erst jetzt bemerkte Judith, dass sie ganz vergessen hatte, seekrank zu sein. „Das ist vorbei“, sagte sie leise. Sie schwiegen.