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Die Kältekammer
Tag 1 - Samstag
Alles begann an diesem Samstag im Januar. Es nieselte, die Wolken hingen tief und es war kalt. Wir befanden uns auf der Heimreise von einem zweiwöchigen Weihnachtsurlaub. Zusammen mit meiner Frau Ella und unserem Hund hatte ich mich über die ungeliebten Weihnachtsfeiertage hinweg in unserem Ferienhäuschen am Meer versteckt und dann ein gemütliches Silvester mit Ella im Whirlpool gefeiert. Jedes Jahr aufs Neue war es mir ein Grauen, wenn die ganze Welt in den blinkenden und klingenden Weihnachtstaumel verfiel. Zum Glück besaßen wir dieses Kleinod direkt am Meer. Unseren Zufluchtsort. Jetzt aber, an diesem Samstag, meinem zweiundvierzigsten Geburtstag, fuhren wir auf der Autobahn zurück, unserem Alltag entgegen. Viel zu schnell flossen die Kilometer unter den Reifen des Volvos dahin, den meine Frau ruhig fuhr.
Wehmütig starrte ich durch die Fensterscheibe hinaus in die triste, dahinfliegende Landschaft. Ich liebte diese Kargheit. Scheinbar endlos erstreckten sich die Felder mit aufgebrochener Erde, ab und an durchzogen von olivgrünen Hecken. Ich empfand den Winter schon immer als die schönste Jahreszeit am Meer. Keine störenden Touristen. Nur das Wasser, der Sand und der Wind. Die Elemente unter sich. Innerlich sträubte sich jede Faser in mir, das Meer zu verlassen. Leichter Regen setzte ein.
Unerwartet fuhr sie an der nächsten Ausfahrt ab. „Haben wir was vergessen?“ fragte ich erstaunt.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Ich schenke dir noch eine weitere Woche Urlaub am Meer.“
Sagte sie und strahlte dabei.
„Wir bleiben noch?“, fragte ich ungläubig. Sie nickte so heftig mit dem Kopf, dass ihre Locken einen wilden Tanz vollführten. Die Freude über die gelungene Überraschung strömte geradezu aus ihr heraus. Wie schön sie in diesem Augenblick aussah!
„Das hast du ja schön ausgeheckt!“, stammelte ich überwältigt.
So kam es also, dass wir für mich völlig unerwartet, auf dem Weg zu einem Haus waren, das Ella übers Internet bei einem Reiseanbieter für eine Woche gebucht hatte.
Wir folgten der Wegbeschreibung und fuhren immer tiefer in einen Eichenwald hinein. Der Weg war an vielen Stellen aufgeweicht. Die Reifen drehten mehrmals durch. Nach einer nicht enden wollenden Irrfahrt fanden wir schließlich das Häuschen. Es lag völlig abgelegen im Wald.
Klein und schwarz duckte sich die Hütte in einer Mulde, die von alten, knorrigen Eichen umstanden wurde. Der ganze Ort wirkte sehr düster und mich überkam ein beklemmendes Gefühl. Ein Blick in die Augen meiner Frau, und ich wusste, sie empfand genauso. Oder war sie nur von der Fahrt erschöpft?
Ich nahm den hinter dem Fallrohr versteckten Schlüssel an mich und schloss die Eingangstür auf.
Sofort schlug mir muffiger Geruch entgegen. Irgendwie faulig. Mutig durchschritten wir gemeinsam alle Räume, die sehr klein waren. Alle Zimmer waren finster, obwohl große Fenster in den dunklen Wald blickten. Selbst am Tage würden wir die Lampen einschalten müssen, so düster war es. Die vollständig mit Holz getäfelten Wände und Decken wirkten beengend. Die Luft war bitterkalt. Schon seit Monaten muss dieses Haus nicht mehr bewohnt worden sein. Ein Blick auf das Thermometer an der Wand bestätigte mein Temperaturempfinden. Sieben Grad!
Wie alle Ferienhäuser dieser Art war auch dieses mit elektrischen Heizungen in jedem Raum und einem Schwedenofen im Wohnzimmer ausgestattet. Ich drehte alle Heizungen auf höchste Stufe und es fiel mir schwer, meine Fassung zu bewahren. Ella erging es nicht anders, aber da sie ja dieses Haus ausgesucht hatte, sagte sie nur trotzig: „Ach, wenn wir uns erstmal eingerichtet haben, dann sieht’s schon ganz anders aus!“
Also machten wir uns gemeinsam daran, den Wagen auszuladen. Schnell war alles ausgepackt und ich beschloss, noch für ein Stündchen ans Meer zu gehen. Freudig sprang mir unser Labradormischling Arko um die Beine, als ich nach seiner Leine griff.
Hinter der Hütte begann ein schmaler Pfad, der an den Eichen vorbei in den Buchenwald hineinführte. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben schlug ich diesen Weg ein. Nach zirka zwanzig Minuten Fußmarsch lief Arko voraus und begann aufgeregt zu bellen. Als ich ihn eingeholt hatte, traute ich kaum meinen Augen: Der Wald endete ganz abrupt in einem kleinen Strand, kaum größer als ein Badetuch. Die Äste der Bäume ragten weit über die Brandung hinaus und bewegten sich in einem hektischen Rhythmus. Starker Wellengang rollte krachend ans Ufer. Arko bellte immer wilder gegen die Wellen und fletschte die Zähne. Ich konnte nicht erkennen, was der Grund dafür war.
„Ein eigenartiger Ort!“, ging es mir durch den Kopf. Fröstelnd zog ich meinen Mantel enger um mich und rief den Hund zu mir. Arko drückte sich winselnd und mit eingekniffenem Schwanz gegen meine Beine.
„Lass uns wieder zur Hütte gehen!“, sprach ich zu Arko und klopfte ihm leicht auf die Seite. Wir wendeten uns wieder dem Wald zu und schon nach wenigen Metern war von dem ohrenbetäubenden Getöse der Wellen nichts mehr zu hören. Absolute Stille umfing uns. Vom feuchten Waldboden stieg Nebel auf.
Auf dem Rückweg zum Ferienhaus hatte ich das Gefühl, einen anderen Weg zu gehen, als den, den ich gekommen war. Rasend schnell begann sich jetzt die Dämmerung um die Bäume zu schmiegen. Ich beschleunigte meinen Gang und konnte es nicht unterdrücken, in unregelmäßigen Abständen hinter mich zu blicken. Aber ich sah nichts außer dem Nebel, der leise und tastend weiter in den Wald hinein kroch.
Außer meinen Atemzügen und den dumpfen Schritten auf dem weichen Waldboden war kein Geräusch zu vernehmen. Nur Arkos Hundemarke klirrte ganz leise im Takt seiner Schritte. Er wich mir jetzt nicht mehr von der Seite. Aufmerksam passte er sich jeder meiner Bewegungen an. Seine Ohren horchten in alle Richtungen, nach scheinbar lautlosen Geräuschen. Ich konnte die Anspannung in seinen Muskeln sehen, er zitterte leicht und stellte die Nackenhaare auf. Was machte ihn so unsicher?
Die Dunkelheit im Wald wurde rasch zu einer undurchdringlichen Schwärze. Nahezu blind tappte ich vorwärts. Sobald ich vom Weg abkam, stolperte ich. Die intensive Nähe meines Hundes, dessen warmen Körper ich neben mir spüren konnte, war irgendwie tröstlich. Hatte ich mich tatsächlich verlaufen?
Dann sah ich einen schwachen Lichtschein durch den Nebel schimmern. Wir gingen darauf zu und endlich erreichten Arko und ich die Hütte. Selten hatte ich mich so gefreut, nach Hause zu kommen.
„Ihr wart aber lange unterwegs“, schalt uns meine Frau. Ich wusste, dass sie es nicht gerne hatte, wenn sie zum Einbruch der Dunkelheit alleine im Haus war. Zumal in einem fremden Haus wie diesem.
„Na, so spät ist es ja nicht geworden“, versuchte ich sie zu besänftigen. Ich erzählte ihr von der kleinen Bucht und dem Strand, den ich gefunden hatte, erwähnte aber nicht dieses unheimliche Gefühl, welches mich dort ergriffen und den Hund verunsichert hatte. „Es zieht Nebel auf“, sagte ich stattdessen. „Dann wird die Nacht wohl nicht so kalt werden.“
Erst jetzt bemerkte ich, dass es in der Hütte noch immer eisig war.
„Hast du noch nicht den Ofen angefeuert?“, fragte ich sie.
„Klar hab ich das. Was denkst du denn? Seit fast zwei Stunden glüht dieser Ofen. Fast einen ganzen Sack Holz habe ich schon verbrannt, aber es will einfach nicht so recht warm werden hier drinnen“, sagte Ella.
Fröstelnd zog ich meine Schultern bis an die Ohren.
Sie grinste schelmisch. „Na, nun sei mal nicht so zimperlich. Du bist auch schon total verwöhnt. Wir machen uns das hier einfach gemütlich, selbst wenn wir heute Abend alles anziehen müssen, was wir an Kleidung eingepackt haben. Von so ein wenig Kälte lassen wir uns doch nicht den Urlaub verderben, oder?“ Ich staunte nicht schlecht über ihren Pragmatismus.
„Vielleicht sind ja die Heizungen defekt“, faselte ich und legte meine Hand beiläufig auf einen der Heizkörper. „Au!“, schrie ich und riss instinktiv meine Hand zurück. Die Heizungen waren glühend heiß. Ich ging zum Thermometer. Und tatsächlich war die Temperatur seit unserer Ankunft um zwei Grad gestiegen. „Da helfen jetzt nur Geduld, warme Decken und ein Grog!“, versuchte ich optimistisch zu klingen. Ich nahm Ella in den Arm, drückte sie sanft an mich und vertraute darauf, dass bis zum Morgen die Hütte kuschelig warm sein würde. „Das ist bestimmt nur so, weil das Haus so lange nicht bewohnt wurde“, machte ich uns beiden Mut.
Nachdem wir eine Kleinigkeit zu Abend gegessen hatten, kuschelten wir uns auf dem Sofa zusammen - dick eingemummelt in Pullovern und Decken - und schauten uns gemeinsam einen Film im Fernsehen an. Arko schlummerte erschöpft zu unseren Füßen. Zwischendurch, wenn das Feuer im Ofen auszugehen drohte, warf ich ein Scheit Holz nach. Als wir uns gegen zehn Uhr ins Bett begaben, war die angezeigte Temperatur auf dem Thermometer immer noch einstellig.
Tag 2 – Sonntag
Der nächste Morgen begann, wie der vorherige Abend geendet hatte: mit einem Blick aufs Thermometer. Der Schock! Obwohl alle Heizungen die ganze Nacht auf höchster Stufe eingeschaltet waren und der Ofen bis 22.00 Uhr befeuert wurde, war die Temperatur in der Hütte wieder gefallen. „Das kann nicht sein!“, stammelte ich. Aber ein Griff an meine kalte Nase mit den ebenso kalten Fingern bestätigte es. Es war noch eisiger als gestern. Ella kam in ihre Daunendecke gewickelt aus dem Schlafzimmer gestolpert und fragte mich ungläubig, ob die Heizungen jetzt doch ausgefallen seien. Ich prüfte alle Heizungen, aber alle waren intakt und glühten. Ich ging zum Stromzähler, und auch dieser bestätigte, dass die Heizungen die ganze Nacht auf Hochtouren gelaufen sein mussten, da wir unglaublich viel Strom verbraucht hatten.
Und das Haus blieb trotzdem kalt. Mein Schock über die Unbeheizbarkeit der Hütte schlug in Ärger um. „Das ist doch nicht zu glauben. Wir heizen und heizen, und die Temperatur in diesem dunklen Loch steigt nicht über neun Grad! Das ist doch eine Zumutung vom Reisebüro. Wenn diese Hütte im Winter nicht beheizbar ist, dann kann sie eben nur im Sommer vermietet werden“, schimpfte ich. Meine Frau stand jetzt in der Küche und bereitete auffallend stumm das Frühstück zu. Sofort taten mir meine Worte leid. „Oh, Schatz, das ging doch nicht gegen dich“ Sie blickte mich mit Tränen in den Augen an. „Du kannst doch nichts dafür, dass dieses Haus einfach nicht warm werden will“, lenkte ich weiter ein.
„Aber ich habe es ausgesucht”, schluchzte Ella. „Also bin ich schuld. Jetzt vermiest uns diese Kälte auch noch unsere letzten Urlaubstage. So hatte ich mir die Überraschung nicht vorgestellt“ Sie war völlig aufgelöst.
Ich nahm ihren Kopf in die Hände und wischte die Tränen fort. „Deine Überraschung mit dem Haus ist doch super“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Und warm wird es auch noch werden. Das ist doch nur, weil das Haus wahrscheinlich über Monate ausgekühlt war.“ Schniefend wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Um sie endgültig zu beschwichtigen, sagte ich: „ Wir fahren jetzt einfach in die nächstgelegene Stadt und kaufen noch etwas Holz nach, was hältst du davon?“
„Aber es ist Sonntag. Da hat doch nichts geöffnet“, wandte sie ein.
„Da hast du Recht“, gab ich grübelnd zu. „Aber an jeder Tankstelle hier wird auch Holz verkauft. Und Tankstellen haben auch an Sonntagen geöffnet.“
„Dann lass uns jetzt endlich ordentlich frühstücken!“, antwortete sie mit fester Stimme. Sie hatte sich wieder gefasst. Der Wasserkessel auf dem Herd begann wie auf Stichwort zu pfeifen.
Am späten Vormittag machten wir uns also auf die Suche nach einer Tankstelle. Da durch den gestrigen Regen der Waldweg stark aufgeweicht war, kam der Wagen immer wieder ins Schlingern. Schlamm spritzte hoch. Aber wir schafften es, ohne uns festzufahren, bis zur Straße. Der nächste Ort lag fünfunddreißig km entfernt. Dort würde es ganz sicher eine Tankstelle geben.
Nachdem wir den Wald verlassen hatten, konnten wir nicht weit entfernt das Meer blau aufblitzen sehen. Inzwischen war die Wolkendecke aufgerissen und mit dem Sonnenschein kam auch unsere gute Laune zurück. Wir beschlossen, spontan einen kleinen Abstecher ans Meer zu machen. Wir parkten den Wagen am Straßenrand und schlenderten eng umschlungen am Strand entlang. Arko lief voraus und tollte ausgelassen im Sand. Ella und ich genossen den herrlichen Blick über das Wasser, die Sonne und das Rauschen der Wellen. Aller Ärger war vergessen. Wir waren glücklich, obwohl die Kälte in unsere Wangen biss. Der Wind blies mäßig.
Nach einer Weile zeigte Ella zum Horizont und meinte: „Schau mal, Schatz! Da zieht schon wieder was auf.“
Ich drehte mich um und erblickte eine schwarze Wolkenfront, die rasend schnell auf uns zukam.
„Lass uns jetzt lieber weiterfahren“, sagte ich und wir machten uns auf den Rückweg zum Auto. Der Wind nahm jetzt stetig zu und zerrte immer wütender an unseren Mänteln. Mein Kinn und meine Lippen wurden taub, sodass die Unterhaltung schwer fiel.
„Ich denke, wir sollten uns beeilen“, hörte ich meine Frau gegen die nun inzwischen kräftigen Böen anschreien. Ich pfiff nach Arko. Sehen konnte ich ihn nicht, da der eisige Wind mir Tränen in die Augen trieb. Ich umfasste Ella fester und gemeinsam stemmten wir uns gegen den Sturm.
Endlich am Auto angekommen, sah ich Arko, der sich Schutz suchend unter dem Wagen verkrochen hatte. Er wimmerte vor Kälte. Oder hatte er Angst? Wovor?
Schnell stiegen wir ein und schlossen die Türen. Eine eigenartige Stille umfing uns, da das Tosen des Windes nun ausgesperrt war. Unsere Brustkörbe hoben und senkten sich im raschen Rhythmus. Wir waren abgekämpft. Ich fühlte mich erschöpft. Kleine Rauchwolken entstiegen unseren Mündern beim Atmen.
„Launisches Wetter hier!“, war der trockene Kommentar meiner Frau. Ich startete den Wagen und fuhr wieder auf die Straße weiter in Richtung der ersehnten Tankstelle. Trotz dieses abrupten Endes unseres Spazierganges waren wir zufrieden. Am Meer kann das Wetter sehr schnell umschlagen. Das wussten wir beide und ließen uns deshalb nicht die Laune vermiesen. Trotzdem kroch leichtes Unbehagen meinen Nacken hinauf.
Am frühen Abend, mit drei völlig überteuerten Säcken Holz im Kofferraum, bogen wir wieder von der Straße in unseren Waldweg ein. Der Boden war überraschenderweise nicht mehr aufgeweicht, sondern er war gefroren. War es in den letzten Stunden so kalt geworden? Ich musste einigen Ästen ausweichen, die der Sturm herabgerissen hatte und quälte den alten Volvo den Weg herauf zu unserer Hütte.
Im Haus angekommen, feuerte ich sofort den Ofen an. Das Thermometer zeigte, dass die Temperatur in unserer Abwesenheit noch weiter gesunken war. Wir tranken heißen Grog und kuschelten uns gutgelaunt in die Decken und betrachteten die Flammen im Ofen.
Nach einer Stunde ständigen Holznachlegens hatte sich die Raumtemperatur leicht erhöht. „Zwei Grad in einer Stunde!“, rief Ella begeistert. „Dann haben wir es um Mitternacht endlich warm hier.“
Noch teilte ich ihren Enthusiasmus. Das sollte sich bald ändern.
Zum Abendessen kochte sie recht aufwändig: Gulasch mit Klößen und Rotkohl. „Ein verspätetes Geburtstagsessen, mein Schatz!“, sagte sie. Aber ich kannte sie zu genau. Ich wusste, sie wollte nur unsere inzwischen wieder im Sinken begriffene Urlaubslaune retten. Vielleicht wollte sie aber auch nur mit diesem Essen unsere Körper von innen wärmen. Beides gelang ihr nicht.
Nach dem Essen ging ich zum Auto, um die letzten beiden Holzsäcke aus dem Kofferraum zu holen. Als ich die Haustür öffnete, traf mich fast der Schlag. Alles war weiß. In den letzten drei Stunden musste es kräftig geschneit haben, und wir hatten es in der Hütte nicht mitbekommen. Ein eisiger Schauer überlief mich.
„Draußen hats ordentlich geschneit!“, rief ich Ella zu und ließ die Holzsäcke vor dem Ofen fallen. Sie unterbrach ihren Abwasch und kam zu mir, während sie sich ihre Hände an der Schürze abtrocknete. „Geschneit?“, fragte sie ungläubig.
„Ja. Schau doch selbst. Draußen ist alles schneeweiß“, antwortete ich leicht gereizt und warf ein weiteres Scheit Holz in den Ofen.
„Warum brüllst du mich denn so an?“, fragte sie aufgebracht.
Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Später zog sich jeder die Decken enger um den Körper und hielt die Hände an der wärmenden Tasse Grog. Schweigend starrten wir auf den Fernseher, ohne wahrzunehmen, was dort gezeigt wurde. Jeder war ärgerlich auf den anderen, ohne so recht zu wissen, warum.
„Schalte doch mal um auf den Wetterbericht“, sagte meine Frau kurz nach 20.00 Uhr. „Vielleicht bleibt der Schnee ja auch morgen noch liegen und wir können eine kleine Schneewanderung machen“, verplante sie unser unerwartetes Winterglück.
Dann kam die Wettervorhersage für morgen. Minus 20 Grad!
Verdutzt schauten Ella und ich uns an. „Minus zwanzig Grad! Schatz, wir müssen sofort morgen abreisen“, sagte ich bestimmt.
„Ach, das wird schon nicht so schlimm werden“, winkte sie ab.
Doch ich beharrte weiter: „Momentan haben wir draußen vielleicht minus zwei Grad. Und unsere Hütte lässt sich jetzt schon kaum beheizen. Bei minus 20 Grad fallen uns hier die Nasen ab. Wir werden hier drinnen noch erfrieren“
„Ach was. Jetzt krieg dich mal wieder ein! Ich habe doch nicht diese Hütte für eine ganze Wochen gemietet und bezahlt, und das auch noch als Geburtstagsgeschenk für dich, um nach zwei Tagen wieder abzureisen“, brüllte sie mich an.
Wir stritten bis tief in die Nacht, legten dabei weiterhin Holzscheite in den Ofen. Als wir dick in unsere Schlafdecken gewickelt einschliefen, stand der Entschluss fest: Wir würden morgen abreisen!
Mitten in der Nacht schreckte ich aus dem Schlaf. Arko hatte angeschlagen. Draußen tobte inzwischen ein gewaltiger Sturm. Die Fensterläden klapperten unaufhörlich und drohten, aus ihren Verankerungen gerissen zu werden. Der Hund bellte wie verrückt und rannte aufgeregt an der Fensterfront im Wohnzimmer auf und ab. Ich versuchte ihn zu beruhigen, doch er wurde immer aufgebrachter und versuchte an den Fenstern emporzuspringen.
Plötzlich gab es einen lauten Knall. Wir zuckten zusammen. Arko verstummte sofort und spitzte die Ohren. Der Sturm schien sich auf einen Schlag gelegt zu haben. Kein Rütteln des Windes an den Fensterläden war mehr zu hören. Nur noch Stille. „Wahrscheinlich hat sich ein Fensterladen gelöst“, sagte ich zu Ella. „Ich gehe kurz hinaus und werde ihn wieder festmachen.“
Da rannte Arko aufgeregt zur Eingangstür. Er lauschte und kam dann wieder zurück ins Wohnzimmer. Dort stellte er sich vor die Terrassentür und starrte durch die Scheibe hindurch in die Dunkelheit hinaus. Sein Körper vibrierte vor Anspannung. Nur das Rascheln unserer Kleidung, wenn wir uns bewegten, war zu hören.
Meine Frau ergriff meinen Arm. „Das ist unheimlich“, flüsterte sie in mein Ohr. Gerade wollte ich ihr beruhigende Worte sagen, als Arko anfing, die Zähne zu fletschen und furchterregend knurrte. Mit angelegten Ohren und eingezogenem Schwanz fixierte er die Terrassentür. Mir wurde flau im Magen. Ich konnte nicht sagen, was mir mehr Furcht einflößte. Das Knurren, das ich bei Arko bisher noch nie gehört hatte, oder aber der Grund, warum Arko so aufgebracht war.
Ella war nun noch enger an mich herangerückt. Sie drückte meinen Arm fest an ihren Körper. „Wir haben doch alle Türen fest verschlossen, oder?“, fragte sie mich mit angsterfüllten Augen. „Ich werde nochmal alles überprüfen“, beruhige ich sie.
Arko legte sich mit eingekniffenem Schwanz und winselnd unters Bett.
Tag 3 – Montag
Am Montag fiel der erste Blick nicht auf das Thermometer an der Wand, sondern aus dem Fenster. Über Nacht hatte es weiter geschneit. Sehr viel geschneit. Mit offenem Mund, aus dem kleine Atemwölkchen kamen, betrachtete ich das Fenster, das bis zur Hälfte eingeschneit war. Der Schnee musste ein bis zwei Meter hoch liegen. Ich sprang zum anderen Fenster und schaute nach dem Auto. Nur noch die Antenne ragte aus dem Schnee. Alles war zugeschneit. Da wurde mir bewusst, dass an eine Abreise nicht mehr zu denken war. Niemals würde ich die Zufahrt und den Waldweg freigeschippt bekommen. Hatten wir eigentlich einen Schneeschieber?
„Wir sitzen fest!“, konfrontierte ich uns mit der unumstößlichen Tatsache.
„Und wir haben Minusgrade im Haus“, ergänzte Ella und hielt ein gefrorenes Glas Mineralwasser hoch.
Ich rannte in die Wohnstube und schaltete den Fernseher ein. Auf jedem Sender wurde über den plötzlich hereingebrochenen arktischen Winter berichtet. Ganz Nordeuropa wurde von einer meterdicken Schneeschicht bedeckt. Sämtliche Verbindungswege, sei es nun Straßen-, Flug- oder Bahnverkehr waren vom Nordkap bis zu den Alpen abgeschnitten. Wetterbesserung wurde erst für den kommenden Samstag erwartet. Wir saßen also tatsächlich die nächsten Tage fest. Und es war so bitter kalt hier drinnen.
Plötzlich erlosch das Fernsehbild. Wild drückte ich auf den Tasten der Fernbedienung herum. „Nein! Nicht auch das noch!“, schrie ich.
Ella entriss mir die Fernbedienung und fragte mit zitternder Stimme: „Stromausfall?“
Ich rannte zum Sicherungskasten und riss ihn auf. Alles sah auf den ersten Blick normal aus. Dann begann ich jede Sicherung einzeln zu prüfen. Alles war korrekt. Der Strom kam einfach nicht mehr in diesem Haus an. „Na das passt ja!“, versuchte ich es mit Galgenhumor.
Ich ging zurück ins Wohnzimmer zu meiner Frau, bestätigte mit einem kurzen Nicken ihre Befürchtung und gemeinsam feuerten wir schnell den Ofen an. Viel Holz hatten wir nicht mehr. Gestern Abend hatten wir zwei Säcke Holz verbraucht. Da wir nur drei Säcke gekauft hatten, blieb uns nur noch ein einziger, letzter Sack.
„Damit kommen wir gerade mal bis zum Mittag“, sagte ich mit besorgtem Blick auf das Holz.
„Es bleibt uns nichts weiter übrig, als Holz sammeln zu gehen“, sagte sie in die entstandende Stille. „Viel Holz!“, setzte ich hinzu. Gemeinsam öffneten wir eines der Fenster. Der Schnee fiel uns entgegen. Ich hob zuerst Ella auf die Schneedecke und kletterte ihr dann nach. Damit Arko im Haus blieb, schob ich das Fenster hinter mir wieder zu. Vorsichtig versuchte ich über die Schneedecke zu kriechen, brach aber immer wieder ein. In diesem Augenblick wurde mir das gesamte Ausmaß unserer Lage bewusst. Panik flammte auf. „Wie willst du hier Holz sammeln?“, fragte ich Ella gereizt.
Sie schaute mich mit riesigen Augen an, in denen Tränen aufstiegen. Plötzlich begann sie bitterlich zu weinen. Laut schrie sie: „Daran ist dieses Haus Schuld. Es muss verflucht sein, oder so.“ Immer wieder wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt. „Erinnerst du dich an unser erstes Gefühl, das wir beide hatten, als wir hier angereist waren?“, fragte sie.
Mir fiel wieder ein, wie beklemmend ich diesen Ort zwei Tage zuvor empfunden hatte. „Ja, irgendwie war es von Anfang an abweisend und kalt hier“, antwortete ich mit vor Kälte tauben Lippen.
Sie stützte ihren Rücken an einen Baumstamm und rieb die Finger aneinander. Langsam kroch ich auf sie zu. Meine Kräfte begannen zu schwinden. „Es ist so furchtbar kalt!“, hauchte Ella in mein Ohr, als sie sich an mich schmiegte. Ich versuchte, uns mit meinem Körper zu wärmen. Dann wurde ich ganz schläfrig.
Ende