Die Justierung
„Sind jetzt alle von Bord?“, wollte Carlos wissen.
„Kapitän Ahn ist gerade abgeflogen“, bestätigte Xaver. „Wir sind die Letzten an Bord.“
„Gut“, Carlos veränderte einige Einstellungen an der Hauptkonsole der Brücke. „Die Echnaton ist jetzt versiegelt. In den nächsten beiden Wochen kann niemand das Schiff verlassen oder betreten.“
„Glaubst du wirklich, dass wir so lange brauchen?“, wollte Xaver wissen.
„Hast du dir das Log angesehen? So oft wie die gesprungen sind wundert es mich, dass sie noch keine Vierer hatten“, Carlos schüttelte den Kopf. „Wir müssen langsam vorgehen, aber mit diesem Team schaffen wir es auf jeden Fall. Übrigens, sind sie noch im Shuttle?“
Xaver nickte.
„Gut. Ich komme gleich.“
Xaver hob die Hand und verließ die Brücke. Carlos studierte noch kurz die Werte auf der Konsole. Ja, sie waren weit genug von jeder bewohnten Einrichtung entfernt und in den nächsten beiden Wochen würde ihnen auch keine zu nahe kommen. Carlos aktivierte das Funkfeuer, um sich eventuell nähernde Schiffe zu warnen, boxte noch einmal die Konsole, und verließ ebenfalls die Brücke.
Im Hangar des Zerstörers stand nur ein einziges Shuttle. Der quaderförmige Rumpf bedeckte ein Viertel der vorhandenen Fläche. Das Schott war offen. Auf der Gangway saßen die fünf Mitglieder seines Teams. Besser gesagt, sie erhoben sich als Carlos den Hangar betrat.
Ikko-Ishii Kim stand ihm am nächsten. Die zierlich gebaute, hoch gewachsene Neu-Chinesin war wahrscheinlich die Erfahrenste im Team. Vor allem weil sie nur drei Monate im Jahr Urlaub machte. Angeblich sparte sie das ganze Geld um irgendwann ohne Arbeit leben zu können. Daneben stand Jesús Chavier-Soló. Das war die dritte Justierung des Alphaners. Damit hatte er das Soll für dieses Jahr erfüllt. Xaver van der Brucke, Carlos' Stellvertreter und mit ihm der einzige Ingenieur an Bord, nickte gerade dem Teamleiter zu. Hinter Xaver stand Claire O'Donnel, eine junge Studentin von Lambda, die sich mit Justierungen ihr Studium finanzierte. Ganz hinten kaute Nboku Nphele an seinem Daumennagel. Es war die erste Justierung des kleinen Corrisaners. Dementsprechend nervös war er.
Carlos konnte stolz auf sein Team sein. Es war geradezu perfekt für ihn. Keine einzigen Draufgänger. Wäre es einer gewesen, er hätte Carlos' Meinung nach einen weniger gefährlichen Job nehmen sollen. Als Kampfliegerpilot zum Beispiel.
„Also, so sieht es aus, Leute!“, begann Carlos. „Ich und Ikko nehmen uns die Monopolmagneten vor. Xaver, du und Jesús überprüft den Fusionsreaktor. Claire und Nboku checken die Leitungen. Beginnt mit der, an der Basis des oberen Teilchenbeschleunigers. Kapitän Ahn sprach von einer Fluktuation an der Stelle. Noch irgendwelche Fragen?“
Zögernd hob Nboku seine Hand.
„Ja?“
„Ähm ... Warum wurde das Schiff versiegelt?“
Ikko gähnte demonstrativ. Jeder Neuling stellte diese Frage und das war ihre Standardantwort darauf.
„Eine Singularität ist viel mehr wert als wir alle zusammen“, erklärte Carlos, während er einen Professor mimte. Claire konnte ein Kichern nicht unterdrücken. „Die Versiegelung soll sicherstellen, dass wir alles tun um sie zu retten. Außerdem könntest du sowieso nicht rechtzeitig den Gefahrenbereich verlassen.“ Er lächelte Nboku ermutigend zu, und klatschte in die Hände. „An die Arbeit Mädels!“
Das Team verließ zur Gänze den Hangar, und jeder begann mit der Arbeit.
Zwei Minuten später kam Jesús aus dem Shuttle und setzte sich auf die Gangway.
Während Nboku sich an den Torpedo- und Projektilmagazinen der Echnaton vorbei zwängte fragte er sich, wie hier eintausend Menschen ein Jahr lang leben konnten. Er selbst konnte hier kaum atmen.
„Wusstest du, dass dieses Schiff über sechzig Jahre alt ist?“, fragte plötzlich Claire. „Es wurde noch von der Föderation gebaut.“
„Tatsächlich?“
„Ja, das sagt einem schon der Name: Echnaton. Damals habe sie die Schiffe nach antiken Göttern und Helden benannt. Außerdem verfügten die Schiffe damals über eine Künstliche Intelligenz.“ Claire duckte sich unter eine Leitung durch. Nboku brauchte sich nicht zu verrenken. Er nahm von der Leitung noch nicht einmal Notiz. „Die KI's wurden während der Machtergreifung natürlich ausnahmslos gelöscht. Aber angeblich konnten sie eine Justierung selbstständig durchführen.“
„Glaubst du das?“, wollte Nboku wissen.
„Natürlich nicht.“
„Und wieso nicht? Ich meine ... man muss nur die Parameter kennen. Dann sollte das jeder Computer selbst durchführen können.“
„Genau darüber schreibe ich in meiner Diplomarbeit. Die Auswirkungen der Quantenmechanik auf die gravomagnetische Theorie. Jede Änderung die durchgeführt werden muss liegt im Planck-Bereich. Das ist die kleinste Größenordnung die es gibt. Das Problem ist, dass da unten alles Unscharf wird. Man braucht schon eine Menge Fingerspitzengefühl um das alles richtig zu machen. Ohne das die Singularität zerstrahlt. Und kein Programm könnte das.“
Nboku hörte nicht mehr wirklich hin. Bei einer Kreuzung sah er ein Licht aufleuchten. Neugierig ging er dem Schein nach. Hinter der nächsten Biegung stand ein dicker Mann mit Schnauzbart. Er nahm gerade seinen blauen Sicherheitshelm ab und kratzte sich am Kopf.
„Das ihr mir ja vorsichtig seid!“, schrie der Dicke einigen Schweißern zu, die gerade an der dicken Röhre des Beschleunigers arbeiteten. „Sonst regt sich das Militär wieder auf!“
„Da bist du ja!“, hörte Nboku Claire hinter sich. Er drehte sich zu ihr um. „Und du hast auch schon den Beschleuniger des Dach-Plasmastrahlers gefunden. Ich verlaufe mich in diesen Kriegsschiffen andauernd. Wusstest du, dass diese Dinger“, sie deutete auf den Teilchenbeschleuniger, „vierhundert Meter lang sind, und sich fast durch das ganze Schiff ziehen?“
„Natürlich“, meinte Nboku. „Ich bin Mechaniker, schon vergessen?“ Er drehte sich wieder zum Beschleuniger. Da war niemand mehr. Kein Dicker, keine Schweißer. „Aber ... aber ... wie ist das möglich?“
„Was?“
„Da waren Männer ... Sie haben sich am Beschleuniger zu schaffen gemacht ...“
Claire sah ihn zunächst mit gerunzelter Stirn an. Dann erhellte sich ihre Mine, und sie holte ihr Kom heraus: „Alle mal herhören: Heute Abend wird gefeiert! Unser Küken hatte gerade seinen ersten Vierer!“
„Meinen was?“
„Vierer. Eine vierdimensionale Erscheinung. Ob aus der Zukunft oder aus der Vergangenheit ist eigentlich egal. Sie haben keine Substanz und können uns noch nicht einmal wahrnehmen. Wenn es ein Dreier gewesen wäre ... tja, dann währen wir in Schwierigkeiten.“
„Warst du in letzter Zeit mal privat unterwegs?“, wollte Xaver plötzlich auf dem Weg in den Maschinenraum wissen.
„Ich hab auf Thetis Urlaub gemacht“, meinte Jesús. „Wieso?“
„Hast du schon die neuen Verspätungsdurchsagen auf den Transit-Stationen gehört?“
„Nicht das ich mich erinnern könnte.“
„Wir, von den GTSL, sind stets um einen reibungslosen Ablauf des Reiseverkehrs bemüht“, zitierte Xaver. „Der Rest ist wie gehabt. Aber diesen einen Satz hasse ich. Und dann sind sie nicht einmal so weit, dass sie die Anschlussschiffe bei Verspätungen warten lassen! Ich hab einmal wegen fünfzehn Minuten einen halben Tag auf einer Transit-Station warten müssen.“
„Vorsicht!“
Jesús Ruf kam zu spät. Xaver hatte keine Zeit mehr zu reagieren. Das Rohr, das in Kopfhöhe den Gang querte, war eindeutig stabiler als der Kopf.
„Scheiße, verdammt!“, fluchte Xaver. „Ständig passiert mir so etwas in einem Kriegsschiff!“
„Du passt eben nicht auf.“
„Vielleicht sollte ich nur mehr zivile Schiffe justieren.“
„Sieh's positiv. Wir sind schon da.“
Im Maschinenraum befanden sich nur Computer. Xaver und Jesús verteilten sich. Sie klickten sich durch die Menüs und studierten Diagramme und Tabellen.
„Bei mir sieht alles gut aus“, meinte Xaver nach fünfzehn Minuten.
„Die Zündlaser des Reaktors könnten eine Überholung vertragen“, meldete sich Jesús.
Voller Vorfreude rieb sich Xaver die Hände. Der Interessante Teil der Arbeit konnte beginnen.
„Alle mal herhören“, kam Claires Ruf über das Kom, „heute Abend wird gefeiert! Unser Küken hatte gerade seinen ersten Vierer!“
„Glowy“, meinte Jesús. „Jetzt wird sich zeigen ob dem wirklich gewachsen ist.“
„Ah“, machte Xaver, „Die Test sind bereits gut genug. Aber für eine Party ist es immer gut.“
Sie arbeiteten weiter an der Einstellung der Laser. Nach nur wenigen Minuten meldete sich Carlos über das Kom.
„Alle sofort zum Herzraum“, befahl er in seiner gewohnt ruhigen Art. „Es gab einen Unfall mit Ikko.“
„Es hat mich angesehen“, murmelte Ikko auf dem Krankenbett liegend während Jesús ein Pflaster auspackte. „Hast du jemals in dieses eine, kalte Auge geblickt? Dieses Fehlen jeder Emotion?“ Jesús drückte das Pflaster auf ihre Hand. „Und wenn es einen Anspringt ... so kalt ...“ ihre Stimme wurde schwer. „... nur ein Vierer ...“
Jesús schüttelte stumm den Kopf und verließ die Krankenstation.
„Sie schläft jetzt“, teilte er den anderen mit, die davor warteten.
„Hat sie gesagt was passiert ist?“, wollte Carlos sofort wissen.
„Sie redete vollkommen wirres Zeug. Anscheinend hatte sie einen Vierer über einen dieser Kampfroboter. Der soll sie angegriffen, sie sogar berührt haben“, Jesús schüttelte den Kopf. „Aber das ist völlig unmöglich!“
„Kampfroboter?“, fragte Nboku.
„Sie tauchen hin und wieder auf“, erklärte Claire. „Da wir sie bis jetzt noch nie real angetroffen haben stammen sie wahrscheinlich aus der Zukunft, was wiederum bedeutet, dass wir Krieg mit einer Zivilisation haben werden, die KI's zumindest toleriert. Und wenn ich mir das Alter dieses Schiffes in Erinnerung rufe, dürfte dieser in absehbarer Zeit beginnen.“
„Ist das alles was wir über sie wissen?“, hakte Nboku nach.
Claire nickte: „Nach ihrem ersten Auftauchen wurde jede Justierung von einem ganzen Schwadron Beobachter begleitet. Aber sie tauchen so selten auf, dass die Beobachter schon bald wieder abgezogen wurden. Jetzt sollen wir nur noch jedes Auftauchen der Kampfroboter melden.“
„Warum hat mir niemand etwas davon gesagt?“, jammerte Nboku.
„Hättest du die Arbeit getan wenn du es gewusst hättest?“, fragte Carlos und Nboku schüttelte den Kopf. „Eben. Dabei hast die den Psychotest bestanden und gehörst damit zu den wenigen Menschen, die fähig sind einen Vierer, oder sogar einen Dreier, psychisch zu verkraften.“ Dann klatschte Carlos in die Hände. „Da Ikko jetzt ausgefallen ist müssen wir umschichten. Xaver, wie sieht es beim Reaktor aus?“
„Besser als wir anfangs dachten“, meinte der Angesprochene. „Jesús sollte das eigentlich alleine schaffen.“
Dieser neigte den Kopf zur Bestätigung. „Im Übrigen sollte Ikko morgen wieder auf den Beinen sein.“
„Gut“, meinte Carlos, „dann machen wir uns wieder an die Arbeit!“
Die erste Woche verging praktisch wie im Flug, so vollgestopft mit Arbeit war sie. Carlos sollte recht behalten. Nboku gewöhnte sich rasch an die Vierer und nahm sie bald nicht einmal mehr war. Ein Kampfroboter tauchte übrigens nicht mehr auf.
Nach drei Tagen war die Arbeit am Reaktor beendet. Jesús unterstützte daraufhin Nboku und Claire, während Xaver bei den Monopolmagnetfeldern rund um die Singularität mit half.
Das einzige Ärgernis in dieser Zeit war das Innenleben der Echnaton, das, bis auf den Brückenturm, so absolut überhaupt nicht für Menschen gemacht war.
„Du glaubst wirklich, dass die Nahanama Seewölfe das Finale gewinnen werden?“, fragte Nboku als er die Messe zur Frühstückszeit betrat.
„Definitiv“, meinte Jesús.
„Nun, die Nahanama Seewölfe stammen von Thetis, einer Leichtwelt. Die Tisimanu Goldzähne von Corris, einer Schwerwelt. Das Finale findet im Anatow-Stadium auf Terra statt. Dreimal darfst du raten wer gewinnen wird.“
„Trotzdem haben die Nahanama Seewölfe gegen die Chicago Bären gewonnen“, warf Jesús ein. „Und das fand wohlgemerkt auf Corris statt.“
„Optimist.“ Nboku schüttelte den Kopf während er sich einen Kaffee einschenkte.
„Wollen wir wetten?“
„Um wieviel?“
„Einhundert?“
Nboku schlug ein.
„Worüber sprecht ihr denn?“ Ikko zwängte sich an den beiden vorbei und belud ihren Teller mit allerlei Obst.
„Bumercort“, meinte Jesús.
„Wer wird deiner Meinung nach gewinnen?“, wollte Nboku wissen
„Die Edoka Ninjas“, stellte Ikko fest.
„Die sind doch noch nicht einmal in die Endrunde gekommen.“
„Ach, ihr sprecht von dieser Saison?“
„Wie sieht es bei euch aus?“, fragte Carlos als er sich zu der kleinen Gruppe gesellte.
„Die Tisimanu Goldzähne werden gewinnen“, meinte Nboku.
„Er will es einfach nicht wahrhaben“, fügte Jesús hinzu.
Carlos lächelte und wandte sich an Ikko: „Du wirst heute bei der Überprüfung der Leitungen mitarbeiten. Es wird Zeit, dass unser Kücken lernt richtig zu justieren. Jetzt, da wir das kompliziertere hinter uns haben ...“ Plötzlich verzog sich Carlos' Gestalt, war auf einmal doppelt so groß, um gleich darauf zu schrumpfen und um im Nichts zu verschwinden.
„Was ist da los?“, fragte Nboku voller Verwunderung.
„Ein Dreier“, flüsterte Ikko und ging langsam rückwärts. „Das ist ein Dreier!“
Wo bin ich?
In dem Zwielicht hatte Carlos das Gefühl als würde er fallen. Keinen Meter vor ihm konnte er den Schemen einer weiteren Person ausmachen.
„Hallo?“, fragte Carlos und zuckte zusammen, als seine Stimme unnatürlich laut zu ihm zurückkam. Immer wieder echote das eine Wort an ihm vorbei, bis es schließlich nach einer Ewigkeit verstummte.
Verwirrt sah sich Carlos um. Überall erblickte er Schemen von Menschen. Es war zu dunkel um genaueres zu erkennen, doch die Schemen schienen sogar über und unter ihm zu existieren.
Was ist hier los?
Langsam dämmerte es Carlos, und genau das machte ihm Angst. Er wollte es nicht wahrhaben, doch er brauchte einen Beweis.
Er atmete einmal tief ein, streckte seine Hand aus und berührte die rechte Schulter seines Vordermannes.
Jemand berührte seine Schulter.
Er trommelte den antiken Code für SOS mit dem Mittelfinger.
Die Hand auf seiner Schulter tat das Gleiche.
Damit war der Beweis erbracht.
Carlos schrie.
„Zunächst kommt es nur zu kleinen Verwerfungen in der Raumzeit“, murmelte Claire. Es hörte sich an, als würde sie aus einem Lehrbuch zitieren. „Abkapselungen, die Anfangs niemanden Auffallen. Dann ...“
„Genug!“ fuhr Xaver dazwischen. „Wir müssen zum Herzraum. Sofort!“
„Was ist mit Carlos?“, fragte Nboku.
„Wenn er Glück hat taucht er irgendwo irgendwann wieder auf. Aber verlass dich nicht darauf. Und jetzt dürfen wir keine Zeit verlieren!“
Die fünf hasteten zum Aufzug. Jesús hämmerte zunächst auf den Rufknopf und dann auf den für das Deck. Es dauerte ewig die dreizehn Meter vom Brückenturm in den Hauptrumpf des Schiffes zurückzulegen. Endlich gingen die Aufzugtüren wieder auf.
„Wir sind im falschen Deck“, stellte Nboku fest.
„Scheiße!“, fluchte Xaver nachdem er die Anzeige im Aufzug, mit der auf dem Deck verglich. Sie stimmten nicht überein. „Es ist bereits schlimmer als ich dachte.“ Mit diesen Worten lief er in den Gang. Die anderen folgten ihm, bis sie nach 70 Metern eine Leiter erreichten. Die kletterte Xaver hinauf.
„Wollen wir hoffen, dass sich die Verwerfung nur auf den Bereich des Aufzugs beschränkt“, meine Ikko als sie auf die Leiter stieg.
„Und wenn nicht?“, wollte Nboku wissen.
„Dann könnten wir überall landen.“
Sie hatten Glück. Das Zeichen am Ausgang der Leiter sagte, dass sie im richtigen Deck waren. Sofort fingen alle wieder zu laufen an. Im rennen wagte Nboku einen Blick zurück. Dort, wo eigentlich die Aufzugtüren sein sollten erstreckte sich der Gang in die Unendlichkeit.
Sehr zu Nbokus Überraschung erreichten sie den Herzraum ohne weitere Zwischenfälle. Der Raum war in hellen Farben gehalten. In der Mitte stand auf einem Podest der Ikosaeder – das Herz. Daneben stand eine Konsole, auf der zwei metallene Sensorbrillen und zwei Paar Steuerhandschuhe lagen. Ikko griff sofort nach einer Sensorbrille.
„Die Ausrichtung der Felder sieht gut aus“, sagte sie nach einer Weile. „Einen Moment ... Die Felder 4, 8, 12, 16 und 20 fluktuieren im Pikobereich.“
„Scheiße!“, meine Xaver.
„Ich versuche die Fluktuationen mit den anderen Feldern auszugleichen“, sagte Ikko und tastete blind nach den Steuerhandschuhen.
In der Zwischenzeit hatte Xaver das Videopapier aus seiner Datenrolle gezogen. „Die Felder, die ausgefallen sind werden von den Leitungen H5 und H10 mit Energie versorgt“, erklärte er. „Das die Felder fluktuieren bedeutet, dass beide Leitungen beschädigt sind, und wir sie reparieren müssen ohne ein Backup zu haben.“
„Das wissen wir, Xaver“, entgegnete Claire genervt.
„Ich will euch doch nur klar machen wie ernst die Lage ist“, verteidigte sich Xaver.
„Klopf, klopf!“, machte Claire. „Carlos ist verschwunden! Wie ernst soll die Lage noch sein?“
„Vergesst nicht, dass ich von einem dieser Kampfroboter angegriffen wurde“, sagte Ikko während sie mit dem Dirigieren anfing.
„Wahrscheinlich bist du nur dort gestanden, wo in Zukunft auch ein Besatzungsmitglied stehen wird“, entgegnete Jesús.
„Wollen wir's hoffen“, meinte Ikko.
„Die ist verdammt mutig“, meinte Nboku, als er auf dem Videopapier nach der Leitung suchte.
„Wer? Ikko?“ Nboku nickte. „Die hat sich gleich den sichersten Platz auf dem ganzen Schiff ausgesucht!“, sagte Claire.
„Tatsächlich?“
Plötzlich hatte Nboku kein Gewicht mehr. Das es doch eine Schwerkraft gab merkte er erst, als er mit dem Kopf gegen die Decke prallte.
„Hat sich die Gravitation gedreht?“, wunderte er sich.
„Sieht mir eher nach einem Dreier aus“, meinte Claire, die sich selbst den Kopf rieb. „Kümmere dich nicht darum. Wir müssen die Fehlerstelle finden und zwar schnell. Unsere Chance stehen sowieso schon schlecht genug.“
„Aber wir überleben es doch“, sagte Nboku. „Ich meine ... wenn die Singularität auf die Raumzeit trifft explodiert sie ... wie soll dann der Kampfroboter auf das Schiff kommen?“
„Erstens handelt es sich dabei um eine Gammaexplosion“, erklärte Claire. „Der physikalische Schaden ist minimal, im Gegensatz zum biologischen. Zweitens gibt es bis jetzt noch nicht einmal ein theoretisches Konstrukt, dass beweist ob die Raumzeit statisch oder dynamisch ist.“
„Sie dir das an!“ Xaver beugte sich über das metallene Skelett eines Kampfroboters. Ein grob humanoides Teil, mit einem lächerlich kleinen Kopf und vier Gliedmaßen mit je zehn Fingern. Jesús ging in die Knie und berührte es. Zu seiner Überraschung konnte er es tatsächlich spüren. Das silberne Material fühlte sich seltsam kalt und nachgiebig an.
„Siehst du das Sensorauge?“, fragte er. „Es wurde nur ein einziges Mal getroffen.“
„Wenn wir das hier überstehen, sollten wir auf jeden Fall Meldung erstatten“, meinte Xaver nickend.
Die beiden ließen den Roboter wo er war und folgten weiter dem Kabelstrang. Nach den Anzeigen ihrer Datenrollen näherten sie sich der Störung.
Plötzlich kam ein panischer Schrei über das Kom: „Durchbruch!“
Nboku hielt sich an einem Kabelstrang fest. Seine Füße baumelten über einem Loch an der Wand, das einen gefährlich-schönen Ausblick auf die Sterne hatte.
„Wie geht das?“, schrie er gegen den Sturm. „Wir sind doch mitten im Schiff!“
„Das ist bei einem Dreier egal! Halt dich einfach fest!“
Nboku zog sich näher an den Strang und hackte sich mit dem Ellenbogen fest.
„Ich rutsche!“, schrie Claire.
„Halte durch! Ich bin gleich bei dir!“
„Das schaffst du nie!“
„Unterschätze Schwerweltler nicht!“
Er erreichte sie im selben Moment als sie den halt verlor. Gleichzeitig hörte das Loch zu existieren auf.
Unsanft prallten sie auf den Boden auf. Zitternd stöhnte Claire. Mit unsicheren Fingern aktivierte Nboku sein Kom: „Habt ihr die Störung repariert?“
„Nein“, kam Xavers einsilbige Antwort.
„Aufstehen“, drängte er Claire, „es ist noch nicht vorbei.“
Erleichtert streifte Ikko die Steuerhandschuhe und die Sensorbrille ab. Die Kompensation von so vielen Feldern hatte sie in Schweiß gebadet.
„Das war knapp“, sagte sie in ihr Kom, „aber jetzt arbeiten wieder alle Monopolmagneten normal. Ich schätze wir haben uns eine Pause verdient.“
„Ich will noch unsere Störung herrichten“, hörte sie Claire. „Nur zur Sicherheit.“
Die Trauerfeier für Carlos war einfach aber geschmackvoll. Obwohl es keine Leiche gab, hatten sie einen Sarg bereitet. Xaver erzählte von ihrer langjährigen Freundschaft. Ikko meinte, dass von allem Chefs Carlos ihr der liebste war. Jesús sagte lakonisch: „Auf Wiedersehen.“ Nboku schloss sich dem an. Claire brachte kein Wort heraus.
Schließlich drückte Xaver den Knopf, der den Sarg im Boden versenkte und so den Abschuss einleitete.
„Und, lässt du dich von weiteren Justierungen abschrecken?“, fragte Xaver Nboku, als sie sich wieder an die Arbeit machten.
„Und mir den ganzen Spaß entgehen lassen?“
Ein leerer Sarg verließ die Echnaton um im Stern Skat zu verglühen.