Die Jungfrau von Montserrat
Ebene
Als ich mit Michael zur Tür hereinkam, hatte er ihn bereits gekauft. Draußen in seinem Auto lag ein schmutziger Elektroofen. Die Glaswolle-Isolierung an der Klapptür war herausgebrochen und ragte heraus, wie die Eiterhaube eines reifen Pickels. Daneben lag ein monströser Spiegelschrank, von der Art, wie ihn Leute benutzen, die ich sonst nie kennenlerne.
Ismail war 34 und arbeitete bei der lokalen Polizei in Tarragona - einer Art städtischer Wachschutz. Zu meiner Erleichterung erzählte mir Michael, dass sie keine Waffen tragen dürfen. Als neuangekommener Besucher in Ismails Reihenhaus erbot ich mich den schmierigen Ofen mit ihm in seinen Keller zu tragen. Wir stapften mit dem Ding durchs ganze Haus und dann raus in den Nieselregen über die Terrasse zur Kellertreppe. Draußen standen einige billige Plastik-Garten-Möbel, außerdem ein blauweiß gestreiftes Stoff-Sofa, welches unter der nachlässig übergeworfenen durchsichtigen Plastikplane bald die ersten Schimmelkulturen beherbergen mochte. Vor dem weiß gefliesten Gemäuer, welches die Terrasse begrenzte, ragte ein riesiges, leeres Aquarium auf Metallstelzen, wie ein zum Ausrufezeichen erstarrtes, ungehaltenes Versprechen, über den Dingen. Im Keller wartete bereits ein weiteres Ensemble vernachlässigter Produkte aus vermeintlich besseren Zeiten. Alles riesig, schwer und mit einer wachsenden Patina aus Spinnennetzen und feuchtem Staub überzogen. Den Ofen stellten wir gleich vor den Eingang gegenüber einer ausrangierten Fitnessmaschine zum stemmen von Gewichten. Stühle, Gartenmöbel, Matratzen, Autoreifen und alte Elektrogeräte harrten hier ihrem Todesurteil oder einem weiteren verzweifeltem Versuch ihrer Wiederbelebung.
Michael wohnte jetzt seit zwei Monaten in Spanien. Er hatte sich entschlossen auszuwandern und hatte Berlin endgültig den Rücken gekehrt. Bei Ismail hatte er schon vorher gewohnt und schmiss hier ungewollt, aber mit praktischer Energie den Haushalt. Ismail vermietete seine Zimmer wegen des Geldes, aber in erster Linie war es seine Möglichkeit Kontakte zu knüpfen. Italiener, Engländer, Deutsche, Spanier, meist Studenten bildeten die wechselnde Wohngemeinschaft von zuweilen bis zu 6 Personen. Die meisten jung und selbstvergessen und immer bereit eine von Michas sauber gedrehten Tüten zu rauchen oder eine Dose des nie versiegenden Vorrats an Gräfenwalder Pilsener (30 Cent pro Dose) aus dem Kühlschrank zu nehmen. Micha kaufte ein, kochte häufig, verfügte über einen Würth-Akkubohrer und ein Universalwerkzeug (Leatherman), welches er in einer Tasche am Gürtel trug. Vor knapp zwei Jahren hatte er, hier in Tarragona, sein Ingenieurstudium mit einer Diplomarbeit über Wasserreinhaltung abgeschlossen. Ich hatte gerade meinen Job verloren und wie es aussah, wollte meine Freundin nichts mehr mit mir zu tun haben. Genügend Gründe nach Spanien zu fahren und den alten Micha zu besuchen.
Gleich am ersten Abend gingen wir ins Candil, um einige Biere zu trinken und Michas Leute zu treffen. Im Jahr zuvor hatte er hier gearbeitet. Draußen prasselten immer noch die Regentropfen auf die alten Steine des Plaza de la Font und die Glocken der Kathedrale tönten wie durch Nebel zu uns, als wir die Bar betraten. Martha die pausbäckige, knopfäugige Kellnerin, klein und kompakt, zapfte unsere Biere und lud uns ein, am kommenden Sonntag an der Calcotada des Candil teilzunehmen: Ein großes Feuer unter freiem Himmel auf dem Heerscharen riesiger Frühlingszwiebeln, auf einem Draht aufgefädelt schwarz gegrillt werden. In einer Art orgiastischem Ritual werden dann die zarten Zwiebelherzen aus ihrer schwarzen, rußigen Schale entblättert und mit viel Wein und einer Mandel-Tomaten-Sauce heruntergespült. Die Zwiebeln hängen wie Sardinen über den verschmierten Mündern. Wie Spaghetti werden Sie eingesogen und die ölige Soße sucht sich ihren Weg vom Mundwinkel zum Kinn und überall hin. Vorläufig regnete es weiterhin und ich wurde zunehmend betrunken. Später bei Ismail fischten wir zwei Gräfenwalder aus dem Kühlschrank. Micha baute einen Joint und ich fand mich als unfreiwilliger Helfer im Badezimmer wieder, wo ich den Würth-Akkubohrer in den feuchten, bröseligen Putz der Wand, oberhalb des Waschbeckens trieb, um den Spiegelschrank vor einem verfrühten Ende im Keller zu bewahren. Der Spiegel hing schließlich ein wenig hoch und Ismail musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um seinen bemühten Gesichtsausdruck nach getaner Arbeit selbstzufrieden zur Kenntnis zu nehmen. Ich wusch mir die Hände und betrachtete dabei mein Spiegelbild. Es wollte nicht richtig fokussieren. Brille, Locken, die kleinen Ohren, die große Nase tanzten vor meinen Augen, als seien sie unsicher, ob das vertraute Ensemble, welches mich nun schon über 30 Jahre begleitete, nicht ein Irrtum gewesen war. Ich wandte den Blick und ging ins Wohnzimmer, um mit Micha und den beiden Italienerinnen den letzten Joint zu teilen. Als ich im Bett lag, ergab ich mich der Wirkung des Dopes und der Drehung des Erdballs um seine eigene Achse, die mich mit rasender Geschwindigkeit durch den Weltraum katapultierte.
Gleich am nächsten Tag machten wir einen Ausflug. Micha hatte seinen Anzug angezogen. Er besaß ihn seit genau einer Woche und hatte ihn extra für das Bewerbungsgespräch gekauft. Eine spanische Baufirma mit Sitz im industriellen Speckgürtel südlich von Barcelona hatte ihn auf seine Bewerbung hin eingeladen. Im Anschluss an diesen Termin wollten wir den Montserrat erklimmen, um auf den Zinnen des dortigen Benediktinerklosters eine Tüte zu rauchen. Gegen 11:00 Uhr erreichten wir das Firmengebäude. Zwei Stunden zu früh. In dem verschlafenem Nest, mit Blick auf eine lange Kette bizarrer Industrieanlagen, die sich links und rechts des Llobregat angesiedelt hatten, waren die Strassen wie ausgestorben und die Vorstellung, dass ein Großteil seiner Einwohner in diesem Moment wohl dort unten arbeitete, um irgendwelche Maschinen in Gang zu halten, erschien mir irgendwie abwegig. Nach einigem Suchen fanden wir schließlich eine Cantina. Etwa zwanzig Arbeiter saßen verteilt an den Tischen und nahmen wohl gerade ihre Mittags-Mahlzeit mit Brot und Wein ein. Bei unserem Eintreten ernteten wir einige misstrauische Blicke. Ich vermutete das Michas Schlips die Befürchtung nahe legte er sei als Chef auf Visite unterwegs. Michael bestellte uns Fisch, Reis und eine Flasche Wein und schnell schwebte lebhaftes Sprachgewirr aus Catalan, Castellan und Portugiesisch über unseren Köpfen und als wir das Lokal verließen, hatte ich leichte Kopfschmerzen und war froh, dass es nicht mehr regnete.
Ich setzte mich auf eine Bank und erwartete Michas Rückkehr. Es war ein komisches Gefühl meinen Freund auf dem Weg zum möglicherweise erstem "seriösem" Job zu begleiten. Wir hatten uns kurz umarmt, ehe er in Richtung Firma davon stapfte. Mir ging durch den Kopf, dass es tatsächlich so etwas wie Abschied nehmen bedeutete, wenn die Maschinerie des Arbeitslebens einen erst in ihre riesigen Arme nahm. Ich hatte die letzten drei Jahre in einer Internetfirma gearbeitet und den Boom und den Niedergang der Branche miterlebt und dabei deutlich zu wenig Zeit mit meinen Freunden verbracht.
Höhe
Die Straße zum Montserrat schlängelte sich in engen Serpentinen den steilen Berg hinauf. Das Bewerbungsgespräch war kurz gewesen und wie es aussah suchten sie jemanden mit mehr Berufserfahrung in der Baubranche. Wir redeten nicht viel. Micha jagte den Wagen um die engen Kurven. Ich baute unseren Joint und wir verabschiedeten und allmählich aus der Ebene.
Als wir den Schlagbaum passierten, um zum Gipfel zu gelangen, stand die Sonne bereits tief und tauchte das Kloster in ein diffuses Licht. Der Parkplatz war weitgehend leer und wir durchliefen das Tor der dicken Klostermauern ohne die übliche Begleitung japanischer Reisegruppen und amerikanischer Kurzhosenträger, die wohl sonst diesen Ort bevölkern. Vor meinem Auge erschien für einen Moment die Vision von Heerscharen eifriger Gläubiger des McDonald-Tourismus, die ihren Zehnten am Parkplatzschlagbaum entrichten, ehe Sie im Rhythmus automatischer Kameras durch die Klosteranlage marschieren und als Erben ihrer katholischen Vorfahren, eifrig die Litanei des pflichtschuldigen Staunens anstimmen, um so ihrem Gott des Konsums zu huldigen. That´s so cute. That´s so beautiful. Could you take a picture? Gottes Segen empfangen sie in wechselnden Gruppen, vor den Stufen der Basilika, durch das Blitzlicht ihrer Kompaktkameras. Und dann zum Abschluss der imaginären Zeremonie erhalten sie im inneren des Gotteshauses, in dem Heerscharen von Mönchen mit Burger-King-Schürzen Hamburger braten, vom Mitarbeiter des Monats, Ihre Kommunion als Cheese-, Chili- oder Chickenburger. All Credit Cards accepted. Amen.
Tatsächlich waren auch jetzt noch einige Gruppen unterwegs, die sich aus der Zahnradbahn oder ihren Bussen erhoben hatten, um eilfertig ihre Bilder zu machen. Micha und ich verkrümelten uns zwischen zwei Zinnen der ehemals so wehrhaften Klostermauern und rauchten unseren Joint. Ich schloss die Augen und meinte die Bewegung der tektonischen Platten zu spüren, die sich auf dem zähflüssigem Kern der Erde langsam aber unwiderstehlich bewegen, bis zwei Platten aufeinanderstoßen und die ungeheure Kraft ihres Aufpralls der Welt ein neues Gesicht gibt. Ungefähr so musste das ehemalige Flussdelta, welches die amorphen Figuren der Berglandschaft des Montserrat erklärt, vormals wie von Geisterhand in die Höhe katapultiert worden sein. Ich hatte das Gefühl auf der Spitze einer riesenhaften, schwankenden Stalagmite zu sitzen, die stetig weiter in den Himmel wächst. Der Blick war atemberaubend, schwindelerregend und die Einzigartigkeit des Ortes mag eine Erklärung für die zahlreichen Legenden von Ufos, Außerirdischen oder ganz allein für die mythische Kraft sein, die man Montserrat nachsagt.
Die Messe hatte bereits gewonnen als wir die Basilika betraten. Die Mönche zelebrierten langsam ihr archaisches Ritual einer christlichen Messe. Nichts für TV-Junkies. Die Show schleppte sich ganz schön dahin. Unter der Statue der Jungfrau von Montserrat, die schwarz vom Alter, ihr Kind auf dem Schoss, seit dem 14ten Jahrhundert über die Geschicke des Klosters wachte, wechselten die etwa dreißig Mönche scheinbar zufällig ihre Plätze unter der Himmel hohen Kuppel der Basilika am Ende des Kirchenschiffes. Traten ein, traten ab, stimmten Choräle an, vereinzelt sprach einer ein paar Worte auf Katalan in ein Mikrophon.
Ich schloss die Augen. In meinem Kopf rauschte es. Der Joint, das scharfe Aroma des Weihrauchs und die Gesänge der Mönche spielten Karussell mit meinen Erinnerungen und Gedanken. Die letzten Wochen waren gelinde gesagt ziemlich beschissen gelaufen. In nur sechs Wochen hatten sich die sicheren Fundamente meines Selbstwertgefühls in einem Strudel von Ereignissen mit wachsender Geschwindigkeit aufgelöst. Und das, was so vertrauenerweckend in meiner Erinnerung prangte, hatte erst geächzt, gebröckelt und war dann wie die rückwärtslaufende Zeitrafferaufnahme der Entstehung des Montserrat in einem unwiderstehlichem Strudel zerbröselt und als amorphe Masse atomisierter Teilchen in der Tiefe verschwunden. Ich konnte es noch nicht wirklich fassen und rieb mir immer mal wieder die Augen, ob die Realität nicht ein einsehen hätte. Mit Birgit hatte ich vier Jahre verlebt und der anfänglichen Überschwänglichkeit war irgendwann eine Vielzahl von Aktivitäten gewichen, die wir miteinander teilten. Trotzdem empfand ich immer noch jedes mal echte Trauer, wenn sie sich morgens anzog und ihren schönen Po (den sie selbst viel zu groß fand) und ihre weichen duftenden Brüste meinen Blicken mit raschen Bewegungen entzog. Ich liebte es, ihr beim Lesen im Bett zuzusehen und die Momente, wenn ihr Gesichtsausdruck ganz sanft im Schein der Leselampe schimmerte und auch ihre Wutausbrüche, ob der sperrigen Ignoranz der Welt der praktischen Dinge, wenn z.B. ihr Computer abschmierte oder irgendwelche Webseiten (meist über Gesundheitsthemen) mal wieder viel zu lange brauchten, ehe sie durch ihre Telefonleitung auf den Bildschirm gehuscht waren. Ich vermisste sie.
Die hohen Töne der einsetzenden Orgel rissen mich aus meinen Gedanken. Ich blickte auf und ließ meinen Blick entlang der Kirchenbänke hinauf zum Altar schweifen. Als meine Augen sich hoch tasteten zum Deckengewölbe - die Orgelmusik steigerte sich zu einem scharfem Jubel - streiften sie die Madonnenfigur und ich stutzte. Hatte Sie meinen Blick erwidert? War die unmerkliche Bewegung ihres Hauptes, die ich wahrgenommen zu haben glaubte, Resultat meiner Fantasien oder Realität? Ich fixierte die Madonnenfigur. Sie stand starr und hölzern an ihrem Platze und schien von dem kakophonischem Crescendo der Orgelpfeifen nicht im mindesten beeindruckt zu sein. Hilflos schaute ich mich nach Michael um. Er war eingeschlummert. Sein Kopf war mit dem Kinn auf die Brust gesackt und hob und senkte sich langsam im Rhythmus seines Atems. Die anderen Besucher verfolgten unbeeindruckt das fortlaufende Zeremoniell der Mönche.
Ich schaute erneut zur Madonnenfigur, als die Orgel den Kirchensaal mit ihrem nun zu voller Stärke angewachsenem, bebendem Schlussakkord flutete. Santa Maria de Montserrat reckte den Arm in die Höhe. Mit der Entschlossenheit und Elastizität einer Trapezartistin führte sie ihre vom Alter geschwärzte, hölzerne Hand, die mehr als 6 Jahrhunderte auf der Schulter des unbefleckt empfangenen Jesuskindes geruht hatte, in die Höhe, ballte Sie zur Faust und brachte die Orgel mit einer ruckartigen Bewebung, als bediente sie die Notbremse eines außer Kontrolle geratenen Zuges, zur Ruhe. Stille wie ein Donnerschlag. Schweigen. Seelenruhe. Die herbe, schwere Luft in der Basilika war mit einem mal klar und rein wie nach einem tosenden Frühlingsgewitter.
Für Sekundenbruchteile schwang das Versprechen von Ewigkeit in der Luft, bis ein leises Poltern, wie das schüchterne Klopfen eines Schülers am Lehrerzimmer, in die Stille hereinbrach. Zuerst ganz sanft wie durch Nebel, dann zunehmend lauter, polternd, fordernd wie die Polizei auf Verbrecherjagd, wie der wütende Vater an der Tür seines ungezogenen Sohnes. Der Kopf des Jesuskindes hatte sich durch die Wucht des mütterlichen Ellenbogens von seinem kleinen, so lange behütetem hölzernem Rumpf gelöst und war die Brüstung hinabgefallen, hatte den Kandelaber mit der riesigen lodernden Kerze vom Altar gefegt und kullerte vorbei an den zu Statuen erstarrten Mönchen, die Treppe hinab und mit immer größerem Getöse direkt auf mich zu. Derweil hatten die Mönche die Kontrolle über ihre Körper wieder erlangt und hatten sich zu einer zuckenden Schlange formiert, um die sich vor Lust und fordernder Geilheit auf dem Altar windende Santa Maria de Montserrat mit ihrer gebenedeiten Männlichkeit zu beglücken. Auch die Touristen hatten begonnen sich der langsam fortgleitenden Schlange ungeduldig wartender Mönche anzuschließen und der Rhythmus entrückter, spitzer Schreie der Lust vermischte sich mit dem anklagendem Gepolter des Jesuskopfes, der jetzt auf halber Strecke des Kirchenganges zu einer metergroßen hölzernen Lawine angewachsen war, die immer größer und größer wurde und mich schließlich mit riesenhafter Gewalt überrollte.
Irgend jemand hatte mir den Stecker rausgezogen, die Szene war in sich zusammengefallen wie das Fernsehbild eines alten Röhrengerätes, dem man den Stecker rauszieht. Als ich wieder zu mir kam lag ich auf dem Rücksitz von Michas Wagen, richtete mich langsam auf und sah die beruhigenden Lichter der Ebene langsam näher rücken.