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Die Jagd
Die Jagd
"Nimmst Du mich mit? Bitte, ich möchte mitkommen!"
Amryl ignorierte das Gequengel des Kleinen so lange, wie sie konnte, doch ihre Geduld war nur begrenzt. So warf sie sich den weichen, wärmenden Mantel über und drehte sich dann zu ihm um.
"Nein, Chryson. Du weißt, daß ich nur allein jagen gehe. Du bist zu laut und zu zappelig und verschreckst mir nur Merlin."
Der verkappte Falke flatterte ein paar Mal mit seinen Flügeln, als sein Name fiel, doch vielleicht wußte er auch nur, daß es bald losgehen würde. Amryl legte ihren Handschuh zurecht und strich mit einer Feder leicht über die Schwingen des Vogels. Chryson schürzte die Lippen.
"Ich verspreche Dir, daß ich ganz still sein werde, wirklich. Ich will doch nur zuschauen. Bitte, Schwester."
"Du bist doch jetzt schon nicht ruhig. Sei ein lieber Junge und hilf Mutter beim Backen, ja? Vielleicht fällt dort ja etwas für Dich ab. Aber laß mich in Ruhe ziehen."
"Immer gehst Du allein! Nie nimmst Du mich mit! Dabei könnte ich auch mit Merlin umgehen. Er gehorcht bestimmt auch mir. Ich bin nicht mehr klein."
Ein leises Lachen entfuhr Amryl.
"Du bist gerade mal acht Sommer alt, Bruder. Groß nenne ich etwas anderes. Du spielst doch noch mit Ritterfiguren und den Schiffen, die Großvater Dir schnitzt."
Er streckte ihr die Zunge heraus. Doch das sah Amryl nicht mehr, weil sie sich längst abgewandt hatte. Sie ging hinüber zur Weide und piff durchdringend. Eine junge Stute spitzte die Ohren, hob den Kopf und kam herangetrabt. Mit der Hand liebkoste Amryl die weichen Nüstern. Die Stute schlug die großen braunen Augen nieder und untersuchte interessiert mit ihrer Nase die Taschen Amryls. Lachend wehrte diese ab und zog einen Apfel hervor.
"Vor Dir kann man nichts verbergen, Tänzerin. Hier, nimm und sei zufrieden."
Noch während das Pferd an dem dargebotenen Apfel kaute, öffnete Amryl das Gatter. Tänzerin wußte, was zu tun war und folgte Amryl bis zum Stall. Erst dort wurde sie gesattelt. Die junge Frau brauchte eigentlich keinen Sattel, am liebsten ritt sie frei. Doch Merlin brauchte seine Sitzstange; er war zu schwer, als daß sie ihn die ganze Zeit auf der Faust tragen konnte. Abermals flatterte er unruhig und Amryl beeilte sich, ihren Handschuh überzustreifen und ihn auf die Faust zu nehmen. Schmollend sah Chryson ihr zu, wie sie zuerst den Falken auf seinen Platz setzte und sich dann hinter ihm in den Sattel schwang.
"Wenn Mutter fragt, ich komme mit dem Abendessen heim. Merlin braucht zwar nur etwas Ausflug, aber dabei fällt bestimmt die eine oder andere Taube ab.", rief sie ihm noch zu, dann ritt sie hinaus. Ihr Weg führte an den Stallungen vorbei, hinaus auf die freien Ebenen hinter der Siedlung. Die Landschaft erhob sich sanft, so daß sie über die kleine Siedlung blicken konnte, als sie die Stute bremste und zurücksah. Friedlich lag es da, aus einigen Kaminen flüchtete sich Rauch von den Feuerstellen darunter. Die Sonne, die sich deutlich zum Horizont neigte, tauchte die wenigen Behausungen in weiches goldenes Licht. Amryl hatte nicht mehr viel Zeit. Sie trieb Tänzerin an und galoppierte davon.
Erst als das Dorf längst außer Sicht war, hielt sie an und wartete, bis sich ihr Herz wieder beruhigt hatte. Bei ihrem wilden Galopp hatten sich ihre langen Haare unter der Kappe gelöst und umrahmten golden ihr Gesicht. Sie schüttelte ihren Kopf, so daß die Mähne über ihren Rücken zurückfiel. Tänzerin hatte längst angefangen, an den unter ihr liegenden Grasbüscheln zu zupfen, als Amryl von ihrem Rücken glitt und Merlin behutsam die Kappe von den Augen nahm. Blinzend sah sich der große Falke um. Sie lächelte. Wie sehr war ihr Vater dagegen gewesen, als sie um Merlin gebeten hatte. Er züchtete die besten Vögel der Gegend und die Geschäfte liefen gut - Merlin hatte er als Jagdfalken für einen Edelmann vorgesehen. Doch er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit seiner Tochter gerechnet.
'Vater, bitte, ich habe ihn trainiert, seit er alt genug dafür ist. Er kennt mich und ich kenne ihn und ich kann ganz bestimmt mit ihm umgehen.', hatte sie gefleht.
'Nein, Amryl. Die Falkenjagd ist nichts für Mädchen. Warum zeigt nicht Dein Bruder so ein Interesse an den Tieren, wie es sich gehören würde? Warum muß ausgerechnet meine Tochter eine Leidenschaft dafür entwickeln? Ich habe Dir erlaubt, sie zu trainieren, das sollte Dir reichen.'
Doch diese Worte hatten keine große Wirkung auf die junge Frau gehabt und so gab er sich irgendwann geschlagen.
Amryl lächelte. Es war nicht einfach nur die Sehnsucht nach einem eigenen Falken, die sie so sehr hatte drängen lassen. Ihr Vater wußte allerdings nichts davon und sie hatte auch nicht vor, es ihm zu sagen.
"Los Merlin, fliegen wir los.", flüsterte sie dem Falken zu, nahm ihn auf die Faust und warf ihn ab. Mit einem Schrei flog der stolze Vogel los und erhob sich mit ein paar kräftigen Schlägen in die Luft. Amryl sah ihm hinterher. Doch schon bald verschwamm der dunkle Punkt vor ihren Augen, wechselte die Perspektive ihrer Sicht. Sie sah sich für einen Moment selbst, wie sie sehnsüchtig in die Ferne blickend neben der Stute auf der Erde stand. Dann drehte Merlin ab und sie sah die endlosen Wälder, die sich von hier aus erstreckten. Wolken zogen langsam über den Himmel und der Auftrieb war besser als erwartet. Amryl/Merlin streckte die Schwingen und ließ sich von den Winden treiben. Das hatten sie gesucht, die unerwartete Weite des Himmels, die sie jedesmal in den Bann zog. Alles war hier so weit weg. Ihr Bruder, ihr Dorf, die ganzen Pflichten und lästigen Aufgaben zu Haus. Nein, hier gab es kein 'Amryl, hol Feuerholz.' oder 'Amryl, es wird spät, bring Deinen Bruder ins Bett.'. Nein, hier gab es nur sie; sie, die Merlin war. Es war keine einfache Falkenjagd, die sie hinausrief. Hier war sie frei. Ihr Vater verstand von alledem nichts. Er züchtete Arbeitstiere, die Hasen, Tauben und Mäuse schlugen und ihren Herren eine erfolgreiche Jagd bescherten. Er konnte in ihnen keine Gefährten sehen, die ihm das gaben, was er in der vertrauten Enge der Siedlung so sehr vermißte. Ihm fehlte das Talent, das sich unbemerkt in seiner Tochter entwickelt hatte. Unbeschwert flatterte Amryl/Merlin mit den Flügeln und fixierte dann den Blick auf den Boden. Zwischen den Büschen hatte sich etwas bewegt. Ja, da war es. Ein kleines Kaninchen hatte sich hinausgewagt. Amryl lächelte, als sie Merlins Verlangen nach dem Beutetier spürte. Es war seine Natur, seine Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Sie rief ihn nicht zurück, sollte er sein Vergnügen haben. Gemeinsam mit Merlin stürzte sie lautlos hinab. Im letzten Moment bemerkte das Kaninchen den drohenden Schatten noch, doch es war zu spät. Der Vogel ließ nicht von ihm ab, hackte seinen Schnabel in das weiche Fell und schmeckte warmes, salziges Blut. Als Amryl/Merlin die Krallen folgen ließ, stießen sie gemeinsam einen Triumpfschrei aus. Die Beute starb fast augenblicklich an einem Genickbruch. Amryl/Merlin breitete erneut die Schwingen aus und erhob sich erneut in die Lüfte. Kurz genossen sie das Panorama der untergehenden Sonne, noch immer ein paar Haare und Blutgeschmack im Schnabel. Dann trennten sie sich und Amryl ließ Merlin den Weg zu ihr zurück allein finden. Sie wartete geduldig. Er ließ sich Zeit, kreiste noch eine Weile ruhig in der Luft, um an Höhe zu verlieren und setzte dann im Gras auf, ein paar Meter entfernt von Amryl. Euphorisch streckte sie ihre Schwingen und versuchte sich daran zu erinnern, daß es eigentlich Arme waren. Es wurde Zeit, die Dämmerung ließ bereits die Farben verblassen. Sie nahm Tänzerin am Zaum und ging zu Merlin hinüber, der sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte. Er wußte, was kommen würde. Genau beäugte er, wie Amryl das Messer aus der Tasche nahm, ein Stück des Kaninchens abschnitt und ihm hinlegte. Gierig verschlang er den noch warmen Kadaverteil. Amryl wußte, wie wichtig es ihm war, diesen Anteil zu bekommen. Sie jagten gemeinsam, sie teilten die Beute. Satt und zufrieden hüpfte Merlin schließlich auf den Handschuh und hielt den Kopf still, als er wieder verkappt wurde. So war es immer. So war es auch heute. Sicher auf seinem Reck, ritt er wieder in den heimatlichen Stall und träumte gemeinsam mit Amryl vom nächsten Flug.