Die Jagd
Es war noch früher Morgen und die Wiesen um das kleine Dorf herum feucht vom nächtlichen Tau. Die Wälder kalt und wie erstarrt. Langsam lichtete sich der beharrliche Morgennebel über den Feldern und gab den Anblick auf die Welt preis, wie sie so dalag, als sei sie eben erst geschaffen worden. Frisch und unverbraucht stieg die Luft empor, die man sehen konnte, wenn man ausatmete. Die Kühe standen starr auf den sanften Hügeln vor dem Hochgebirge und warteten darauf, gemolken zu werden. Ihre Euter waren schon prall gefüllt, als sich das erste Sonnenlicht über den Horizont wagte und die Gipfel der Berge in frohe Farben des Tages tauchte. Die Welt war wieder einmal erwacht, doch es war niemand da, der sich daran erfreuen konnte. Auch kam niemand, um die Kühe zu melken, die von Schmerzen gepeinigt auf den leichten Anhöhen standen und warteten. Manche rupften Gras aus und glaubten noch, dass alles war wie an jedem anderen Tage auch. Die Knechte würden aus ihren Menschenhütten kommen, sich auf einen Melkschemel neben sie setzen und von ihrer schweren Last befreien. Aber so war es nicht. Leider. Die Jagdsaison hatte begonnen. Vom Schloss des Fürsten erklangen in weiter Ferne die ersten Hörner, die zur Jagd bliesen und die anmutigen Rosse wurden am Hofe gesattelt. Noch waren Diener damit beschäftigt, sie zu striegeln und ihnen seidene und bestickte Tücher unter den Sattel zu legen und die Mähne aufzurichten. Ihre stolzen Besitzer trugen bereits hohe Stiefel und die grünen Kleider, die sie als Jäger auswies. Und es gab kein Herz, in dem sich nicht diese einzigartige Wonne breitgemacht hätte, die es nur zu jener Zeit gab. Der Tag versprach herrlich zu werden, kein Wölkchen wagte es, über den Himmel zu gleiten und zum anderen Ende des Horizonts zu schweben. Denn es war Jagdzeit. Der König wollte es so. Im Hof kläffte die lebendige Hundemeute und sprang umher mit freudigem Glanz in den tierischen Augen. Derselbe Glanz in den Augen ihrer Besitzer. Die Hunde starrten schwanzwedelnd hinaus in die Ferne, die Hundenasen schnüffelnd in die Morgenluft erhoben, als könnten sie die Beute bereits riechen. Dann donnerte der erste Schuss aus den Kanonen und hallte von den Felswänden wider und dröhnte durch den frühen Morgen. Was dort draussen noch nicht wach war, sollte nun wach sein. Die Jagd konnte beginnen! Reiter und Pferde und Hunde eroberten die stille Einsamkeit und brachen lärmend durch das Geäst wie ein tobender Sturm und durchkämmten die nahen Wälder. Die Hunde kläfften und tobten und jagten durch die unberührte Idylle. Denn sie waren auf der Suche. Sie rochen es genau: eine leichte Duftnote, kaum zu unterscheiden vom alles umgebenden Geruch der Tannennadeln und der Tiere des Waldes. Sie suchten nach Menschen. Der König hatte Geburtstag und er war bekannt für seine exquisiten Einfälle, die manchen Zeitgenossen wohl zum Schmunzeln brachten. Er liebte es auf die Jagd zu gehen. Auf die Jagd nach Menschen. Das kleine Dorf im Tal war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Der König war seit jeher böse und im Dorf munkelte man, dies sei darin begründet, dass ihn nie jemand geliebt habe. Seine Mutter war früh verstorben, der Vater nach einer Schlacht verschollen, hieß es. Die Einwohner weigerten sich beharrlich, seine Herrschaft anzunehmen und Steuern zu zahlen. So blieb ihm nur diese eine Möglichkeit. Doch hatten sie es nicht verdient? Undankbare Knechte! Lumpenpack! Sicherlich, er genoss die öffentliche Exekution fast ebenso wie die Jagd, doch der Vorteil war, dass sich die Menschenjagd immer in die Länge streckte und hinzog. Und die Menschen immer hoffnungsloser und durch die Hoffnungslosigkeit immer beherzter und durch die Beherztheit immer leichtsinniger wurden. Dann rannten sie dem Jäger direkt vor die geladene Flinte. Ach, es war ein köstliches Vergnügen, sich an dem Entsetzen zu weiden, das in jedem einzelnen Gesichte geschrieben stand. Menschen sind auch nur Tiere, sagte er sich. Er dachte auch nicht länger darüber nach, denn Denken war anstrengend. Und warum sollte man sich anstrengen, wenn man sich auch vergnügen konnte? Der König wartete schon ungeduldig auf das Zeichen seiner Helfer. Sie sollten ihm die ängstliche Menge zutreiben, so dass er sich kaum von der Stelle bewegen brauchte. Reiten war ja so entsetzlich langweilig und eintönig! Schon gähnte der König und die Diener waren bemüht, ihn bei Laune zu halten. Einer ließ sich vom Rücken seines Rosses in den Dreck des durchnässten Erdbodens fallen und ruderte darin hilflos mit den Armen. Ein anderer gefiel sich dabei, mit seiner Flinte Löcher in die Luft zu schießen. Das fand der König so gar nicht lustig, zumal er befürchtete, der Himmel könnte durch die Schüsse wie ein Luftballon zerbersten. Die Diener suchten, ihn behutsam zu beruhigen und zugleich ein Lächeln über dessen Ängste zu unterdrücken. Nur ein Diener konnte sich nicht zurückhalten und als er die Beherrschung gänzlich verlor, platzte er schallend lachend heraus. Er hat den Sonnenuntergang an diesem Tage nicht erlebt. Es war ein glücklicherer Wink des Schicksals, als das Klappern der Hufe näher kam und die ersten Schreie die Morgenstille durchbrachen. Sie kamen aus dem Wald. Schüsse fielen und sie kamen näher. Das Gebüsch raschelte und die Wipfel der Bäume durchfuhr ein Zittern. Dann waren sie plötzlich da. Eine große Menschenmenge, die sich dicht aneinander drängte und das Schwert des Zornes über sich schweben sah. Ein Grinsen durchzuckte das rosig glänzende Gesicht des Königs, als er sie erblickte. Er brauchte den Hals nur leicht zu drehen und die Zügel festzuhalten. Schon tastete er mit unbeholfenen Händen nach dem holzbeschlagenen Gewehr und setzte gemächlich an, denn er hatte Zeit, und wählte einen schwachen Greis aus, der ihm am nähesten stand. Er war dürr, die Haut schlaff und selbst das das eingefallene Gesicht wirkte asketisch. Seine letzten Zähne waren ihm vor langer Zeit schon ausgefallen und auch die Augen sahen nicht mehr klar. Der König hatte vor, ein gutes Werk an ihm zu tun und ihm aus nächster Nähe weidgerecht den Gnadenstoß zu geben. "Tritt näher, Alter" raunte er. "Ich werde dich nun von deiner Armut erlösen!" Ein weiterer Alter war aus der Menge getreten und ergriff ihn an der Schulter. "Nehmt mich, König. Ihr begeht einen großen Irrtum! So glaubt mir doch!" Aber der König grunzte nur verächtlich und ritt näher, das Pferd schnaubte kalte Morgenluft aus den Nüstern. Und die Menge wandte sich ab, als dürfe sie nicht sehen, was dann geschah, als glaube sie, sie verletze die Ehre des Alten, wenn sie zuschaue. Der Schuss durchbrach die Stille der morgendlichen Welt und irgendwo aus den Wäldern flatterten Enten auf, um dem Sonnenlicht entgegenzutanzen. Sie waren heute verschont geblieben. Der Alte lag friedlich ruhig im Klee und man konnte, wenn man ihn so betrachtete, glauben er schlief. Das stimmte irgendwie auch, doch er würde nicht wieder erwachen. Der andere alte Mann trat auf den König zu, der von seinem Ross verständnislos auf ihn niederstarrte. "Lasst mich der nächste sein! Doch versprecht mir mein Volk freizulassen!" "Warum sollte ich das tun?" entfuhr es dem Herrscher. "Weil ich Euch dann ein Geheimnis offenbare, dessen Wert Ihr kaum zu schätzen wisst. Gewissermaßen ein Schatz für Euer Leben, der sich mit allem Gold und Geld nicht aufwiegen lässt.Doch erst gebt mir Euer Wort mein Volk seiner Wege gehen zu lassen!" "Gewährt! Nun tut mir das Geheimnis kund, alter Mann!" Die Stimme des Alten war nun säuselnd wie der frische Morgenwind und klang fast älter als die Zeit. "Ich war damals im Krieg mit einem stolzen und tapferen jungen Mann. Wir schlugen uns wacker in der Schlacht, doch die Männer wurden dahingerafft und alle Reihen fielen. Wir waren die letzten Überlebenden, der jugendliche König und ich. Gerettet wurden wir durch unsere Flucht und wir kehrten in das Königreich zurück, das nun Euch gehört. Der König spürte tiefe Pein in seinem Herzen und hatte Angst, sein Scheitern einzuräumen und seine Feigheit durch die Flucht. So lebte er fernab des Hofes in unserem kleinen Dorf in einer bescheidenen Holzhütte und hätte dir, mein Kind, vielleicht die Hand gereicht am heutigen Tage." "Wo ist er? Ist er gestorben?" "Soeben, mein König, soeben. Riecht ihr noch den Rauch von Eurem Mündungsfeuer? Es war die Kugel, die durch den Lauf Eures Gewehres drang, die ihn tötete! Er starb durch Eure Hand!" Die Stimme schien noch lange in der Luft zu schweben, auch noch als sich das Volk leise vom Schauplatz des Schreckens stahl. Und niemand vernahm die einsamen Schreie des gebrochenen Königs, als er gen Himmel brüllte. Nur die grasenden Kühe auf den Wiesen hörten ihm zu, doch sie verstanden ihn nicht. Von da an ward ehr nimmermehr gesehn. Und wenn er nicht gestorben ist, so zieht er auch heute noch in Lumpen durch die Welt, mit einer Krone aus Draht auf seinem Haupte und klagt dem Mond und der Sonne sein Leid.
Tobias Rösch