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Die Jagd
Ziana blickte sich in dem großen Raum um, in dem sie stand. Die jungen Leute nahmen lärmend ihre Plätze ein. Sie lächelte und wartete geduldig, wobei sie sehr wohl bemerkte, dass ihre Schüler miteinander tuschelten und dabei immer wieder in ihre Richtung blickten. Ihr war klar, dass dies nur zum Teil daran lag, dass sie ihre Lehrerin sein würde. Sie vermutete, dass die Schüler eher darüber flüsterten, was sie über Ziana gehört hatten. Die meisten anderen Vampire dachten von ihr, sie sei verschroben. Der Grund dafür war, dass sie sich so ausführlich mit den Kreaturen befasste, die ihre Nahrung darstellten. Das Interesse dafür schien sie von ihrem Vater geerbt zu haben, denn er hatte die wohl größte Bibliothek über Menschenkunde, die ein Vampir je gesehen hatte. Die Bücher waren hauptsächlich Studien über die Verhaltensweisen und über die Geschichte der Menschen. Es gab auch einige wenige von Menschen geschriebene Bücher, die ihr Vater von seinen Ausflügen in die Andere Welt mitgebracht hatte. Diese hatte sie immer besonders gerne gelesen, weil die Menschen richtig viel Fantasie beim Schreiben besaßen.
Sie lächelte ihre neue Klasse freundlich an. „Hallo und herzlich willkommen. Mein Name ist Ziana.“
Die jungen Leute schenkten ihr wenig Aufmerksamkeit. Einige blickten gelangweilt aus dem Fenster und andere unterhielten sich leise. Es waren fünfzehn Vampirkinder, die alle um die achtundzwanzig Jahre alt waren. Und Ziana wusste, dass sie absolut kein Interesse an diesem Fach hatten. Dennoch blieb sie weiter freundlich. „Wie ihr wisst, werde ich im nächsten Jahr eure Lehrerin für Menschenkunde sein.“
Ein allgemeines Murren war die einzige Antwort. „Ihr werdet lernen, wie man die Andere Welt, die der Menschen, betritt und wieder verlässt. Ihr werdet etwas über die Geschichte der Menschen lernen, über ihre Gewohnheiten und ihre Eigenarten. Ihr werdet lernen, wie ihr eure Beute aufspürt und tötet. Ihr werdet lernen, wie ihr dies so tut, dass es kein anderer Mensch bemerkt. Ich werde euch erklären, warum dies so wichtig ist. Dazu werden ihr alle Gesetze lernen, die beim Betreten der Anderen Welt beachtet werden müssen. Am Ende dieses Jahres werdet ihr zum ersten Mal auf die Jagd gehen. Bis dahin müsst ihr genau wissen, wie ihr euch zu verhalten habt. Noch Fragen, oder können wir anfangen?“
„Warum bringst du uns nicht einfach ein paar Menschen mit, wenn du das nächste Mal auf die Jagd gehst?“
Allgemeines Gelächter folgte dieser Frage. Ziana bemühte sich, nicht ärgerlich zu werden. Es gab immer einen Spaßvogel in der Klasse. „Weil sie unsere Welt nicht betreten können. Beantwortet das deine Frage?“
Der Spaßvogel tat so, als ignoriere er sie. Wenigstens hatte der Rest der Klasse aufgehört zu lachen. „Nun, eure Eltern haben den meisten von euch bestimmt schon von ihren Besuchen in der Anderen Welt erzählt.“
Einige der Schüler nickten, die meisten jedoch starrten weiterhin desinteressiert Löcher in die Luft. „Was haben sie denn so erzählt?“
Ziana forderte eine Schülerin in der ersten Reihe auf, zu antworten. „Meine Mutter hat gesagt, dass Menschen lecker schmecken.“
„Das ist alles?“
„Ja.“
Ziana konnte sich den Sarkasmus in ihrer Stimme nicht ganz verkneifen. „Wow. Noch jemand? Du vielleicht?“
Der angesprochene Junge zuckte mit den Achseln. „Mein Vater sagt, Menschen sind dumm. Er sagt, sie glauben nicht, dass es uns gibt. Stimmt das?“
Die letzte Frage klang durchaus interessiert. „Ja, das stimmt. Sie haben eine Menge Geschichten über uns erfunden. Die meisten davon entsprechen natürlich nur ansatzweise der Wahrheit. Aber die Menschen glauben, dass diese Erzählungen ein reines Produkt ihrer eigenen Fantasie sind. Es ist wichtig, dass das so bleibt, verstanden?“
„Warum?“
Ziana blickte die Schülerin an. Sie schien so langsam das Interesse der jungen Leute zu wecken. „Weil die Menschen nicht ganz so dumm sind, wie viele von uns glauben.“
Ein Schüler fragte laut: „Wieso sollte es denn etwas ausmachen, ob sie dumm sind oder nicht, wenn sie unsere Welt sowieso nicht betreten können?“
„Du hast Recht, das können sie nicht. Aber sie könnten sich andere Abwehrmaßnahmen ausdenken. Wie ihr alle wisst, sind wir in der Welt der Menschen so gut wie unsterblich. Was viele von uns jedoch nicht wissen, ist, dass es durchaus eine Möglichkeit gibt, uns zu töten: Enthauptung. Zum Glück für uns hat der normale Mensch selten eine dafür geeignete Waffe dabei. Aber was geschieht, wenn sie erkennen, dass es uns wirklich gibt? Dass wir sie jagen? Unsere Gelehrten sind der Meinung, dass die Menschen nicht herumsitzen und sich töten lassen werden. Auch sie haben Forscher.“
Ungläubiges Murmeln war die Antwort. Ziana ignorierte das. „Und was glaubt ihr wohl, was geschieht, wenn sie herausfinden, dass man uns auch in ihrer Welt töten kann?“
„Sie würden uns doch nicht etwa angreifen, wenn wir sie jagen? Meine Mutter hat gesagt, Menschen haben viel zu viel Angst, um so etwas zu wagen.“
„Das ist richtig. Menschen sind sehr ängstliche Wesen. Sie fliehen vor Gefahren. Aber wenn ihr sie in die Ecke drängt, und sie ihr Leben in Gefahr sehen, dann werden sie sich gegen euch wenden.“
Ein anderer Schüler meldete sich zu Wort. „Mein Vater hatte mal einen Mensch als Beute, der ins Wasser gesprungen ist und dabei ertrank. Er musste sich dann einen anderen zum Essen suchen.“
Ziana blickte den Jungen ernst an. „Das hätte er eigentlich nicht tun dürfen. Eines unserer Gesetze besagt, dass man nur den Menschen isst, den der große Herrscher für uns ausgewählt hat. Ist das aus irgendeinem Grund nicht möglich, dann isst man gar nicht.“
Mit einer Handbewegung erstickte sie die aufkeimende Unruhe. „Ich weiß, dass dies eines der Gesetze ist, an das sich die wenigsten von uns halten. Aber es hat durchaus seinen Sinn. Der große Herrscher sucht immer Menschen aus, die entbehrlich sind. Wenn wir diese Wahl selbst in die Hand nehmen, könnte das schreckliche Folgen haben. Ich weiß zum Beispiel, dass einige von euren Eltern schon einmal das Blut eines Kindes getrunken haben. Es soll besonders süß schmecken. Aber es reicht einfach nicht aus. Ihr müsstet zwei bis drei Kinder töten, um genug Blut zu bekommen. Und das würde das ganze Gleichgewicht der Natur durcheinander bringen. Ihr seht also, die Gesetze haben alle ihren Grund.“
Die Schüler schienen nicht allzu begeistert darüber zu sein. Es war ja auch nur zu verständlich, wenn ihre Eltern ihnen vorschwärmten, wie süß, wie vollmundig junges Blut schmeckte. „Bevor wir jedoch mit dem Unterricht beginnen, möchte ich euch von meiner zweiten Jagd erzählen, als Art praktische Einführung.“
Die Schüler sahen immer noch ziemlich desinteressiert aus, aber das war Ziana gewohnt. Sie begann einfach zu erzählen.
***
„Es war das zweite Mal in meinem Leben, dass ich vor dem allmächtigen Herrscher stand. Er saß auf seinem riesigen Thron aus schwarzem Marmor. Der Herrscher ist groß und dünn, und seine Zähne sind wirklich sehr beeindruckend. Seine Aufgabe ist es, uns unsere Beute zuzuweisen. Seine Augen waren auf die große Kristallkugel gerichtet. Dass Kristallkugeln Dinge zeigen, die man normalerweise nicht sehen kann, haben die Menschen ausnahmsweise einmal nicht bloß erfunden. Allerdings ist diese Kristallkugel wirklich groß, sie hat ungefähr den Durchmesser eines ausgewachsenen Vampirs. Sie ist in den Boden vor dem Thron eingelassen, damit der große Herrscher über sie hinweg seine Untergebenen ansehen kann. Ich wusste nicht, was er diesmal in der Kugel sah. Von meiner Seite aus war sie jedenfalls voll von milchig weißem Nebel. Andererseits stamme ich auch nicht aus dem Geschlecht des großen Herrschers. Ihr wisst bestimmt, dass nur jemand, der mit dem Herrscher blutsverwandt ist, die Gabe hat, in einer Kristallkugel in die Andere Welt sehen zu können.
Ich nehme nicht an, dass jemals einer von euch eine Audienz beim Herrscher hatte, richtig? Das dachte ich mir schon. Also, der Thronsaal an sich ist wirklich riesig. Die Menschen würden ihn wohl als Innenraum einer Kirche bezeichnen. Nur, dass bei den Menschen dort, wo sich im Saal des Herrschers der Thron befindet, etwas steht, das sie Altar nennen. In den Kirchen der Menschen finden Zeremonien statt, mit denen sie ihre Toten begraben. Interessant ist, dass sie ihre Toten in Särgen in die Erde einbuddeln. Die Frage, ob wir die Särge von den Menschen abgeguckt haben oder ob sie die Idee, ihre Toten darin zu begraben, von uns haben, konnten unsere Gelehrten noch immer nicht beantworten. Obwohl ich persönlich mir wirklich nicht vorstellen kann, wie Letzteres vonstatten gegangen sein sollte. Ich bezweifle, dass jemals ein Mensch einen Vampir in einem Sarg hat schlafen sehen. Außer Dracula vielleicht, aber der war sowieso ein wenig... ehm... ungewöhnlich.
Also, hm... wo war ich stehen geblieben? Ach ja, der Herrscher. Also, der starrte noch immer in die Kugel und rührte sich kein bisschen. Wenn ich ehrlich sein soll, fragte ich mich so langsam, ob er nicht in Wirklichkeit mit offenen Augen schlief. Andererseits wäre es wohl ziemlich unbequem gewesen, im Sitzen auf diesem harten Thron zu schlafen. Schließlich besitzt er ja bekanntlichermaßen den prachtvollsten Sarg, den eine einfache Vampirseele wie ich sich nur erträumen kann. So langsam bekam ich wirklich Hunger. Ich war ziemlich ungeduldig und fragte mich, wieso das so lange dauerte.
Es wurde schließlich langsam Nacht, und ich wollte endlich wissen, an welchem von den Menschen ich meinen Hunger stillen durfte. Es ist wirklich lustig, dass die Menschen in ihren Geschichten schreiben, dass wir Vampire jede Nacht frisches Blut brauchen. Sie wissen natürlich nicht, dass wir nur alle zehn Jahre das Blut eines Menschen trinken. Dieses war erst mein zweites Mal, dass ich die Welt der Menschen betreten durfte. Ich wusste nicht genau, wie spät es war, denn die Fenster des Thronsaales sind ja bekanntermaßen abgedunkelt. Aber ich hoffte wirklich, dass der Mond noch nicht aufgegangen war, denn ich wollte auf keinen Fall auch nur eine Sekunde meiner Zeit verschwenden.
Was ich übrigens auch sehr lustig finde, ist, dass die Menschen glauben, wir seien unsterblich. Allerdings leben die Menschen auch nur im Durchschnitt knapp achzig Jahre, daher kommen die dreihundert Jahre, die wir leben, einem Menschen wahrscheinlich doch ziemlich lange vor. Menschen glauben übrigens auch nicht, dass Vampire Kinder haben. Das kommt wahrscheinlich daher, dass ihr die Andere Welt erst betreten dürft, wenn ihr erwachsen geworden seid, bei euch also nächstes Jahr.
Oh, tut mir leid, ich schweife schon wieder ab. Also, als der Herrscher von seiner Kugel aufblickte, musterte er mich kritisch, um zu sehen, ob ich alle Gesetze befolgt hatte. Also seid vorsichtig! Wenn eure Kleidung nicht stimmt, dann fällt eure Reise in die Andere Welt aus. Ich hatte mir als Tarnkleidung blaue Jeans ausgesucht, die zu der Zeit bei den Menschen furchtbar in waren, dazu eine rot-schwarz karierte Bluse und braune Lederschuhe. Wirklich jeder in der Anderen Welt hätte mich in diesem Aufzug für einen Menschen halten – na ja, zumindest bis ich den Mund aufgemacht hätte und sie meine Zähne gesehen hätten... Schließlich nickte der Herrscher zustimmend, anscheinend genügte ich den gesetzlichen Anforderungen.
Diese ganzen neuen Gesetze mögen euch manchmal recht unsinnig erscheinen, aber sie sind durchaus wichtig. Unsere Gelehrten sind der Meinung, dass die Menschen zu viele Geschichten über Vampire erfinden und vielleicht irgendwann aus purem Zufall darauf stoßen, wo wir wirklich herkommen. Die Menschenkundler glauben, dass das ein ziemliches Chaos in der Anderen Welt verursachen würde. Die allgemeine Meinung ist, dass die Menschen sich wohl kaum leicht mit dem Gedanken anfreunden können, dass sie doch nicht ganz oben auf der Nahrungskette stehen.
Also, wo war ich... Der Herrscher hatte, seit ich den Thronsaal betreten hatte, nicht ein Wort verloren. Auch in diesem Moment sagte er nichts. Stattdessen verschwamm das Bild auf meiner Seite der Kristallkugel und wurde dann klar. Ich wusste, dass ich nur etwas erkennen konnte, weil der Herrscher es für mich sichtbar machte. Ich erkannte einen Mann, der auf einer Parkbank an einem kleinen See lag und schlief. Ich war natürlich nicht allzu begeistert, wie ihr euch sicherlich vorstellen könnt. Der Kerl war offensichtlich ein Penner! Jede Menge Alkohol im Blut und wahrscheinlich auch noch irgendwelche Drogen. Aber ich war auch noch jung. Ihr müsst wissen, je älter man wird, desto besseres Blut bekommt man zugeteilt. Also blickte ich den großen Herrscher etwas gequält an und zuckte dann mit den Schultern, als er nicht reagierte. Ich bedankte mich – vergesst das nur nicht, wenn ihr zum ersten Mal vor ihm steht! Dann ging ich um den Thron herum durch die schmale Tür, die dahinter verborgen ist. Erleichtert sah ich den Himmel an. Der Mond war zum Glück noch nicht zu sehen, auch wenn es schon dämmerte. Das wäre ja auch zu blöd gewesen, wenn unser Herrscher etwas von meiner kostbaren Zeit vergeudet hätte. Ich atmete genießerisch die frische Luft ein, dann setzte ich mich einfach mitten auf die Straße und wartete.
Was dann geschah, ist sehr bedeutungsvoll. Alle zehn Jahre an unserem Geburtstag, wenn der Mond aufgeht, verschwimmt die Grenze zwischen den Welten und man wird in die der Menschen gesogen. Lächelnd beobachtete ich den Himmel und wartete. Schließlich war es soweit. Ich sah den Mond, einen Halbmond, bleich und wunderschön. Und im gleichen Moment erfasste mich ein Strudel. Als mir das zum ersten Mal passierte, war ich wirklich ziemlich überrascht, das könnt ihr mir glauben. Auch diesmal war es wieder ein komisches Gefühl. Die Welt um mich herum verschwamm und es zog ein wenig in meinem Magen, aber nicht unangenehm.
Schließlich entstand die Andere Welt um mich herum. Ich stand in einer abgeschiedenen Seitengasse. An ihrem Ende konnte ich den Anfang des Parkes sehen, in dem der Herrscher mir den Penner gezeigt hatte. Es war schon dunkel. Ich atmete genüßlich die Luft ein – nur um gleich darauf beinahe an einem keuchenden Husten zu ersticken. Ihr müsst wissen, dass die Menschen ihre Luft unheimlich verpesten. Das kann unmöglich gesund für sie sein. Aber was wollen wir dagegen schon unternehmen? Hauptsache, sie schaffen es nicht, sich gegenseitig auszulöschen, das wäre wirklich fatal. Was das bei uns Vampiren für eine Hungersnot auslösen würde!
Ich verließ die Gasse und marschierte forsch zwischen den Bäumen entlang. Schließlich erkannte ich die Stelle des Parkes, die in der Kristallkugel zu sehen gewesen war. Es war mittlerweile völlig dunkel, aber ich erkannte noch immer die Umrisse des Mannes, der an diesem Abend meinen Hunger stillen würde. Ich blickte mich um. Zum Glück war weit und breit niemand sonst zu sehen. Ganz in meinem Sinne hatte der Mann eine Bank ausgewählt, die von der Straße aus schlecht einzusehen war. Ich beugte mich zu ihm herunter und öffnete meinen Mund, bereit, meine Zähne in seinen Hals zu schlagen. Dann tippte ich leicht seine Schulter an. Das wäre ja nun wirklich zu leicht gewesen, schließlich wollte ich etwas von meiner Jagd haben. Der Mann reagierte nicht. Ich schubste ihn nochmal, diesmal fester, immer noch meinen Mund weit aufgerissen und meine Zähne gebleckt. Schließlich sollte er sich ordentlich erschrecken. Der Mann öffnete dann auch zum Glück endlich seine Augen und sah mich ziemlich entgeistert an. Faszinierenderweise gibt er keinen Ton von sich. Stattdessen schloss er seine Augen wieder und schüttelte seinen Kopf hin und her. Dann öffnete er sie wieder. Als er erkannte, dass ich immer noch nicht verschwunden war, schlug er sich mit seiner Hand mehrmals gegen seinen Kopf. Ich verstand nicht ganz, warum er das tat, aber es sah schon irgendwie seltsam aus. Als sein Verstand dann endlich begriff, dass ich wirklich und wahrhaftig existierte, setzte er sich erschrocken auf. Er schrie laut auf und versuchte dann, wegzulaufen. Dummerweise hätte er dazu über die Lehne der Bank klettern müssen, weil ich ihm ja ansonsten im Weg gewesen wäre. Komischerweise schien er dazu aber nicht in der Lage zu sein, wohl aufgrund dieses äußerst seltsamen Zustandes, den die Menschen Suff nennen.
Fasziniert beobachtete ich, wie der Penner im Ausschnitt seines dreckigen braunen Hemdes kramte und schließlich ein Kreuz herausholte, das an einer Kette baumelte. Mit zitternden Händen streckte er es mir entgegen und murmelte etwas, das so klang wie: „Bleib mir vom Hals, Vampir!“
Na ja, oder so ähnlich. Aus irgendeinem seltsamen Grund sind die Menschen fest davon überzeugt, dass Vampire vor Kreuzen Angst hätten. Genauso wie vor Knoblauch oder Weihwasser. Ich finde, das ist eine äußerst faszinierende Vorstellung. In einigen ihrer Geschichten kommt auch etwas über Enthauptungen vor. Niemand weiß, woher sie das haben. Also, wenn euch bei eurer Jagd ein Mensch begegnet, der euch seltsame Gegenstände entgegenstreckt, seid nicht allzu sehr überrascht. Das kommt vor.
Der Mensch stotterte: „Bleib... weg von mir, Dracula, oder... was auch immer du bist!“
Diese unglaubliche, wahnsinnig faszinierende Fantasie der Menschen! Dracula! Graf Dracula! Als ob der jemals ein Graf oder Ähnliches gewesen wäre! Ich weiß wirklich nicht, wie er es geschafft hat, dass die Menschen ihm diesen Schwachsinn glauben. Habt ihr schon einmal etwas von Dracula gehört? Nein? Hätte auch nicht geglaubt, dass eure Eltern euch von ihm erzählen würden. Dracula jedenfalls gefiel es in der Welt der Menschen so gut, dass er beschloss, einfach dort zu bleiben. Das ist auch wirklich möglich – so lange man halt nicht in die Sonne geht. Soweit ich weiß, ist er dann auch in der Anderen Welt gestorben. Weil Vampire nun einmal altern und sterben, so ist eben der Lauf der Dinge. Und prompt – wie sollte es auch anders sein – behauptet ein Menschlein, es hätte den großen bösen unsterblichen Vampir getötet, und es ranken sich Geschichten um diesen Vampirmord, der nie passiert ist, und sie werden aufgeschrieben. Ich habe mal ein Buch darüber gelesen. Es war wirklich sehr spannend, auch wenn es natürlich nicht einmal ansatzweise der Realität entsprach.
Zurück zu meiner Geschichte. Dieser Mensch saß also vor mir auf der Bank, zitterte am ganzen Leib und wedelte mit seinem Kreuz vor meinen Augen herum. Seufzend entriss ich ihm das Kreuz mitsamt Kette, woraufhin er mich doch ziemlich entgeistert ansah, wobei er sich wohl fragte, wieso ich noch nicht zu Staub zerfallen war. Ich lächelte ihn freundlich an – schließlich konnte er ja nichts dafür, dass er als meine Nahrung ausgewählt worden war – woraufhin er anfing zu wimmern. Dieses Geräusch, wenn ein Mensch vor Angst wimmert, ist wirklich unglaublich aufregend. Es weckt den Jagdinstinkt. Ich freute mich wirklich darauf, mit diesem Menschlein zu spielen. Sie mögen den Anblick von Vampirzähnen überhaupt nicht. Wahrscheinlich sieht es für die Menschen in etwa so aus wie für eine Gazelle, kurz bevor sich die Zähne des Löwen in ihren Hals schlagen. Nur um das mal in den Worten der Menschen auszudrücken. Und wenn ihr mich jetzt fragt, was eine Gazelle oder ein Löwe ist, dann geht in die Schulbibliothek und seht im Buch „Die Nahrungskette aus Sicht der Menschen“, geschrieben vom Gelehrten Urquon, nach.
Es war wirklich faszinierend anzusehen, wie der Mensch langsam begriff, dass ich nicht zu Staub zerfallen würde und dann noch langsamer begann, über die Lehne der Bank zu klettern, in der Hoffnung, dass diese mich vielleicht davon würde abhalten können, sein Blut zu trinken. Arme dumme Menschen! Ihr habt bestimmt auch schon die ein oder andere Geschichte zu ihrem höchst interessanten Fluchtverhalten gehört. Irgendein armes Menschlein soll mal durch einen ganzen Fluss geschwommen sein, nur um festzustellen, dass die Hand, die ihm aus dem Wasser geholfen hat, die von dem Vampir war, vor dem er weggeschwommen war. Weniger amüsant ist die von dem Menschen, der einem von einfach den Kopf abgeschlagen hat. Es war wirklich schlau von ihm. Allerdings war das noch zu der Zeit, die die Menschen "Mittelalter" nannten. Da rannten sie nämlich noch mit Schwertern heru, was sie heute zum Glück nicht mehr tun. Jedenfalls, der arme Teufel, dem das geschah, brach sofort zusammen und starb. Merkt euch das, wenn ein Mensch irgendetwas wie ein Schwert bei sich trägt, dann ist er höchst gefährlich! Zum Glück lag sein Leichnam bei aufgehender Sonne noch im Freien, sodass die Sonnenstrahlen ihn wieder in unsere Welt zurückschickten. Ich möchte nicht wissen, was geschehen wäre, wenn die Menschen an seinem Körper eine Obduktion vorgenommen hätten.
Ich beobachtete jedenfalls amüsiert den Fluchtversuch des Penners vor mir. Mittlerweile hatte er es geschafft, ein Bein über die Lehne zu bekommen. Sehr zerstreuend, diese Menschen. Ihr müsst euch nur einmal die Zeit nehmen, sie ein wenig zu beobachten. Ich meinerseits könnte ihnen stundenlang beim Flüchten zusehen. Beim letzten Mal habe ich deshalb den Sonnenaufgang verpennt. Bevor ich mich versah, war ich wieder zurück in unserer Welt, und das, ohne etwas gegessen zu haben. Ich weiß nicht, was eure Eltern euch erzählt haben, aber man überlebt durchaus ein oder zwei ausgelassene Mahlzeiten. Es ist nur nicht so wirklich angenehm, 10 Jahre mit knurrendem Magen herumzulaufen.
Der Mann landete nach einiger Zeit dann auf der anderen Seite der Bank auf seinem Hosenboden, wo er sich schnell wieder aufrappelte und sich dann langsam rückwärts von mir entfernte. Ich lächelte noch einmal, woraufhin der Mann wieder wimmerte, sich umdrehte und anfing zu laufen. Eigentlich konnte man es nicht wirklich laufen nennen, es sah mehr so aus wie ein schnelles Torkeln. So gefiel mir das! Mein Jagdfieber hatte mich jetzt vollkommen gepackt. Jedenfalls machte es tierisch viel Spaß. Schließlich verschwand er in den Büschen. Ich folgte ihm in einigem Abstand. Das war ziemlich einfach, denn er verursachte einen ungeheuren Lärm. Ihm müsst wissen, die Menschen haben ein wesentlich schlechteres Gehör als wir. Ich dachte mir, dass er wahrscheinlich in eine Kirche laufen würde. Schon irgendwie seltsam, diese Menschen. Glauben wirklich, wir hätten Angst vor Kirchen!
Während ich ihm folgte, beobachtete ich die Nacht um mich herum. Ich sah meine Umgebung genau so, wie die Menschen sie am Tag sehen. Die Menschen sind nämlich am Tag aktiv und sehen in der Nacht eher schlecht. Das ist übrigens ein wesentlicher Vorteil für uns, wenn wir Jagd auf sie machen. Über mir flog eine Fledermaus. Wusstet ihr, dass die Menschen glauben, wir könnten uns in Fledermäuse verwandeln? Nein? Nun, unsere Gelehrten nehmen an, dass irgend so ein wirrer menschlicher Kopf einmal diesen ausgemachten Schwachsinn verzapft hat, und der ist dann anscheinend hängen geblieben. In der Anderen Welt gibt es Blutsaugerfledermäuse, die sowohl Tiere als auch Menschen anfallen. Im Allgemeinen wird angenommen, dass diese Vampirtheorie daher entstanden ist.
Aber zurück zur Geschichte. Lautlos schlich ich hinter ihm her durch die dunklen Gassen, und dreimal dürft ihr raten, welches Gebäude er betrat... Eine Kirche! Natürlich! Ich öffnete die große Kirchentür und stellte fest, dass wir zwei leider nicht alleine waren. Das ist wichtig, denn es ist noch eines der Gesetze: Niemals essen, wenn man beobachtet wird! Aber darum brauchte ich mir in diesem Fall keine Gedanken zu machen. Der Penner sah mich und seine Augen weiteten sich vor Schrecken, als er mich erkannte. Dann kreischte er laut auf und hetzte durch eine kleinere Tür im Seitenschiff wieder hinaus in die Nacht. Ich nickte dem anderen Menschen freundlich zu und folgte meiner Beute. Mittlerweile konnte ich seine Panik fast spüren. Es war wirklich toll, dieser Geruch von Angstschweiß, der in der Luft lag. Das müsst ihr euch einmal vorstellen! Dieses Wesen rennt vor euch weg und es hat Angst. Es ist der Panik nahe, weil es genau weiß, dass es verlieren wird, dass nur mit ihm gespielt wird. Dieses Gefühl ungeheurer Macht über ein anderes Wesen, das muss man wirklich mal erlebt haben!
Jetzt schweife ich doch tatsächlich wieder ab. Ich warf einen Blick auf den klaren Himmel. Tausend Sterne blitzten darin, aber ich fühlte, dass mir nicht mehr allzu viele Stunden bis zum Sonnenaufgang blieben. Ich fragte mich wirklich, wo die ganze Zeit schon wieder hin war. Sie vergeht irgendwie immer viel zu schnell bei der Jagd.
Ich trieb meine Beute durch die Nacht, immer auf seinen Fersen, bis unsere spaßige – zumindest für mich – Verfolgungsjagd in einer Sackgasse ihr Ende fand. Der Mensch war mittlerweile vollkommen außer Atem. Fast meinte ich, sein Herz klopfen zu hören. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Er stand mit dem Rücken zu einer Mauer, rechts und links waren zwei hohe Häuserwände. Ich lächelte ihn wieder an – mir gefiel dieses seltsame Wimmern, das er dann immer von sich gab – und bewegte mich langsam auf ihn zu. Seine Hände zuckten, aber mittlerweile hatte er schon alles an mir ausprobiert. Zuerst das Kreuz, in der Kirche hatte er Weihwasser mitgenommen, irgendwo in einer Mülltonne hatte er eine Knoblauchzehe ausgegraben, und jetzt gingen ihm augenscheinlich die Ideen aus. Dies ist der wahre Höhepunkt einer Jagd. Ich sah in seinen Augen, wie er resignierte. Wie er anerkannte, dass ich die Stärkere war. Schließt einmal eure Augen und stellt es euch vor. Ihr habt doch bestimmt schon einmal ein Bild von einem Menschen gesehen. Es ist eine Sache, einen Menschen zu überraschen und sofort zu töten. Das sättigt vielleicht, aber es ist langweilig. Nun stellt euch einmal vor, ihr habt eure Beute die ganze Nacht durch die Straßen gehetzt. Sie ist so verzweifelt, dass ihr es ihr ansehen könnt. Sie riecht nach Angst. Und sie weiß, dass sie keine Chance mehr hat. Dieser Sieg ist das, worauf es wirklich ankommt! Dieses Gefühl muss jeder für sich selbst erleben. Für mich jedenfalls war es das Großartigste, was mir je widerfahren war.
Schließlich war ich bei ihm angelangt, griff mit der einen Hand seinen Kopf und mit der anderen seine Schulter. Er wehrte sich, versuchte mich zu schlagen und mich von sich zu stoßen. Menschen sind jedoch viel schwächer als wir. Mühelos zog ich ihn zu mir, und endlich endlich schlug ich meine Zähne in sein weiches Fleisch. Etwas Blut spritzte heraus, bevor ich meine Lippen fest an seinen Hals legte. Genüßlich und langsam trank ich sein Blut. Ich wollte diesen Moment so lange wie möglich hinauszögern, ihn genießen. Der Mensch schien den Alkohol während unserer Verfolgungsjagd fast vollständig ausgeschwitzt zu haben, denn er schmeckte ziemlich gut. Glaubt mir, diesen Moment, in dem ihr zum ersten Mal Menschenblut auf euren Lippen spürt, werdet ihr nie mehr vergessen. Es schmeckt einfach köstlich, besser, als ihr es euch in euren kühnsten Träumen vorstellen könnt. Anfangs floss sein Blut nur so aus ihm heraus, sein Herz pulsierte und führte mir mühelos das Blut zu, das ich brauchte. Sein Körper zuckte, erst stark, dann wurde er schwächer. Das Blut floss jetzt langsamer, und auch sein Herz schlug nicht mehr so schnell. Mein Magen füllte sich. Ich sage euch, das ist wirklich ein einmaliges Gefühl! Nach zehn Jahren Hunger durfte ich endlich Menschenblut kosten! Aber selbst die schönsten Momente sind leider irgendwann einmal zu Ende, so auch dieser. Sein Herz hörte auf zu schlagen. Es war kein Blut mehr da, das es mir hätte geben können. Der Mann hing leblos in meinen Armen. Ich saugte noch ein wenig an seinem Hals, um auch den letzten Tropfen zu erwischen. Dann sah ich jedoch ein, dass der Spaß zu Ende war. Traurig ließ ich den leeren Körper zu Boden fallen. Ich betrachtete ihn eine Weile. Er war jetzt sehr bleich. Seine Lippen, die einmal rot gewesen waren, waren beinahe weiß. Er wirkte dünner als vor seinem Tod. Seine Augen starrten blicklos in den Sternenhimmel. Das Gesicht war noch immer angstverzerrt. Ich beugte mich zu ihm herunter und schloss seine Augen. Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass die Menschen das so tun. Ich wollte ihm die letzte Ehre erweisen, weil er mir so gut gedient hatte.
Dann stand ich wieder auf, holte ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und wischte mir damit das Blut von meinen Lippen und meinem Kinn. Da es mein allererstes Mal gewesen war, hatte ich damals noch nicht gewusst, dass das Blut der Menschen so sehr spritzt. Hätte ich es gewusst, wäre ich wohl vorsichtiger gewesen. Es ist viel zu kostbar, um auch nur einen Tropfen zu verschwenden. Merkt euch das! Dann nahm ich das Messer, das ich extra mitgenommen hatte, und schnitt dem Mann die Kehle durch, wobei ich sorgfältig darauf achtete, dass ich genau die beiden Bisslöcher traf. Hier greift nämlich ein weiteres Gesetz. Nach dem Essen müsst ihr entweder die Leiche verschwinden lassen, oder aber sie so zurichten, dass der Biss nicht mehr zu erkennen ist. Ein letztes Mal betrachtete ich kritisch mein Werk. Dann beschloss ich, dass ich dem Geheimhaltungsparagraphen Genüge getan hatte, und ging zurück zu der Bank, auf der alles angefangen hatte. Da setzte ich mich dann hin und wartete darauf, dass die Sonne aufging.
Mit den ersten Strahlen der Sonne spürte ich wieder den seltsamen Wirbel, und die Welt verschwamm um mich herum. Für jeden Menschen, der zufällig vorbeigekommen wäre, hätte es so ausgesehen, als hätte ich mich in Luft aufgelöst – oder als wäre ich zu Staub zerfallen, wenn man den Vampirgeschichten der Menschen irgendeinen Glauben schenken könnte. Aber in diesem Fall ist es nur zu verständlich, dass die Menschen auf diesen seltsamen Gedanken gekommen sind. In ihren Augen lässt der Anblick der Sonne uns verschwinden, wenn es auch auf eine doch etwas andere Art geschieht, als in ihren wirklich wundervoll fantasievollen Geschichten geschrieben steht. Schließlich erkannte ich wieder die Umrisse der Stelle, an der ich bei Mondaufgang verschwunden war. Mittlerweile war hier in unserer Dimension die Sonne aufgegangen. Schnell hastete ich nach Hause und machte es mir in meinem Sarg bequem. Als ich einschlief, hatte immer noch diesen leckeren Geschmack von menschlichem Blut auf den Lippen und ich konnte es kaum erwarten, in zehn Jahren wieder auf die Jagd gehen zu dürfen.“
***
Ziana blickte ihre Schüler prüfend an. Alle schienen gebannt an ihren Lippen zu hängen. Sie lächelte. Mit dieser Geschichte schaffte sie es doch jedes Mal, ihr Interesse zu wecken. „So, das soll für heute alles gewesen sein.“
Es entstand eine allgemeine Aufbruchstimmung. Laut rief Ziana in den Trubel: „Wenn euch meine Erzählung gefallen hat, dann solltet ihr das Buch „Wie man bei der Menschenjagd am meisten Spaß hat“ lesen. Es ist eine Studie von Zarkan dem Dritten, der zu der Zeit, die die Menschen das Mittelalter nannten, seinen Höhepunkt gehabt hat. Einen schönen Tag noch!“
In lautem Wirbel verließen die Schüler die Klasse.