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Die Irren, oder: Häschen in der Grube
Nico flüstert "Halt!", und ich bleibe stehen. Wir pressen uns eng an die Backsteinmauer, und ich murre leise: "Ich bleibe dabei, es war eine bescheuerte Idee!" - "Halt die Klappe", zischelt sie zurück.
'Page', sage ich mir, 'du bist ein absoluter Vollidiot, dass du bei dieser bekloppten Aktion mitmachst! Andererseits', und dass sagt jetzt ein anderer Teil von mir, ein Page, der nach Schweiß riecht und nach Trieb, 'andererseits wäre es absolute Vollidiotie, *nein* zu sagen, wenn einem ein Mädchen wie Nico anbietet, eine Nacht mit ihr zu verbringen- auch wenn der Sinn dieser Nacht darin besteht, eine antiquarische Reiseschreibmaschine aus einem verdammten Irrenhaus zu klauen, damit Nico darauf Gedichte schreiben kann.' Nico ist nämlich so eine Art Künstlerin. Vielleicht keine besonders gute Künstlerin, aber- 'Eine ziemlich sexy Künstlerin.
Ach! Halt die Klappe, Page', sage ich mir.
Nicos kurze, schwarze Haare kitzeln mich in der Nase. 'Sie riecht gut', denke ich. 'Verdammt gut', fügt Schweiß-Trieb-Page hinzu, aber ich beschließe, den Rest der Nacht nicht mehr auf ihn zu hören. - Nico hält plötzlich den Atem an; das weiß ich, weil sich keine kleinen Kondenswölkchen mehr vor ihrem Mund bilden, und weil ihr Busen sich nicht mehr gleichmäßig hebt und senkt. 'Was ist los?', überlege ich...
"Jetzt", höre ich sie da. Als ihre schlanke Gestalt sich schattengleich von der Mauer löst und ein paar Schritte in Richtung der Ecke schleicht, folge ich ihr.
Es ist eine kühle Nacht, denn es ist Herbst. Es sind keine Sterne da und vor dem Mond hängt eine ziemlich düster blickende Wolken - Gang, und deshalb ist es auch eine dunkle Nacht. Die Schrammen von unserer Klettertour durch die Hecke, die um das Irrenhaus herumläuft, brennen in der kalten Luft, aber ich lasse mir nichts anmerken- nicht vor Nico. Nein, und ich werde ihr sicher auch nicht zeigen, dass ich eine verdammte Angst habe vor diesem ganzen Ort, vor dem großen, eckigen Gebäude, dass wie ein Loch im Dunkel vor uns aufragt, vor den Aufsehern, die uns erwischen und verprügeln könnten- und vor den Irren selber. Manchmal kann man sie nachts schreien hören, richtig schreien- so ein Heulen wie von einem Tier, wie ein Monster. 'Scheiße, ich will nicht wissen, wie diese Leute aussehen.'
Noch ein paar Schritte, dann sind wir am Rand der Mauer des kleinen Backsteinschuppens angekommen, der einige Meter vor dem eigentlichen Irrenhaus liegt. Wir schleichen weiter, Nico voran. Dann schielt sie um die Ecke des Schuppens- "Alles klar", flüstert sie, und wir huschen mit weiten, möglichst leisen Schritten über den Sandweg auf das große Doppeltor des Hauptgebäudes zu. 'Hier schlafen jetzt die Irren', denke ich mir.
'Verdammt, und wir wollen da rein.'
Wir springen über ein niedriges Blumenbeet aus kläglichen, verkümmerten Vergißmeinicht - Blumen und stehen vor dem Hauptportal. Alles ist ruhig, niemand scheint uns gehört zu haben- keiner der Irren schreit, kein Aufseher patroulliert. Das Tor, vor dem wir halten, ist groß und aus dunklem Holz. Es ist mindestens drei Meter hoch und sieht ziemlich robust aus- kein Wunder, schließlich muss es ja die Irren drinnen halten...
"Und was jetzt?" - Ich blicke Nico erwartungsvoll an.
Sie wendet mir kurz das Gesicht zu, ihre furchtbaren grünen Augen schimmern wie die einer Katze. Ihr Lächeln ist triumphierend und wunderschön, als sie einen schwarzen Schlüssel aus einer Tasche ihrer zerrissenen Jeans zieht: "Jetzt- gehen wir da rein!"
Ich frage nicht, wo sie den Schlüssel aufgetrieben hat. Wahrscheinlich kommt er von da, wo sie auch immer diese bescheuerten Ideen findet...
Das große Doppelportal öffnet sich langsam, schrecklich langsam, den wir wollen um keinen Preis der Welt ein Geräusch machen. Vor uns liegt die Eingangshalle: ein großer, spärlich mobilierter Raum, ein langer, niedriger Gang geradeaus, eine ebenso bedrohlicher, dunkler nach links- und rechter Hand eine Tür, die in das Büro des Irrenhaus führt. "Da hin", flüstert Nico fast unhörbar. Wir schleichen mit leisen Schritten darauf zu, vorbei an einer Reihe Stühle, hinter denen große Topfpflanzen stehen.
Argwöhnisch betrachte ich die Gänge- ich weiß, einer von ihnen führt direkt in den Schlafsaal der Irren, oder in ein Einzelzimmer für irgendeinen Spinner mit Schaum vor dem Mund. Wenn gerade in diesem Moment-
Plötzlich bleibt Nico wie erstarrt stehen, so dass ich fast in sie hineinrassle, aber ich fange mich, schnappe nach Luft, und- da sehe ich es auch: direkt neben der Tür sitzt ein dürrer Mann auf einem der Stühle.
Mein Herz fängt wild an zu pochen, und ich möchte schreien, aber meine Kehle verkrampft sich vor Angst, so als hätten mich die langen, schmutzigen Finger des Irren schon gepackt- Er sitzt einfach da, im Schatten, den Kopf unnatürlich nach vorn hängend, und stinkt ziemlich, so wie jemand, der sich nie die Zähne putzt. Man hört ihn kaum atmen, er scheint sich überhaupt nicht zu regen; aber ich kann sehen, dass seine Arme lang und sehnig sind, unter der bleichen Haut kann man das Blut unregelmäßig pulsieren sehen, seine narbenübersäten Finger sind krallengleich gebogen-
'Oh mein Gott', denke ich.
Nico kichert plötzlich leise. "Er schläft", flüstert sie mir zu. "Der Spinner sitzt da und pennt."
Ich atme erleichtert aus- und schäme mich plötzlich, in Gegenwart Nicos so verdammt ängstlich gewesen zu sein. Und deshalb frage ich sie auch nicht, warum dieser Irre mitten in der Nacht auf dem Gang 'rumsitzt, statt im Bett angeschnallt zu sein.
Sie schleicht leise wie eine Raubkatze an dem schlafenden Irren mit dem merkwürdig hängendem Kopf und dem fast unhörbaren Atem vorbei. 'Keine Angst, diese Mädchen', denke ich, dann folge ich ihr auf Zehenspitzen zur Tür des Büros, die glücklicherweise nur angelehnt ist. Nico öffnet sie vorsichtig, aber sie knarrt trotzdem ein wenig- angstvoll werfe ich dem Irren, der keine zwei Meter weiter sitzt und schläft, einen misstrauischen Blick zu.
Er bleibt still, und auch die Gänge liegen ruhig da, nur dunkel, viel zu dunkel...
Wir betreten das stockdunkle, kleine Büro, und ich schließe sofort leise die Tür hinter uns und lege die Kette vor. Als unsere Augen beginnen, sich an das fast vollständige Dunkel zu gewöhnen, lässt sich uns gegenüber der Schemen eines großen Sekretärs voller altertümlicher Schreibinstrumente und Apparaturen erkennen. Nicos schlanke Gestalt stürzt sich aber blitzschnell auf eine Nische, in der ich undeutlich einen kleinen Tisch erkenne, kurz sehe ich Metall aufblitzen- das muss die Schreibmaschine sein, das verdammte Miststück, um dessenwillen wir hier hergekommen sind. "Ich habe es", flüstert sie mit vor Erregung heiserer Stimme.
Ich taste mich durch den Raum auf sie zu und betrachte sie dabei fasziniert, wie sie da steht, ihr Körper verschmilzt mit den Schatten und Schemen, aber ihre weiblichen Formen- Verdammt! - ich unterdrücke einen Aufschrei, als ich in eine klebrige Flüssigkeit und in ein Stück menschlicher Haut fasse. Scheiße, hier liegt eine verdammte Leiche vor mir-
Nico blickt ebenfalls mit schreckensgeweiteten Augen zu dem großen, stillen Körper, der vornübergebeut auf dem Sekretär liegt. Bei meinem Zurückschrecken habe ich denn Körper angestoßen, und die Flüssigkeit tropft auf den Boden, in kleinen, regelmäßigen Tropfen-
Tropf-
Tropf-
Tropf-
Von der Tür her höre ich ein tiefes, bröckeliges Stöhnen, ein drohendes Röcheln, und dann, fast im Einklang mit dem tropfenden Blut, ein gleichmäßiges, langgezogenes Kreischen, leise, wie von Fingernägeln, die auf Holz kratzen-
"Der Irre", flüstert Nico mit zitternder Stimme, "hat den Verwalter erschlagen und sich vor die Tür gesetzt und jetzt-"
Ich überlege fieberhaft: 'Der Irre- mit diesen langen Krallenfingern hat er den Typen getötet, mit diesen Krallenfingern kratzt er jetzt an der Tür- Verdammte Scheiße. Ich will nicht sterben.' - Ich zittere.
Mit einem Male verstummt das Kratzen an der Tür. Nun ist wieder nur das Tropfen hörbar,
Tropf-
Tropf-
Dieses Geräusch ist noch schrecklicher als die Drohung des Kratzens. 'Dieser Irre wird mir die Kehle herausreissen, mich zerfetzen, wenn ich ihm in die Finger komme', denke ich mir. 'Diese Klauenfinger legt er um den Hals, oder er schlägt damit zu, schnell und unberechenbar, und Knochen splittern, MEINE Knochen, warum habe ich mich auf so etwas Beklopptes eingelassen?, warum, warum-'
Ich fühle mich wie ein Häschen in der Grube.
Als ich Nico verzweifelt anblicke, ist ihr Gesicht im Dunkel verborgen. Ich kann nur hören, dass sie ein Schluchzen unterdrückt, ein Weinen.
Und plötzlich dreht sich der Türknauf direkt neben meiner Hüfte.
Der Irre auf der anderen Seite hat den Griff in seinen unförmigen Fingern und versucht, die Tür zu öffnen.
Er dreht den Knauf, zieht dann langsam an der Tür- ich stehe kurz wie erstarrt daneben, dann packe ich den Türknauf und versuche, mit aller Kraft dagegenzuhalten.
Wieder erklingt das tiefe Stöhnen, diesmal direkt gegenüber der Tür.
Während die Holztür stückweise aufgezogen wird, nach aussen, einen Spaltbreit erst, dann immer mehr, merke ich, das der Irre viel stärker ist als ich.
Und als gleichzeitig auf einmal auch wieder das Kratzen ertönt, weiß ich, dass der Irre auf der anderen Seite nur mit EINER Hand zieht.
'Diese Finger', denke ich, und plötzlich ist die Panik größer als alle Vernunft, 'fliehen!', ich springe zurück, stolpere gegen den Sekretär, fange mich wieder in eine Ecke und-
Der Irre hat die Tür so weit aufgerissen, wie die geschlossene Kette es zulässt; und in diesen handbreiten Spalt zwängt er plötzlich seinen Kopf, und eine widerliche Sekunde lang blickt mich die Monsterfratze an.
Es ist ein unmenschlich verzogenes Gesicht: die rechte Hälfte wirkt langestreckt, wie ein verzweifelt Flehender, der die Hände zum Himmel reckt, aber- vergeblich!; die Linke scheint zusammengestaucht unter der Last eines furchtbaren, überweltlichen Gewichts; die Nase ist ebenso verdreht, auch die Stirn, der zahnlose, sabbernde Mund; und in der Mitte zwei Augen- die nichts, garnichts Menschliches mehr zu enthalten scheinen- zwei kleine, punktförmige Augen, ganz Nacht und gelb, wirr, tierisch-
Nico springt vor und stößt dem Irren den schwarzen Irrenhausschlüssel mitten ins rechte Auge. Ich stehe daneben, hechelnd, beobachte nur undeutlich, wie der Irre zurückweicht, wie Nico die Tür zuwirft- vor meinen Augen tanzen diese gelbschwarzen Löcher, diese wahnsinnigen Augen. 'Scheiße, verdammt! Ich will hier weg!'
Ich schließe die Augen, will ein stummes Gebet flüstern, doch hinter meinen Lidern sehe ich nur diese wahnsinnigen Augen.
Und auch, als ich wieder aufblicke, sehe ich sie noch, die Augen sind vor mir, hinter mir, in mir- nur in Nico nicht, die ihr ganzes Gewicht an die Tür hängt, ihren ganzen schönen Körper-
Und dann klärt es sich ein wenig. 'Ruhig, Page', denke ich.
Draußen hören wir den Irren krächzen, stöhnen- schmerzvoll, und ich höre wieder dieses Drohende in den tierischen Lauten. Aber es entfernt sich, verdammt, der Irre flieht- flieht!
Langsam, mit unregelmäßigen Schritten schlurft er den Gang entlang, stöhnend, sabbernd.
In ihre Richtung sage ich leise: "Danke, Nico... Ich.." -dann denke ich: 'Meine Güte, Page, krieg' deine Gedanken klar.' - Sie atmet stoßweise, flüstert mir gepresst zu: "Heb' die Schreibmaschine auf, Page, wir müssen hier weg!" - "Jetzt? Du willst da raus zu diesem verdammten Tier?" - "Ich will nicht mit einer Leiche zusammen eingesperrt sein!"
Scheiße.
'Ich auch nicht, Nico', denke ich. 'Am liebsten wäre ich erst überhaupt nicht mitgekommen. Du hättest deine Scheiß - Tour alleine machen können, dich von deinen verdammten Scheiß - Irren selbst fressen lassen können!' - Aber dann sehe ich wieder ihren wundervoll weiblichen Körper vor den dunklen Schemen des Raumes, und ich schlucke meinen Zorn hinunter, dränge die Angst und diese schrecklichen Augen einen Moment beiseite und bücke mich nach der Schreibmaschine.
Nico lauscht an der Tür. "Nichts zu hören- nicht dieser Typ." Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube ihr. Und tatsächlich ist das Stöhnen und Schlurfen verstummt.
"Fertig?" - "Fertig."
Sie hakt die Kette aus und öffnet zaghaft die Tür. Draußen- nichts; wir treten einen Schritt in den Flur, ich die schwere Schreibmaschine in den Händen, sie den schwarzen Schlüssel. Nichts; noch ein Schritt vor-
Und dann schreien wir gleichzeitig kreischend auf. Der Irre sitzt still und verkrümmt auf dem Stuhl, auf dem er schon bei unserer Ankunft saß, regt keines der dürren Glieder. Sein Kopf ist über und über mit dunklem Blut bedeckt, das Auge zerstört und zerrissen. Wir schreien, und da hebt der Irre einen langen Klauenarm und geift nach Nico- In diesem Moment höre ich hinter mir ein Rumpeln, ein Krächzen, ein Husten, ich blicke mich um- der Körper hat sich vom Sekretär erhoben, ein wuchtiger, kranker Mann, ein wirrer Gesichtsausdruck, getrocknetes Blut auf seinem Hemd. Er steht da, schaut mich an, öffnet dann den Mund, hustet nocheinmal, "Was ist das für ein Lärm!", lallt er-
und da schreit Nico wieder. Der Irre hat ihr Handgelenk gepackt und schaut aus seiner Gesichtsruine zu ihr auf. Und plötzlich schweigt sie.
Hinter mir der Tote, vor mir der Irre, ich packe die Schreibmaschine, 'Page, Jetzt!', sagt Schweiß - und - Trieb - Page, ich hebe sie und schmettere sie mit aller Kraft auf den Schädel des Irren.
Haut, Knochen, Splittern, Brechen, Zerreissen, Vernichten, "NEIN!", brüllt Nico, "NEIN!" brüllt der Nicht - Tote. "Er wollte nur...", beginnt Nico. Der Kopf des Sitzenden ist zerbrochen, vollkommen zerstört, Blut und Widerlicheres. Ich blicke mich nocheinmal nach dem Typen aus dem Büro um, er steht noch immer hinter dem Sekretär, in seiner Hand hält er eine Flasche Whiskey, sein Mund steht offen, ich packe Nico mit dem einen Arm, die Schreibmaschine unter dem anderen, dann laufe ich.
- o -
Am übernächsten Tag zeigt Nico mir einen Zeitungsartikel und ein neues Gedicht. "Kaltgrünes Gewürme, verschleiert und stumm, wir brechen die Bahnen, die Rücken, noch krumm, heben sich wieder, die..." - Und so weiter. 'Hat es sich dafür gelohnt?', frage ich mich. 'Nico ist wahrscheinlich wirklich keine besonders gute Künstlerin. Naja- aber trotzdem sexy...
Hm.'
In dem Zeitungsartikel steht, dass der Irre, wie Nico vorgestern Nacht in der letzten Sekunde noch vermutet hatte, harmlos war, wirklich harmlos; er war ein Demenzkranker, der Opa von irgend einem dämlichen Typen die Straße runter, ein Verdummter, der einfach gerne Leute berührte. Na, jetzt ist er tot, und ich habe einige Gewissensprobleme. Die wirklichen Probleme hat aber der betrunkene Bürotyp; seinen Aussagen wurde natürlich kein Glauben geschenkt, wir sind nicht gefährdet. Er wird jetzt für den Tod des Irren verantwortlich gemacht; Fahrlässigkeit, was weiß ich; na, und auch die Ärzte, die die selbstzerstörerischen Tendenzen des Irren nicht erkannt haben, der sich an irgendeinem Möbelstück den Schädel eingeschlagen hat.
Eigentlich war er das Häschen- und wir sind eingedrungen in sein Heim, brachen seinen Schädel...
'Nico', denke ich, 'ist eigentlich trotzdem ganz in Ordnung. Vielleicht keine besonders gute Künstlerin... Aber in Ordnung. Na, und hübsch.
Ziemlich hübsch...
Klappe, Page.'