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Die Insel

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07.11.2002
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Die Insel

In wilder Hast strampelte er auf seinem Fahrrad den Hang hinunter, bis er am Ufer eines Sees angekommen war. Dort ließ er sein Rad fallen, lief ein paar Schritte zum Wasser hinunter und blieb dort abrupt stehen. Seine Fäuste hielt er geballt, mit festem Blick starrte er auf die glitzernden Fluten. Warum er? Warum mußte ausgerechnet er immer das Ziel von Sebastian sein? Sebastian... Zwei Jahre älter, größer und vor allem stärker. Stärker jedenfalls als er selbst, der schmächtige Drittklässler mit dem strubbeligen dunklen Haarschopf. Diesmal hatte Sebastian nach dem Unterricht auf ihn gewartet und ihn am Fahrradständer abgefangen. Er hatte schweigend sein Rad genommen, hatte versucht, den größeren Jungen zu ignorieren, doch es hatte nichts genutzt. Schultasche und Rad waren in den Staub gefallen, als Sebastian das erste Mal zutrat...

Zornig wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen und versuchte, Sebastian aus seinem Kopf zu verbannen. Hier, an diesem See, durfte es einfach keinen Sebastian geben, dies war allein sein Lieblingsplatz. Hier war die Schule und alles andere weit weg. Er blickte auf die kleine Insel, die inmitten des Sees vor ihm lag. Es war nur eine kleine Insel mit sandigen Ufern und einigen Bäumen bestanden. Kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, darin etwas besonderes zu sehen - bis auf den Jungen. Diese Insel war ganz allein seine! Und nur er wußte, wie man dorthin gelangte. Sein Blick senkte sich auf den Boden. Dort lagen einige abgebrochene Äste, die er aufhob. Ein paar Schritte weiter gab es noch mehr von ihnen, auch die sammelte er zusammen und begann, was er hier schon so oft getan hatte. In den Tiefen seiner Hosentaschen fanden sich die verschiedensten Dinge - ein paar Glasmurmeln, ein Plastikdinosaurier, ein kleines Taschenmesser und zwei kleinere Wollknäule. Eines der Knäule und das kleine Messer nahm er heraus, den Rest steckte er zurück. Dann legte er Ast für Ast aneinander und band sie mit der Wolle fest, Stück für Stück wuchs sein Werk. Zum Ende befestigte er ein großes Blatt an einem langen, dünnen Zweig und steckte ihn zwischen die Äste. Ein Lächeln glitt über die Züge des Jungen, als er es ins Sonnenlicht hob. Es war ein kleines Floß, gekrönt mit einem grünen Blattsegel. Vorsichtig trug er es zum Ufer und setzte es auf das Wasser. Erst stieg es nur mit den kleinen Wellen auf und ab und Wasser drang manchmal durch die Lücken zwischen den Ästen. Doch nach einem Anstoß verließ es die Nähe des Ufers und dümpelte in Richtung Insel. Der Junge sah hinterher, blieb im Schneidersitz am Ufer sitzen. Vergessen war aller Ärger, vergessen war sein Fahrrad.

Er schloß die Augen und saß plötzlich nicht mehr am Rand des Sees. Statt dessen fühlte er die Holzbohlen unter sich, naß und kalt. Er hielt die Nase in den Wind. Über ihm blähte sich knatternd ein riesiges, grünes Segel. Mit einem Paddel versuchte er die Richtung zu halten. Es war nicht einfach, Wind und Wellen trieben ihn immer wieder ab, doch er gab nicht auf. Er schmeckte Salz auf seinen Lippen und lachte. Der Ozean würde ihn nicht von seinem Ziel abbringen; zu vertraut war ihm der Umgang mit Paddel, Segel und Wellen. Mochte es auch noch so sehr Widerstand leisten, er würde doch den Sieg davontragen. Und tatsächlich - plötzlich stoppte die schwankende Fahrt, als das Floß von einer Welle an das Ufer der Insel gespült wurde. Er sprang hinunter, die nackten Füße berührten sonnenwarmen Sand. Tief sog er die Luft ein. Es roch nach Sonne, Salz und Abenteuern. Den Weg, den er jetzt einschlug, war er schon unzählige Male gegangen, auch diesmal fand er ihn ohne Schwierigkeiten. Hinweg über Steine, umgestürzte Bäume und raschelndes Laub, auf zur Mitte des mystischen Eilands. Papageien, Affen und andere exotische Tiere erfüllten den dichten Wald um ihn herum mit fremdartigen Geräuschen. Er lächelte. Dies war sein Reich, hierher konnte ihm nicht einmal der ärgste Feind folgen. Seine Schritte beschleunigten sich in freudiger Erwartung, bis er schließlich rannte. Dann hatte er erreicht, was er suchte. Vor ihm breitete sich eine Lichtung aus, in deren Mitte sich ein riesiges, steinernes Bauwerk erhob. Es mußte schon sehr alt sein, denn Ranken und Lianen bedeckten teilweise die verwitterten Steine. Einst waren geheimnisvolle Zeichen in sie eingemeißelt worden, doch sie waren kaum noch zu erkennen oder gar ganz verschwunden. Und dennoch war deutlich, was dieses Bauwerk darstellte - zwei mächtige Säulen, gebildet aus massiven, behauenen Felsblöcken trugen einen länglichen, quer darüberliegenden Stein. Ein Tor. Der Junge nannte es das 'Tor der tausend Welten', denn genau das war es für ihn. Überschritt er die Schwelle, war er nicht mehr länger auf dieser Insel, sondern in einer weit entfernten, geheimnisvollen fremden Welt, die immer wieder ihre Gestalt ändern konnte. Er wußte nie, was ihn in jener Welt erwartete. Würde er Einhörner sehen? Würde er als Freibeuter über die endlosen Ozeane segeln, mit einer tapferen, kampferprobten Mannschaft? Vielleicht nahmen ihn auch die Elfen mit in ihr Reich oder er würde die riesigen Steinhöhlen der Trolle wiedersehen. All das konnte Wirklichkeit werden, wenn er erst einmal eingetreten war. Tief holte er Luft und stellte sich direkt vor das Tor. Ein Schritt fehlte noch. Er schloß die Augen und machte ihn.

Wärme umfing ihn. Doch es war eine andere Wärme als die der Sonne, die er vorhin gespürt hatte. Er öffnete die Augen. Vor ihm befand sich ein riesiger Kamin, in dem ein großes Feuer knisterte. Ein gewaltiger, dunkelroter Sessel mit einer hohen Lehne stand davor, und auf dem kleinen Tisch daneben lag ein aufgeschlagenes Buch. Er drehte sich um und sah sich mit offenem Mund um. Der Raum, in dem er sich befand, war nicht groß, dafür aber unheimlich hoch, wie ein Turm. Und wo er auch hinsah, entdeckte er Regale. Regale, vollgestopft mit Büchern der verschiedensten Art. Dicke, ledergebundene Wälzer standen neben beinahe zerfledderten Taschenbüchern oder gar losen Blattsammlungen, zwischendurch gab es auch schon mal den bunt bedruckten Rücken eines Bilderbuches zu sehen. Der Junge blickte an den Regalen hinauf, doch dieser Raum schien keine Decke zu besitzen. Weit über ihm verloren sich die Bücher in der Dunkelheit.
"Das sind alle Geschichten dieser Welt.", sagte plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihm.
Erschrocken drehte er sich um. In dem Sessel vor dem Kamin saß ein alter Mann. Er trug eine grüne Strickjacke, hatte einen dichten, grauen Bart, und auf seiner Nasenspitze saß eine kleine Brille mit Silberrand. Während er den Jungen ruhig ansah, stopfte er eine große, braune Pfeife.
"Alle... alle Geschichten?" fragte der Junge und ging einen vorsichtigen Schritt auf den Mann zu.
"Alle Geschichten, die es gibt. Alle, die jemals auf dieser Welt geschrieben und erzählt wurden. Sie kommen alle hierher, zu mir."
"Und was passiert dann hier mit ihnen?"
"Ich lese sie."
"Du hast wirklich alle diese Bücher gelesen? Wirklich alle? Dann kannst Du ja gar nichts anderes tun.", stellte der Junge fest.
"Aber ich will doch gar nichts anderes tun. Ich bin zufrieden damit, alle Geschichten zu kennen und sie hier zu sammeln. Es gibt sogar eine Geschichte über Dich, mein Junge. Möchtest Du sie hören? Komm, setz Dich, dann lese ich sie Dir vor."
Der Junge ließ sich neugierig auf dem weichen Teppich vor dem Kamin nieder, während der alte Mann das Buch auf den Schoß nahm und seine Brille zurecht rückte.


Zwanzig Jahre waren mittlerweile vergangen. Zwanzig Jahre, in denen der Junge von einst herangewachsen war und den See fast vergessen hatte. Heute - er wußte nicht einmal, warum - hatte es ihn wieder zu seinem Platz gezogen. Einiges hatte sich verändert in all der Zeit. Ein Campingplatz war unweit von ihm entstanden. Er selbst stand auf einem Bootssteg, über sich ein Schild mit der Aufschrift 'Bootsverleih', den es damals auch nicht gegeben hatte. Im Wasser um ihn herum schaukelten bunt angestrichene Holzboote im Wasser, die Paddel auf den Ruderbänken abgelegt. Doch er sah die Boote nicht. Sein Blick war wie vor langer Zeit auf jene kleine Insel gerichtet, die ihn durch seine Kindheit begleitet hatte. Seit er hier stand, war seine einstige Abenteuerlust wieder erwacht. Es war möglich, was er sich früher lediglich erträumt hatte: Kein kleines, ungeschickt gebasteltes Holzfloß, sondern ein stabiles Holzboot konnte ihn hinüberbringen an jene sandigen Ufer. Dorthin, wo die Träume seiner Kindheit Gestalt bekommen hatten. Die Sonne wurde von den kleinen Wellen reflektiert und blendete ihn. Ein leichter Wind ließ die Blätter in den Bäumen hinter ihm rascheln. Wie vertraut war ihm all das noch, selbst nach so vielen Jahren! Sollte er es wagen? Die Strecke war nicht lang, er konnte in einer Viertelstunde drüben sein. Abenteuer fielen ihm eins ums andere ein; Feen, Piraten, wilde Tiere und unermeßliche Schätze waren wieder zum Greifen nah, als hätte er sich erst gestern von ihnen verabschiedet. Was würde er heute entdecken? Er spürte die Sehnsucht nach jenem Ort an sich zerren wie einen alten Schmerz, den man zwar kaum spürte, aber nie so richtig losgeworden war. So viele Erinnerungen...

"Wie sieht's aus, junger Mann? Wollen Sie nun eines der Boote haben?"
Lächelnd dreht er sich zum Besitzer des Bootsverleihs um, der ihn angesprochen hatte.
"Nein, ich glaube, ich habe es mir anders überlegt."
Er verließ den Steg, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein Weg zurück führte ihn am Ufer entlang, als seine Finger ein Stück Paketschnur in einer Tasche erfaßten. Er erinnerte sich, heute morgen hatte er es gedankenverloren eingesteckt, nachdem er das angekommene Paket geöffnet hatte. Er warf einen Blick zur Insel hinüber. Nein, er brauchte kein Ruderboot, er kannte den Weg zu diesem Ort...

 

Schön, wenn sie Dir gefallen hat.

Diese Geschichte ist die erste, die den Anspruch erheben kann, jemandem gewidmet zu sein und für ihn hoffe ich wirklich, daß der kleine Junge von einst den Weg zu seiner Insel nicht vergessen hat.

Daya

 

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