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Die Insel
Ich wachte auf und eine vage Erinnerung versuchte, sich in mein Bewusstsein zu drängen, doch sie entflog mir wieder. Langsam richtete ich mich auf. Ich saß auf einem steinernen Sockel, der ein kaltes, graues Licht abgab. Es beleuchtete eine beengte Grotte, dessen Wände mit verblichenen Malereien und groben Mosaiken von geflügelten und gehörnten Menschen bedeckt war. Ich stand auf und wäre fast auf die verwelkte weiße Rose getreten, die am Fuße des Sockels lag. Erneut war da eine Erinnerung, ein Schrei, der in meinem Kopf widerhallte und ein Mann, der mich anstarrte. Es war etwas geschehen, etwas Wichtiges. Ich versuchte aus den Eindrücken ein Bild zusammenzusetzen, doch es blieb verschwommen. Seufzend schritt durch den quadratischen Ausgang. Spärliches Sonnenlicht fiel durch einen mit Efeu bewachsenen Laubengang. Blinzelnd trat ich durch die massiven Säulen, die den Gang stützten und fand mich zwischen hoch gewachsenen Zypressen wieder.
„Willkommen!“, begrüßte mich eine kratzige Stimme.
Ich fuhr herum und erblickte einen alten Mann, der, angelehnt an einen Baum, vor mir saß. Langsam erhob er sich, wobei sich sein Gesicht vor Schmerzen verzog, was seine tiefen Falten betonte. Als er endlich stand, nahm er sich das dicke, in Leder gebundene Buch, welches ebenfalls am Baum lehnte, und hielt es wie ein neu geborenes Kind.
„Was …, was ist das für ein Ort?“, fragte ich ihn unsicher.
„Deine Heimat“, antwortete er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
„Nein“, sagte ich „Ich lebe…“ Bilder betraten mein Bewusstsein und verließen es wieder. Ein Wald, ein Weizenfeld, ein altes Haus, ein Junge und ein Mädchen, an mehr konnte ich mich nicht erinnern. Verwirrt schaute ich den Mann an.
„Du wohnst hier. Jeder andere Ort ist vergangen, dies ist nun deine Welt.“
Das Lächeln war verschwunden.
„Aber…“
Eine Frau trat zwischen den Zypressen hindurch.
„Du bist endlich wach!“, rief sie freudig „Wir haben schon auf dich gewartet!“
Sie ließ die Geige mit zerrissenen Saiten, die sie in der Hand hielt, fallen und umarmte mich stürmisch, wobei ihr faltiges Kleid durch die Luft wehte. Vorsichtig schob ich sie von mir.
„Wer seid ihr überhaupt?“, fragte ich verwundert.
„Deine Familie! Wir sind deine Eltern und deine Geschwister!“, sagte die Frau mit einem breiten Grinsen auf dem undefinierbar schönem Gesicht. Ich suchte in meiner Erinnerung nach irgendeinem Gegenbeweis, irgendeinen Grund, um ihr zu widersprechen, doch da war nichts.
„Geh mit ihr“, meinte der alte Mann und deutete auf die Frau, „Sie wird dir alles zeigen.“
Sie versuchte, sich bei mir unterzuhaken, doch ich wich zurück.
„Nein! Ihr versteht nicht. Ich gehöre hier nicht hin. Ich kann mich bloß nicht erinnern. Es wird zurückkommen, ich brauch bloß ein wenig Zeit, dann…“
„Doch, wir verstehen!“, unterbrach mich die Frau und griff nach meinem Arm. Wieder wich ich zurück.
„So erging es uns allen einmal. Die Erinnerungen werden verschwinden. Du wirst hier glücklich werden. Alle werden hier irgendwann glücklich! Komm mit, ich werde dich den Anderen vorstellen.“
Ich blieb, wo ich war.
„Du kannst uns vertrauen. Aber du musst ihr jetzt folgen!“, sagte der alte Mann streng und schob mich grob in Richtung der Frau. Ich schubste ihn von mir. Unbeholfen stolperte er zurück, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den steinernen Boden des Laubenganges. Entsetzt kreischte die Frau und stürzte sich auf mich. Überrascht versuchte ich ihr auszuweichen, doch ohne Erfolg. Sie kratze mir übers Gesicht und krallte sich in meinen Rücken. Ich packte ihre Schulter, schleuderte sie von mir, drehte mich um und rannte davon, tiefer in den Zypressenwald hinein. Bei einem Blick über die Schulter sah ich, dass die Frau mich nicht verfolgte, sondern den alten Mann wieder auf die Beine half. Ich lief weiter, bis ich nur wenige Augenblicke später überrascht anhielt. Ich hatte den Wald schon wieder verlassen und stand vor einer schmalen Wendeltreppe, die in eine steile Felswand geschlagen war. Neben ihr befanden sich mehrere kleine Grotten, in dessen Mitte ein massiver Sockel stand. Sie sahen fast genauso aus, wie die, in welcher ich erwacht war, die Bilder an den Wänden schienen dieselben zu sein, selbst die Rosen lagen an der gleichen Stelle, allerdings spendete der Sockel kein mattes Licht und sie waren alle leer. Erneut blickte ich zurück. Zwischen den Bäumen konnte ich immer noch die seltsame Frau und den Mann erkennen, welche nun langsam in meine Richtung gingen. Ich entschied mich dazu, von ihnen fernzubleiben, und begann die Treppe hochzusteigen. Plötzlich sah ich ein Auto auf mich zukommen. Ein Mann schrie auf und starrte mich entsetzt an. Ich spürte Blut meinen Rücken hinunter laufen. Die Szene ging wieder so schnell, wie sie gekommen war. Verzweifelt versuchte ich, sie in mein Gedächtnis zu brennen, doch sie wurde immer unschärfer, bis ich nur noch den Schrei hörte.
Ein salziger Geruch brachte mich zurück in die Realität. Ich hatte die Spitze der Treppe erreicht. Die Felswand, auf der ich stand, stellte sich als weit weniger massiv heraus, als ich von unten vermutet hatte. Sie war höchstens fünf Meter breit und so eben, als wäre sie aus Beton gegossen. Zu meiner Linken befand sich der Zypressenwald, der in einer Art Innenhof aus Grotten übersäter Wände eingeschlossen war. Zu meiner Rechten war das Meer, das diesen Ort umgab. Es wurde nur durch eine kleine Bucht in den Innenhof gelassen, wo die Felswand eine Lücke aufwies. Ich ließ meinen Blick über den Horizont gleiten. Wie war ich bloß an diesen Ort gekommen? Hatte der Schrei etwas damit zu tun? Seufzend setzte ich mich auf die Felswand und ließ die Beine über der Kante baumeln. Meine Gedanken drifteten gerade wieder ab, als ich einen kleinen Punkt ausmachte, der sich vom Horizont abhob. Ich beugte mich nach vorne und kniff die Augen zusammen. Weit in der Ferne erkannte ich ein Ruderboot, in dem eine Person saß, die ein weißes Gewand trug, welches im Wind wehte. Vor ihr lag eine ebenso weiße, längliche Kiste. Traurig sah ich zu, wie das Boot sich immer weiter entfernte und schließlich verschwand. Erst jetzt merkte ich, wie verzweifelt ich war. Ich fühlte mich einsam und wünschte, ich hätte genauso wie die weiße Gestalt einfach von dieser Insel verschwinden können.
„Das hättest du nicht sehen sollen.“, sagte ein kleiner Junge, der plötzlich neben mir saß. Ich zuckte zusammen.
„Wo kommst du denn her?“, fragte ich gezwungen freundlich, um meine Niedergeschlagenheit zu verbergen.
„Du hättest der Geigerin folgen sollen, so wie der Schreiber es dir gesagt hat“, fuhr er fort und schaute mich mit den Augen eines weisen Mannes an. „Jetzt wird es schwieriger für dich werden.“
„Warum?“, wollte ich wissen.
„Du wirst nur langsam vergessen. Du hast zu früh den Boten gesehen und möchtest wahrscheinlich mit ihm zurück ins Land jenseits des Meeres reisen.“
Eine böse Ahnung überkam mich. Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, fragte ich: „Wenn der alte Mann und die seltsame Frau der Schreiber und die Geigerin sind, was bist du dann?“
„Ich bin der Trompeter“, antwortete der Junge und deutete auf ein blechernes Instrument, welches neben Ihm lag. „Und du bist der Maler.“
Er schob einen kleinen Kasten aus dunklem Holz zu mir herüber. Ich öffnete ihn und schaute hinein. Im Kasten lagen Pinsel, groß, klein, buschig und borstig, ein Kohlestift und Fläschchen mit Farbe.
Langsam nickte ich. Die Ahnung verfestigte sich. Doch ich musste es genau wissen.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte ich den Jungen, der mich mit seinen weisen Augen anguckte.
„Deine Heimat“, erwiderte er.
„Ich weiß, aber was ist meine Heimat?“
„Die Insel der Toten“