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Die Insel im Ozean
Der Regen klatschte an das angelaufene Fenster seines Zimmers. Die Aussicht war trüb und die Strassen, die sich durch die Landschaft schlängelten, waren verlassen, einsam wie seine Gefühle. Das Zimmer war zur Hälfte beleuchtet, der Boden übersät mit getragenen und ungewaschenen Kleidern und der Schreibtisch glich einem Fundbüro. Alles Mögliche verstaubte auf der Tischplatte. Von Schulbüchern über Socken, sogar eine Ukulele lag da und schrie schon fast danach wieder einmal gespielt zu werden.
Sean sass auf seinem ihm viel zu kleinen Bett und versuchte die Gedanken des eben Geschehenen aus seinem Kopf zu verbannen. Immer wieder kamen die Erinnerungen hoch, wie sie ihm in die Augen geschaut und gesagt hatte, dass vier Monate schneller vergehen, als man denkt. Es war erst ein paar Stunden her, als er sie am Flughafen zum letzten Mal gesehen hatte.
Seine Freundin hiess Nadine und sie hatten zusammen den Kindergarten besucht. Zwölf Jahre später waren sie sich wieder begegnet und Sean war hin und weg von ihr gewesen. Nun waren sie zusammen, doch Nadine musste von der Schule aus ein Auslandspraktikum absolvieren, was der Grund war, weshalb sie ihm aus den Händen gerissen wurde.
Sean musste wieder an den Abschied denken, der ihm sehr schwer gefallen war. Sie hatte ihn an seinen Händen genommen und ihre immer kalten Hände berührten die seinen. Doch sie waren diesmal nicht kalt gewesen, ihm schien sogar, dass ihre Finger seine erwärmten. Ihre himmelblauen Augen sahen ihn an und wie jedes Mal wurde ihm warm ums Herz, als ob ihr Blick ihn berührte. Dann sagte sie etwas zu ihm, doch Sean hatte nicht wirklich zugehört, denn er wurde von der Berührung mitgerissen, irgendwohin mitten in den Ozean auf eine einsame Insel und die Geräusche am Flughafen wurden zum Rauschen der Wellen Nur er und sie. In diesem wohltuenden Moment wurde er wieder zurück in die kalte Realität geschleudert, als sie ihm sagte, dass die Zeit knapp werde. Er hatte sie zu sich gezogen und ihr einen Kuss auf de Stirn gedrückt, was wieder eine Berührung gewesen war, die er nicht so schnell vergessen konnte. Es war auch seine letzte Berührung gewesen, danach hatte sie sich umgedreht und war unter den Reisenden verschwunden, die mit ihr fliegen durften. Er war nur dagestanden und konnte ihre kalten, wärmenden Hände an seinen spüren.
Sean schaltete das Licht aus, legte sich so gut es ging in sein Bett und lauschte dem Takt, den die Regentropfen ans Fenster klopften. Irgendwie glaubte er zu fühlen, dass jemand neben ihm lag, was aber nur Einbildung war, oder ein Traum.
Am nächsten Morgen verliess er den Wohnblock wie immer ein paar Minuten zu spät. Auf dem Weg zum Bahnhof bemerkte er, wie ihn die Müdigkeit nach der schlaflosen Nacht begrüsste. Er erreichte aber noch den Zug und setzte sich auf einen der Klappstühle , die im vorderen Bereich des Wagens standen, jedoch von den meisten Leuten gemieden wurden. Aus Gewohnheit warf er einen Kontrollblick auf sein neues HTC mit Touchscreen, jedoch übermannte ihn wieder das gleiche Gefühl wie am vorigen Abend. Als er das Hintergrundbild musterte, lächelte seine Freundin ihm mit ihren himmelblauen Augen zu, und er spürte wieder die Berührung ihres Blickes und ihm wurde warm ums Herz, doch die Wärme wich der Sehnsucht nach ihr, nach ihren kalten wärmenden Händen und ihrem Lächeln. Er strich schon fast zärtlich über den Bildschirm in der Hoffnung, er könnte ihre Wärme spüren, doch das Glas war nur kalt und der Bildschirm wurde entsperrt.
Die folgenden Tage waren nass, kalt und einsam. Die Sehnsucht nach ihr wurde von Tag zu Tag erträglicher, aber auf keinen Fall kleiner. Er zuckte schon bei der kleinsten Berührung zusammen, die ihn an Nadine erinnerte. Schlimm war für ihn der Tanzkurs in der Schule. Da wurde von einem verlangt, Hand in Hand zu tanzen, aber jede Berürhung war für ihn ein Gedanke an Nadine. Er versuchte so gut es ging, sich nichts anmerken zu lassen, was überraschenderweise auch klappte.
Als die Woche endlich vorüber war, traf Sean sich mit seinen Freunden. Es waren seine besten Freunde, sie gingen durch dick und dünn und jeder war für den anderen da. Aber die Sache mit Nadine, die Sehnsucht nach den Berührungen, das wollte Sean nicht erwähnen. Ihm war es fast schon peinlich, den anderen zu erzählen wie er sich fühlte. Er erzählte ihnen nur, was Nadine ihm per Mail geschrieben hatte. Beim Erzählen stellte er wieder fest, dass der Kontakt zu ihr noch vorhanden war, aber dieser Kontakt seine Gefühlslage nicht wirklich verbesserte. Es waren die Berührungen, die er spüren wollte, die Stimme, die er hören wollte und die Wärme, die er fühlen wollte. Doch nichts davon gab es.
Am Abend beschlossen seine Freunde Sean zum Ausgehen zu überreden, was gar nicht nötig war, denn Sean wollte einfach nur raus aus dem Alltag. Sie stiegen in den Zug, der am Freitagabend nur mässig besetzt war, jedoch stachen Sean plötzlich alle gut aussehenden, weiblichen Fahrgäste ins Auge. Ein Mädchen fiel ihm besonders auf. Ihre braunen Haare waren gewellt und schulterlang, was Sean aber besonders gefiel, waren ihre himmelblauen Augen. Ihn überwältigte dasselbe Gefühl wie als Nadine vor ihm gestanden hatte. Kurz darauf wechselte er das Abteil, was seine Freunde davon hielten, interessierte ihn nicht. Als er sich zu ihr setzte, lächelte sie ihn an. Er lächelte zurück und fragte sie nach ihrem Namen. Sean hörte wiedermal nicht wirklich zu, er beobachtete lieber ihre Gesichtszüge und hörte nebenbei den Namen Sophia. Nach einigen Minuten Smalltalk fragte er sie, wohin sie eigentlich wolle Sie erzählte ihm, dass sie und ihre Freundinnen en eine Bar gehen wollten und auf der Suche nach Leuten seien, die mitkommen wollten. Sean fand die Idee super, zumindest glaubte er es, denn plötzlich lächelte er. Er lächelte nicht weil er angelächelt wurde, nein, er lächelte weil er nicht anders konnte.
Es war schon spät, der Bahnhof war leer und nur ein paar Betrunkene suchten den Fahrplan. Sean stand mit Sophia auf dem Bahnsteig. Seine Freunde waren schon nachhause gegangen und die Freundinnen von Sophia ebenfalls. Der Abend war gut verlaufen und sogar seine Freunde hatten ein paar neue Handynummern. Aber das interessierte ihn nicht. Er wollte nur Sophias Hände nehmen und ihre Wärme spüren. Er stand vor ihr und schaute in ihre himmelblauen Augen. Beide sagten nichts. Sean spüre sein erkaltetes Herz, denn trotz ihrem Blick passierte nichts. Plötzlich begann er sich zu fragen, ob es das Richtige sei, Sophias Hände zu nehmen. Aber seine Sehnsucht nach so einer innigen Berührung war grösser. Wenn er in diesem Moment auf sein Handy geschaut hätte, hätte er gemerkt, dass Berührungen aus Liebe viel mehr sind, als elektrische Impulse die durch das Nervensystem rasen und dem Gehirn melden, dass etwas die Haut berührt. Doch das machte er nicht, sondern nahm ihre Hände. Diese waren warm. Er versuchte zu spüren, wie er irgendwo mitten im Ozean auf einer einsamen Insel stand und wie die vorbeifahrenden Züge das Rauschen der Wellen imitierten, aber das klappte nicht. Er stand immer noch auf dem Bahnsteig am Bahnhof inmitten von Häusern und vor ihm stand diejenige, die er erst seit ein paar Stunden kannte. Nun bemerkter er, dass es nicht die Berührungen waren, die er vermisst hatte, sondern die Zuneigung und Aufmerksamkeit, die Nadine ihm gegeben hatte. Das Mädchen vor ihm würde ihn, wenn überhaupt nur diese Nacht lieben.
Sie war nicht die, die ihn glücklich machte.
Sie war nicht die, die alles über ihn wusste.
Sie war nicht die, die er liebte.