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Die innere Schwelle
Ich öffne die Tür zum Sprechzimmer. Sehe ihm in die Augen. Sehe einen klareren und offeneren Blick, als ich es die letzten Wochen von ihm gewohnt war. Nach Bruchteilen von Sekunden weicht er meinem Blick aus. Ein inneres Lächeln kann er jedoch nicht verbergen. Ich schwinge mich auf meinen Stuhl, lege meine Arme auf den Tisch und frage ihm zugewandt, was ihn herführt. Eigentlich wissen wir beide, dass es ihm wieder gut geht. Das ist noch nicht lange so. Über Wochen kam er immer wieder zu mir in die Sprechstunde und klagte über Bauchschmerzen. Die Untersuchungen blieben ohne klare Diagnose, die Therapien ohne klaren Erfolg. Auf Nachfrage, ob ihn etwas bedrückt, wich er stets aus. Kein Augenkontakt, Körper abgewandt. Und doch kam er immer wieder. Geduld bis er soweit ist, war meine einzige Chance. Und der Tag kam, an dem er seinen Blick hob, die Augen gefüllt von Tränen. Er könne nicht mehr. Er sei ausgebrannt und leer. Schäme sich. In seinen Augen spiegelte sich der Schmerz seiner Seele. Ich gab Raum. Signalisierte Annahme. Das hier genau der richtige Ort sei sich zu öffnen. Er verstand, dass hier ein sicherer Raum ist, in dem er einfach sein kann. Loslassen. Mit jedem Wort und jeder Träne sah man in seinem Gesicht, wie die Last auf seiner Brust leichter wurde. Zu wissen, dass er nicht fällt, sondern aufgefangen wird. Auszeit. Regeneration. Mit jedem folgenden Besuch richtete sich sein Körper wieder auf, öffnete sich sein Gesicht, fanden sich unsere Augen. Und nun saß er befreit vor mir. Wohl wissend, dass der Schlüssel darin gelegen hatte, die innere Schwelle zu überwinden. Zu reden. Sich in einem sicheren Raum zu öffnen. Den Tränen ihren Weg zu geben, um heilen zu können.