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Die innere Kammer
Trotz Schirm und festem Schuhwerk erreichte ich die Adresse des Vermieters pitschnass. Er wartete in der schmalen Zufahrt einer Reihenblocksiedlung. Ein kahlköpfiger Mann, dessen übergroßer Parka ihm um den dürren Körper flatterte. Wir schüttelten uns die Hände und er führte mich durch den Innenhof. Der Regen trommelte gegen das Blech überfüllter Container und aufgequollene Kartons lagen vom Wind zerstreut. Grauer Beton verschluckte das Licht. Bei Eingang vier öffnete der Vermieter die Tür und ich schüttelte meinen Schirm aus.
„Fahrstuhl gibt’s keinen.“
„Ist mir recht“, antwortete ich.
Im Flur folgten wir einer Briefkastenwand. Nach sieben Stockwerken fühlte ich mich trocken, oder zumindest so, dass ich nicht die Wohnung unter Wasser setzen würde. Über die Jahre hatte ich dank einer Diät aus Kaffee und Baguettes kaum Fett angesetzt, aber ich keuchte dennoch ein wenig. „Wie lange machen Sie das schon?“, fragte ich. Der Vermieter schwieg. Wir gingen einmal um die Ecke, dann einen weiteren Flur entlang, die Fliesen waren rissig und an den Kanten dunkel verfärbt. Bereits beim Treppensteigen war mir aufgefallen, dass der Vermieter kaum den Kopf bewegte, als hätte er einen steifen Hals. Eine Neonröhre flackerte und knackte, weiter vorne hörte ich das Rauschen von Abwasser. Der Vermieter schloss die Zweiundsiebzig auf.
„Siebenundvierzig Quadratmeter. Recht großzügig für diesen Stadtteil“, sagte er, als wir eintraten. Ich stellte meine Tasche und den Schirm ab. „Vierhundert kalt. Wenn sie Ihnen gefällt, brauche ich drei Monatsmieten im voraus. Sehen Sie sich in Ruhe um.“ Der Grundriss der Wohnung bestand aus drei Räumen: Das Schlafzimmer mit angrenzendem Bad, rechts eine enge Küche mit offenem Durchgang und links davon eine Tür, die bei unserem Eintreten verschlossen war. In der Küche öffnete ich die Schubladen. Besteck rasselte. Töpfe und Pfannen waren ineinandergestapelt. Die Kühlschranktür stand offen, ebenso das Eisfach. Zwei Herdplatten und eine Kaffeemaschine für Kapseln rundeten die bescheidenen Annehmlichkeiten ab.
Im Schlafzimmer Einbauschränke, das Bett, ein Nachttischchen und ein Lesesessel mit abgegrabbeltem Bezug. „Was ist im dritten Zimmer?“, fragte ich. Der Vermieter öffnete die Tür und knipste das Licht an. Es roch muffig und nach Wachs. „Der letzte Mieter hat den ganzen Krempel hier stehen lassen.“ Er zeigte durch den Raum. „Haben Sie Verwendung dafür? Sonst können wir’s rausschaffen lassen, wird aber ein paar Tage dauern.“
Ich nickte und der Vermieter blickte mich fragend an. Mit den Fingern strich ich über das Flachsgewebe des Leintuchs, erfühlte dessen Struktur. Der Rahmen war quadratisch, die Staffelei scheinbar perfekt auf meine Höhe eingestellt. An der Wand lehnten weitere Rahmen, der Boden war mit farbfleckigem Zeitungspapier abgedeckt. Zögerlich nahm ich Pinsel und Palette zur Hand, machte ein paar imaginäre Striche. Es fühlte sich seltsam an, nach so langer Zeit. Ich lächelte unsicher und der Vermieter zuckte mit den Schultern.
„Wer war dieser Mann?“, fragte ich und legte Pinsel und Palette zurück. Farbkesselchen standen zu meinen Füßen. „Kenne ich ihn allenfalls?“
„Oh, ich weiß nicht. Er war alt. Hatte einen Schlaganfall. Das Bild in der Küche stammt von ihm.“
Es zeigte einen Wohnblock und eine leere Straße an einem regnerischen Tag. Mit viel Wasser und grauer Farbe hatte der Künstler nach dem Auftragen der Konturen und dem Ausarbeiten der Details sein Bild verschleiert. Ich hielt es nicht für sonderlich gelungen, dennoch starrte ich mehrere Augenblicke gebannt darauf. „Nun, was sagen Sie?“, fragte der Vermieter und knackte mit den Fingern.
„Es gibt nur ein Problem“, antwortete ich. „Keine Fenster?“
Bevor der Vermieter auf meine Frage eingehen konnte, hörte ich ein Klopfen. Mehrmals, rasch nacheinander. „Ist ein Altbau“, sagte der Vermieter. „Etwas hellhörig.“
Ich nickte. „Wieso gibt’s keine Fenster?“
„Ah, es gibt eines im Schlafzimmer. Vielleicht haben Sie es nicht bemerkt, weil der Vorhang zugezogen ist? Ich muss Sie darauf hinweisen, Rauchen ist im gesamten Gebäude verboten.“
„Ich hab das Rauchen aufgegeben“, sagte ich und zog den Vorhang auf. Einst aus üppigem rotem Samt, glich er jetzt einem ausgelatschten Teppich. Zumindest hatte man ihn gewaschen, ein schwacher floraler Geruch ging von ihm aus. Hinter dem Fenster der gegenüberliegende Wohnblock, die leere Straße und der Regen, der übers Glas hinunterlief. „Ich nehme sie“, sagte ich. „Die drei Mieten hab ich bar dabei.“
„Sehr gut. Dann unterschreiben wir den Vertrag.“
Hätte ich die Wohnung bekommen, wenn er wüsste, dass ich nur die nächsten vier Monate bezahlen konnte? Ich musste mir eine Arbeit suchen. Viel vom Geld der Kunstverkäufe war nicht übriggeblieben, deshalb war ich in die Stadt gekommen. Der Zufall, dass mein Vormieter ebenfalls als Maler tätig gewesen war, bekräftigte mich bei meinem Entscheid: Bestenfalls würde ich hier meine eingeschlafene Kreativität wiederbeleben können.
Ich tastete über den Fensterrahmen. „Ich würde Ihnen raten, es geschlossen zu lassen“, bemerkte der Vermieter und rieb sich den Nacken. „Schreckliche Zugluft. Gibt einen steifen Hals.“
Nachdem der Vermieter gegangen war, machte ich mir einen Kaffee und setzte mich auf die Bettkante. Angestrengt starrte ich aus dem Fenster, aber nichts war zu sehen, weder Mensch noch Tier. Nach einigen Minuten erhob ich mich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Sollte ich mich bei den Nachbarn vorstellen? Nein, in der Stadt war sowas bestimmt nicht üblich. Ich lauschte, ob sich das Klopfen wiederholte, oder nach sonstigen Geräuschen, die der Alltag mit sich brachte. Doch der Wohnblock blieb so ruhig, dass die Stille ein bedrückendes Eigenrauschen entwickelte, dass mich von Kopf bis Fuß mit Kribbeln erfüllte.
Später bereitete ich mir das Abendessen in der Küche zu, Brot und Wurst hatte ich in einem Laden um die Ecke gekauft. Die Papiertüte war nass vom Regen und das Brot aufgeweicht. Ich nahm mir Zeit, dass Gemälde meines Vormieters genauer zu studieren. Es zeigte exakt dasselbe Bild wie vor meinem einzigen Fenster, dieselbe Leere, nur das er zwei schattenhafte Gestalten auf die Straße gemalt hatte, wovon mich die eine an die dürre Figur des Vermieters erinnerte. Dies war mir zuvor gar nicht aufgefallen, aber zugegeben, es war nicht einfach, in dem grauen Geschmiere überhaupt so etwas wie Kontraste zu erkennen.
Ich erwachte aus einem Traum, an den ich mich nicht erinnern konnte. Den Vorhang hatte ich am Abend offengelassen und das Fenster zeigte dieselbe Szenerie wie am Tag zuvor. Schwaches Licht drang in meinen Raum und Regenschlieren flossen über die Wände. Kurz schnappte ich nach Luft. Dann stand ich auf, zog meine immer noch klamme Kleidung an und entfernte die Zeitung aus meinen Schuhen, die ich zwecks rascherer Trocknung in sie hineingestopft hatte. Vielleicht konnte ein Frühstück meine Kopfschmerzen vertreiben.
Ich verließ die Wohnung und stieg die Treppen hinab. Meine Schritte hallten durch die Gänge. Erst im Innenhof realisierte ich, dass es immer noch dunkel war. Normalerweise schlief ich länger, wieso ich heute so früh aufwachte, noch dazu nach anstrengender Reise, machte mich weiter stutzig. Der Laden um die Ecke hatte noch nicht geöffnet und so ging ich schwermütig und gedankenversunken den Weg zurück. Wieder in meiner Wohnung angekommen, hastete ich zum Fenster. Davor zeigte sich der Tag in regnerischer Trostlosigkeit, es war nicht hell, aber keinesfalls mehr Nacht.
Mit steifen Fingern probierte ich es zu öffnen, suchte nach einem Mechanismus, aber es gab keinen. Ich strich über das Glas. Handelte es sich bei meinem vermeintlichen Fenster um eine Abwandlung des Bildes in der Küche, in angepasstem Format? Nein, es war eindeutig: Kalt und strukturlos, nicht die raue Beschaffenheit getrockneter Farbe, und der Regen floss nach wie vor außen daran herab. Ich zog den Vorhang zu, setzte mich in die Küche und trank drei Kaffee, wartete darauf, dass der echte Morgen anbrach. Beim Betrachten des Gemäldes überkam mich ein beunruhigendes Gefühl, als falle ich in das graue, leere Bild hinein und bräche mir das Genick auf der Straße.
Aufgeschreckt wurde ich von einem schrillen Klingeln und es dauerte einen Moment, bis ich verstand, dass der Telefonapparat auf dem Schuhschrank läutete. Ich hob ab.
„Guten Tag“, sagte eine Stimme, die ich als diejenige des Vermieters erkannte. „Haben Sie sich schon eingelebt?“
„Das Fenster“, antwortete ich. „Es lässt sich nicht öffnen.“
Stille am anderen Ende, dann sagte der Vermieter: „Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen es zu lassen.“
„Welchen Tag haben wir heute?“
„Freitag, der vierzehnte Mai.“
„Draußen ist es dunkel, aber vor meinem Fenster wird es niemals Nacht.“
„Nun ja, wir haben es versiegelt, nachdem ...“
„Nachdem was?“
„Ich war nicht ganz ehrlich zu Ihnen“, sagte der Vermieter und wartete, als überlegte er, wie er es mir schonend beibringen konnte. „Der vorherige Mieter hat sich aus dem Fenster gestürzt.“
„Das ändert nichts an der Tatsache, dass Sie nicht auf meine Beschwerde eingegangen sind.“
Vergebens lauschte ich in die Hörmuschel. Das leise Tuten zeigte an, dass der Vermieter aufgelegt hatte.
Ich beschloss, zwei Stunden zu warten und dann nochmals raus zu gehen. Müde schleppte ich mich die Stufen hinab. Unterwegs begegnete ich niemandem, als wäre ich der einzige Bewohner im Block, und von Zeit zu Zeit blieb ich stehen, um nach menschlicher Anwesenheit zu lauschen. Bestimmt machten sich die Leute parat, bald zur Arbeit zu gehen. Doch tropfte nur Wasser in einer Leitung.
An der Briefkastenwand traf ich auf den Postboten. Seine gelbe Jacke triefte und unter seinen Arbeitsschuhen bildete sich eine Pfütze. „Guten Morgen“, grüßte ich, erleichtert darüber, jemanden zu sehen, und noch viel mehr, das nun scheinbar tatsächlich der neue Tag angebrochen war.
„Morgen“, sagte er und kniff die Augen hinter den beschlagenen Brillengläsern zusammen, kramte nach Post in seiner Tasche. „Ich hab ein Schreiben für Sie.“
„Woher wollen Sie das wissen, kennen Sie doch gar nicht meinen Namen?“
„Wohnung zweiundsiebzig, oder?“
„Ja, richtig. Aber ...“
„Hier“, sagte er und streckte mir einen wasserfleckigen Umschlag hin. „Der ist für Sie.“
Verdattert nahm ich ihm den Brief aus der Hand und bevor ich etwas erwidern konnte, wandte sich der Postbote ab und ging hinaus in den Hof, wo ihn die Regenschleier rasch verschluckten. Ich riss den Umschlag auf und zog ein Blatt Papier hervor, auf dem ein einzelner Satz stand: EGAL, WAS SIE TUN, ÖFFNEN SIE NICHT DAS FENSTER! Und auf der Rückseite: Die Malutensilien gehören Ihnen.
Den Brief steckte ich in einen Kasten ohne Namen, machte mich dann mit weichen Beinen auf zum Laden um die Ecke. Das Brot war bereits ausverkauft, also nahm ich mir die Tageszeitung und ein vertrocknetes Croissant.
In der Küche versuchte ich die Zeitung zu lesen, aber konnte mich kaum konzentrieren. Das Bild. Immer wieder blickte ich das Bild an. Was stimmte damit nicht? Ich ging näher heran. Die schwarzen Figuren auf der Straße glänzten im Deckenlicht und als ich über sie strich, blieben Pigmente an meinen Fingerspitzen haften. Da hörte ich erneut das Klopfen. Aus welcher Richtung vermochte ich nicht festzustellen. Vielleicht kam es aus der Wohnung über mir oder aus der darunter, vielleicht aus einer vom gleichen Stockwerk. Oder – aber diese Möglichkeit verdrängte ich – es kam aus der meinen, aus einem anderen Zimmer.
Rasch zog ich den Vorhang auf. Nach wie vor dieselbe Szenerie. Da war niemand, auch die schwarzen Gestalten auf der Straße fehlten. Wieso hatte ich erwartet, sie zu sehen? Fenster und Bild stimmten eindeutig nicht überein. Meine Kopfschmerzen hämmerten und in der Tasche kramte ich nach Aspirin. Mit dem Rest Kaffee spülte ich zwei Tabletten herunter und legte mich dann hin. Ausgiebige Erholung fehlt mir, sonst nichts, versuchte ich mich zu beruhigen, aber der Schlaf ließ lange auf sich warten. Als ich erwachte, wusste ich nicht, ob ich die Augen überhaupt zugemacht hatte.
Desorientiert setzte ich mich auf die Bettkante, blickte trübe aus dem Fenster. Wie viel Zeit vergangen war, konnte ich schwerlich schätzen. Meinem Hungergefühl nach zu schließen, mussten es mehrere Stunden gewesen sein, aber da ich kaum etwas gegessen hatte, war ich mir nicht sicher. Mit Mühe erhob ich mich vom Bett, schlurfte zum Fenster und zog den Vorhang zu. Ich konnte es nicht mehr ertragen, die tristen Wohnblöcke und die leere Straße anzusehen.
Die nächsten Tage zogen dahin wie Nebel und ich fühlte mich immer ausgelaugter. Einmal versuchte ich den Vermieter anzurufen, er hatte mir seine Nummer auf einem Zettel hinterlassen, doch wofür hatte ich bereits vergessen, sobald das automatische Band zu laufen begann. Das Klopfen wiederholte sich nicht. Ich ertappte mich dabei, nach ihm zu lauschen, und nahm mehrere kalte Duschen, um wieder zu Verstand zu kommen. Der Laden um die Ecke füllte seine Vorräte nicht auf, und bald hatte ich alle Regale leergekauft. Als ich die dickliche Frau hinter der Theke darauf ansprach, schnalzte sie lediglich mit der Zunge und widmete sich wieder ihrem Schnulzenroman.
In der Zwischenzeit geschah etwas mit dem Bild in meiner Küche. Wenn ich morgens aufstand, war dessen Perspektive weiter vom Fenster abgerückt, zog sich in den Raum zurück, der mein Schlafzimmer war. Bald konnte ich das Bett und das Nachttischchen erkennen, sowie die Einbauschränke. Mehrmals verglich ich Gemälde und Fenster und in meiner Hysterie verstand ich irgendwann nicht mehr, was von den beiden sich verändert hatte, ob ich wirklich nach draußen schaute, oder nur das Bild in meiner Küche anstarrte.
Je weiter sich der Blickwinkel auf das Schlafzimmer öffnete, desto dunkler wurde es vor dem Fenster. Bis nur ein schwarzer Fleck übrigblieb, in dem nichts mehr zu erkennen war, so tieffinster, wie ich mich im Innern fühlte. Doch umso länger ich hinsah, desto besser erkannte ich einen fahlen Umriss in dessen Rahmen, der sich langsam zu einem gesichtslosen Schemen ausgestaltete.
Ich überlegte, jemanden anzurufen, nur um eine Stimme zu hören, etwas anderes als diese rauschende Stille, die sich in meinem Kopf eingenistet hatte. Aber ich wusste nicht wen und brachte sowieso keine Kraft auf, mich vom Essstuhl zu erheben. Also saß ich apathisch da und zählte die Stunden, bis dass Bild mir einen neuen Ausschnitt vor dem Fenster zeigte. Bald erkannte ich einzelne Finger der Gestalt, bleich und knöchern, mit filigraner Pinselspitze gemalt. Obwohl die Farbe zunehmend dicker aufgetragen wurde und die Hand zu klauenartigen Strichen zerfloss, erkannte ich, wie sie panisch gegen das Glas klopfte. Ihr Mund folgte, zum stummen Schrei verzerrt.
Nachdem ich am Tisch eingeschlafen war, zumindest glaubte ich das, weil ich ohne es zu merken die Kaffeetasse vom Tisch gefegt hatte, zeigte das Bild nicht mehr Schlafzimmer und Fenster, sondern war aus einem Winkel gemalt, in dem ich die gesamte Wohnung überblickte. Fasziniert betrachtete ich die Details, selbst die Risse in der Decke von einem alten Wasserschaden waren akribisch nachgezeichnet worden. Der Vorhang im Schlafzimmer zugezogen und auch meine Tasche lag neben dem Bett, da wo ich sie hingeworfen hatte. Doch etwas fehlte. Es war mehr ein Gefühl, als das ich es sah.
Ich prügelte mich innerlich, aufzustehen. Auch wenn der Laden um die Ecke keine Waren mehr führte, das Treppensteigen würde mich beleben, die kalte Tagesluft den rastlosen Geist beruhigen. Schuhe und Jacke hatte ich bereits angezogen, aber es gab ein Problem. Meine Wohnungstür. Sie war verschwunden. Ich tastete an den Wänden entlang, suchte auf dem Bild nach ihr, aber auch dort: Nichts zu sehen. Als hätte sie nie existiert. Es war nun höchste Zeit, es noch einmal beim Vermieter zu versuchen. Fahrig nahm ich den Hörer zur Hand, wählte seine Nummer mit der Scheibe.
„Hallo?“
„Was ist hier los?“, fuhr ich ihn an. Meine Stimme überschlug sich.
„Sie klingen nicht gesund. Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
„Ja, ja, machen Sie das!“, stöhnte ich. „Schicken Sie sofort jemanden her!“
„Beruhigen Sie sich.“
„Was ist das für eine Wohnung? Ist hier überhaupt eine Wohnung? Dieses Bild ...“
„Bleiben Sie vom Fenster weg“, sagte der Vermieter.
„Ich verstehe nicht, was Sie mir sagen wollen. Ich verstehe überhaupt nichts.“
„Gehen Sie in die Küche und trinken Sie ein kaltes Glas Wasser. Es kommt gleich jemand vorbei.“
Ich setzte mich hin und wartete lange. Auf ein Klopfen, auf ein Rufen, ob es mir gutgehe. Ich kaute auf den Fingernägeln und streifte über die Tischplatte. Was hätte ich gegeben für eine Packung Zigaretten. Stoisch mied ich den Blick auf das Gemälde. Doch irgendwann konnte ich es nicht mehr vermeiden. Es zeigte immer noch dasselbe: Meine Wohnung ohne Tür. Lediglich im Schlafzimmer, da war plötzlich etwas anders. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich den Unterschied zu erkennen. Wenn ich mich nicht täuschte, da im Fenster ... Ich stieß den Stuhl um und rannte ins Schlafzimmer, krachte mit dem Knie gegen einen Bettpfosten.
Ich trank Kaffee, das Bedienen der Maschine beruhigte mich. Als die Kapseln aufgebraucht waren, kam mir eine Idee, was ich sonst noch tun könnte. Vielleicht würde mich das Malen ablenken. Oder gar einen noch weitaus praktischeren Zweck erfüllen. Wenn ich es auf die Goldwaage legte: Wäre es möglich, dass ich das Bild in der Küche jeweils verändert hatte? In meiner Erinnerung gab es nur mich am Tisch, aber wahrscheinlich fehlte mir einfach der Rest. Wovon ich wissen konnte, war das Warten auf das Trocknen der Farbe, weil ich zuvor die alte mit der neuen Szene übermalt hatte.
Wenn das stimmte, bot sich vielleicht eine Möglichkeit zur Flucht. Ich konnte mich selbst aus der Wohnung herausmalen, ich musste nur das Sujet verändern! Einen Versuch war das durchaus wert, beschloss ich und stürzte mich voller neugefundenem Eifer ins Farbenmischen. Zuerst versuchte ich, die Szene der Wohnblocks und der leeren Straße nachzuzeichnen, so gut ich sie im Kopf hatte. Doch das wollte mir nicht gelingen. An alles, was ich denken konnte, war meine Wohnung. Die Küche, das Schlafzimmer, das Atelier.
Was war zuvor geschehen? Ich musste mich doch an etwas erinnern! Der Vermieter. Das war’s! Dieser kahlköpfige, dürre Mann. Ich hatte mit ihm telefoniert. Nein, nein! Davor ... Was war davor geschehen? In meiner Wut goss ich einen Eimer Wasser über die Leinwand, schlug mit der Faust ein Loch in sie hinein. Probierte es mit einer neuen. Abwesend begutachtete ich meine schrecklich dünn gewordenen Finger und schüttelte den Kopf.
So sehr ich versuchte, mich anzustrengen, alles außerhalb meiner vier Wände war mir entfallen. Obwohl ich sämtliches verbliebenes Leinen bemalte, fühlte sich nichts an dieser Arbeit befreiend an, sondern als mauerte ich mich selbst immer tiefer ein. Existierte ich überhaupt noch? Auf meinen Bildern war ich nirgends zu sehen, kein Schatten einer menschlichen Gestalt. Ich malte das Telefon aufs Schuhschränkchen und hörte es klingeln. Ließ Pinsel und Palette fallen, rannte aus dem Zimmer. Keuchend hob ich ab.
„Guten Tag“, meldete sich der Vermieter. „Haben Sie sich schon eingelebt?“
„Hören Sie auf damit!“ Ich kickte gegen den Schuhschrank und holte Luft. „Was passiert, wenn ich das Fenster aufstemme?“
„Bestimmt erinnern Sie sich an Ihren Vormieter, daran, was ihm zugestossen ist. Willkommen in der inneren Kammer.“
„Was soll das sein? Lassen Sie mich raus!“
„Nun gut, ich werde es Ihnen zeigen. Das Kabel des Telefons sollte lang genug sein.“
„Was?“
„Gehen Sie zur Schwelle des Schlafzimmers.“
Ich nahm den Apparat und tat wie mir geheißen. Der Vermieter hatte den Vorhang aufgezogen und ich erblickte dahinter ein Zimmer, identisch wie das meine. Er stand im Durchgang, wie ich, sein steifer Hals noch länger, als ich ihn mir vorgestellt hatte, den Hörer am Ohr. Ich riss am Telefonkabel, um mehr Spielraum zu haben, und die Tapete gab mit einem trockenen Ratschen nach.
Wie wild hämmerte ich mit dem Hörer in der Faust gegen das Glas, was in einem hohlen Klopfen resultierte. Kraftlos gab ich auf und ließ die Hand am Fensterrahmen hinuntersinken. Meine Schreie blieben stumm. Auf den Knien klammerte ich mich an den Hörer.
„Ich würde Ihnen raten, es geschlossen zu lassen“, bemerkte der Vermieter und legte sich eine Hand in den Nacken. „Nun, was denken Sie? Siebenundvierzig Quadratmeter. Recht großzügig für diesen Stadtteil. Und wie gesagt, da Sie wieder freikommen wollen, brauche ich Ihr neues Werk, Wohnblock und verlassene Straßenszene, am besten schon im voraus.“