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Die Illusion der Mitte oder Warum ich nirgendwo zuhause bin.
Die Illusion der Mitte
Goran, Feinmechaniker der Feinfrequenztechnologie, tunte die etwas aus dem Normmaß geratene Frequenz wieder auf das durchschnittliche Maß. Das war sein Job. Zu weit vom Themengebiet abweichende Frequenzen hatte er so zu justieren, dass sie wieder als klares Thema erkennbar war. Es waren die Vermischungen von mehreren Frequenzen, die immer wieder diese Artefakte auslösten.
„Gefühle, immer wieder Gefühle!“ genervt skalierte er einige Frequenzen nach. „Trauer muss als Trauer erkennbar sein. Freude als Freude, Neid als Neid“, so hatte ihn sein Chef die Sache erklärt. Um die Überschneidungen musste er sich nicht kümmern. Zum Beispiel Freude und Mitleiden oder Schmerz und Freude, denn das waren die frei wählbaren Programme. Man konnte bis zu vier Emotionen gleichzeitig herunterladen, ohne dass ein Gefühl dabei unterging. Aber vier war die absolute Obergrenze.
Er wusste um die störanfälligen Frequenzen. Zum Beispiel war die Kombination von Liebe, Eifersucht, Nörgelei und Versöhnungsepos sehr beliebt. Oder die Kombination von Workaholic, Freude, Wichtigtuerei und Depression. Da kam es wegen der großen Nachfrage oft zu kleineren Turbulenzen.
Er hatte herausgefunden, dass sich viele gewohnheitsgemäß mit vier Optionen versorgten. Gerne wurden dann die einzelnen Gefühle hintereinander geschaltet, um dann final zu einem Crescendo anzuschwellen und in Emotionales Chaos zu stürzen. Diese Frequenz hakte auch manchmal.
Emotionales Chaos lief besonders zu Weihnachten oder Silvester. Dann in Kombination mit Friedenswilligkeit, Familiennestwärme und Heile Welt.
Er machte Pause und ging in den Aufenthaltsraum. „Mensch, ist die Welt voll Scheiße!“ Er knallte seinen Handschuh auf den Tisch. „Voll abgefahren, diese Kacke aus Gefühlen. Kann man denn nie seine Ruhe haben, Alter?“ Er schaute Tamira aus einer Mischung von Aggression, Langeweile, Überdruss und Enttäuschung an. Diese Mischung hatte er sich aus dem Netz runtergeladen.
„Baby, nimm dir ne Battery Chill out. Hab ich mir auch gerade reingezogen. Cooler Mix aus Easy-going, Gut-drauf, alles–ist-gut-so und Joker.“ Sie reichte ihm das Päckchen und hielt es ihm offen hin. Er zögerte und ranzte. „Watt soll der Scheiß?“, griff aber trotzdem hinein und riss die Verpackung vom obersten Tütchen ab.
Wie auf allen Anleitungen geschrieben steckte er zuerst seine Nase hinein und sog fest an dem feinen Duft, der ihn sofort in die Welt von Sommer, Sonne und hellem Licht zog. Dann hörte er den Ton, besser gesagt die vier Frequenzen, die das Chill-Out-Päckchen ausmachten. Sie waren kaum zu hören, diese Töne, aber sie wirkten auf ihn sofort. Er spürte, wie er an den angeforderten Gefühle andockte und von den vorherigen Frequenzen runterkam.
So war das immer. Das aktuellste Gefühl, war das dominante. „Hey, Tamira, schön dich hier zu haben. Ist ja gleich Feierabend!“, bemerkte er mit dem Blick auf die Uhr. Ja, Chill-out war ein gutes Päckchen.
Er stand auf und bewegte sich ins Lager. Computergesteuerte Greifarme beherrschten die Logistik. Milliarden Päckchen wurden täglich verschickt. Die Leute konnten ohne sie nicht leben. Irgendeine Frequenz war immer gefragt. Ohne ging gar nicht. Die Päckchen hatten den Vorteil, dass sie unabhängig vom Smartphone konsumiert werden konnten. Zum Beispiel – was selten vorkam – in Gegenden ohne guten Empfang. Oder man verschenkte sie oder legte sich Vorräte in die Schulblade. Immer das passende Päckchen zuhaben, bedeutete, die Kontrolle über die Emotionen zu haben.
Päckchen waren auch hochwertiger als die Emotion-To-Go-Päckchen vom Smartphone, fand Goran. Die hohen Frequenzen waren das Problem und ebenso der feine Duft. Ja, besonders der Duft konnte von den Herstellern nicht genau dosiert werden. Die Emotions waren danach immer etwas trüber als in der Wirklichkeit mit den Päckchen.
Nur zu Großereignissen, wie Weihnachten, Fußball-WM, Kollektive Katastrophen-Erlebnisse war die Qualität wirklich gut. Dann brauchten die Anbieter ja nur einen Duftstoff freizugeben, so dass es einfacher wurde, die gute Qualität von Gefühlen zu behalten. Siegestaumel war während der Weltmeisterschaften der Renner, aber auch kollektives Weinen. Das war aber immer gekoppelt mit der passenden Portion Hoffnung, Kampfgeist und starkes-Ego. Zu hohe Dosen von einem Gefühl – so hatte man herausgefunden – waren im Nachhinein schwerer zu neutralisieren.
Goran wusste auch von der Superwaffe. Im Ernstfall konnten Frequenzen über alle Sendemasten abggeben werden und Düfte von Helikoptern verstreut werden. Diese Maßnahme waren streng geheim und nur dem Militär vorbehalten. Das war schon ziemlich hochsensibel, wahrscheinlich ging es um Emotionen wie Kollektiver Kampfgeist, kollektives Schweigen und kollektive Tatenlosigkeit.
„Ich mach für heute Schluss, Baby!“, rief er Tamira zu und verließ das Labor. Draußen fegte ein rauer Wind. Naja, das Wetter hatten sie noch nicht im Griff. Aber es war egal. Mit dem Chill-out-Päckchen ließ sich jedes Wetter ertragen.
Er ging einkaufen. Etwas planlos, ja lustlos. – Die Wirkung ließ nach und er suchte auf dem Smartphone nach einer passenderen Emo. Ja, die war gut: home-action. Er tippte den Code und hielt die Nase an die kleine Düse. Home-action. Home-action begann er leise zu summen. – Auf der gleichen Frequenz, die fast unmerklich aus seinem Smartphone aufstieg. Jepp, das war gut!
Er schob den Einkaufswagen geschickt durch die Warentürme und legte wohlbewusst seine Vorräte in den Wagen. Es sollte etwas Gutes geben. Heute vegan und indisch. Dann dachte er noch an die Scheuermilch, an den Entkalker und sogar an Blumen.
Neben ihm schob eine ältere Frau ihren Wagen an seinem vorbei. Auch sie trällerte auf seiner Frequenz. „Schöne Blumen! Haben Sie auch an den Schnittblumendünger gedacht?“ Er bedankte sich und schob den Wagen in Richtung Blumenpflegemittel.
Dort saß ein Mann mit einem Rollstuhl und mühte sich mit der Tastatur seines Smartphones ab. Sein Gesicht war ausdruckslos. Wahrscheinlich war er schon zu lange ohne Emotions unterwegs. Goran schaute ihm zu. Keine Mimik verriet, was in dem Mann vorging. Er sah aus wie versteinert. Goran kannte die Symptome: Der Mann stand kurz vor dem emotionalen Kollaps. Es war seine Pflicht, ihm zu helfen.
Er wühlte in seiner Tasche. Dort fand er ein Päckchen Pack-es-an!. Er riss das Siegel ab und hielt dem Mann die Tüte unter die Nase. Es dauerte keine Sekunde. „Hey, junger Mann, geben Sie mir bitte die grüne Flache von da oben! Ja, danke. Und lassen Sie mich jetzt bitte hier vorbei, ich hab es eilig.“ Er rangierte den Rollstuhl an ihm vorbei und grüßte mit einem energischen Blick und mit der Hand an einer vermeintlichen Hutkrempe. Ja, Pack-es-an! machte energisch, tatkräftig, und zielorientiert.
Dann sah er sie. Wunderhübsch, große Augen, sanfter Blick. Sein Typ. Er änderte seinen Code und nahm die Mischung first-love. Bereits beim Duft fühlte er sich leicht und beschwingt, die Frequenz brachte ihn dann auf das angestrebte Level. Ein wenig scheu, verlegen, etwas fordernd, ganz natürlich. Das zog immer. Die anderen Love-Mischungen hob er sich für später auf.
Der unbeabsichtigt, absichtliche Rempler, die kullernden Tomaten aus der Tüte, ihr erschrockener Blick, sein jungenhaftes Lächeln. Er fühlte die Woge der Mischung, hatte keine Schwierigkeiten das erste Wort zu finden, dann kam die Frage mit dem Kaffee-trinken und ja, ob sie nicht 36 54 drauf hätte……Der Code, der junge Mädchen mutig machte.
Die meisten Mädchen machten an diesem Punkt noch mit. Diese hier aber schaute ihn aus großen Rehaugen an und wandte sich von ihm ab. Er tankte schnell 25 67, die Battery, die er gerne beim Sport nahm: Ausdauer, Kampfgeist, Gewinnerzuversicht und Zielorientiertheit und lief ihr nach.
„Hey, du! Warte mal!“ Er holte zu ihr auf. „Ich hab dich hier noch nie gesehen. Bist du neu hier?“
Wieder ein Blick aus tiefen Rehaugen. Sie wirkte belustigt, wach, ruhig und ernst. Eine Mischung, die es als Battery so nicht gab. Vielleicht hatte sie eine unbekannte Quelle. Er schlug ihr vor, 35 46 zu probieren. Stimmung für leichten Anfang. Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Ich bin zu Besuch“, überraschte sie ihn. Zu Besuch. Wer kam noch zu Besuch? Sie hatten doch alle ihren Platz gefunden? Kommunikation lief über skype, seit Jahren schon, Gemeinsamkeit entstand durch die Global-batterys. Besuche waren überflüssig geworden. Niemand hatte ein Zuhause, das andere einlud. Es nicht notwendig, in anderen Räumen zu sein. Trotzdem hatten sie alle viel Spaß miteinander. Vor allem wenn man vor einer Skypesitzung die 54 78 nahm.
Er begleitete sie ein Stück. „Bei wem bist du zu Besuch?“ „Bei euch.“, sagte sie ruhig. „Ich bin auch schon da.“ Sie zeigte auf ein Hotel, das normalerweise Politikern diente, wenn sie Liveauftritte inszenierten.
„Bist du Politikerin?“, fragte er forsch. – 25 67 wirkte noch. Er klickte auf repeat und spürte die gleiche Frequenz nun noch intensiver. Hier war etwas, was es zu entdecken gab. „Nein, ich bin eine Unabhängige.“
„Wow!“ Damit hatte er nicht gerechnet. Unabhängige kannte er nur aus Filmen. Sie waren geheimnisvoll. Er hatte nicht geglaubt, dass es sie in echt gab. Er machte eine Schritt zurück, klickte mechanisch auf check-the-mood (Ratio einschalten, Röntgenblick, Pokerface, Unerschütterlichkeit) und inhalierte kurz.
„Eine Unabhängige! Aha. Und was machst du hier?“
„Im Moment schau ich dir auf check-the-mood zu. Eben war die 25 67 und davor warst du auf first-love.“ Er schluckte. War das hier ein Artefakt? Er ließ sich seine Unsicherheit nicht ansehen. Klar. Pokerface wirkte.
„Komm, ich zeig dir was!“ sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Hotel hinein. Sie gingen auf ihr Zimmer. In einem unauffälligen Moment tippte er 25 46, das Mittel für starke Männer. Sie lächelte ihn an. Etwa mitleidig, schien es ihm. „Hier! Guck’s dir an!“
Sie hielt ihm eine Art Landkarte unter die Nase. Die sah aus wie ein Gehirn. „Hier kannst du sehen, auf welcher Frequenz welcher Teil deines Gehirns läuft!“ Er wurde neugierig. In den verschiedenen Teilen des Gehirnbildes waren die Codes abgebildet. Die Frequenzen. Er kannte sie alle. Hatte alle schon x-mal durchprobiert. Nur eine solche Karte war ihm neu.
„Und nun? Was soll ich damit?“ Er war ungeduldig. Dieses Spiel war nicht mehr in seiner Kontrolle. Er tippte die 33 33. Das Mittel gegen Kontrollverlust. Er roch den feinen Duft, hörte den Ton und wurde ruhig. „Was soll ich damit?“ wiederholte er.
„Das sind die besetzten Gebiete.“ Erklärte sie. „ Hier zum Beispiel: Frequenz 78 65. Das Gefühl, nicht dazuzugehören. Oft kombiniert mit 23 56 Einsamkeit, 56 79 Minderwertigkeit und 78 54 Depression. Diese Battery haben sie versucht, herauszunehmen, aber sie läuft zu gut. Es gibt viele Menschen, die sich damit identifizieren können. Oder hier: 68 49 Verliebtheit. Eine sehr beliebte Frequenz. Nur schade, wenn die Wirkung nachlässt. Darum oft zusammen mit Eifersuchtsdramen, Langeweile, Fremdgehen.“
Sie dreht die Karte ein wenig. “Schau: Da bist du gerade: Frequenz Starker Mann. Und – fühlst dich gut?“
Er nickt beiläufig, kniff ein wenig die Augen zusammen und stemmte die Arme in die Hüften. „Und was soll ich jetzt damit?“ Sie lächelte. „Solange du ein Gefühl brauchst, um deine Mitte zu fühlen, deine Identität, wirst du betrogen. Wir Unabhängigen sind frei davon. Darum sind wir auch nirgendwo zuhause. Nur wer ein Gefühl braucht, um sich zu identifizieren, der braucht die Battery. Braucht ein Zuhause und sonstige Sicherheiten.“
Er legte die Hand an sein Kinn, setzte sich in Posen wie ein Held und überdachte die Sache. „Was meinst du mit Identität?“ fragte er dann, den Blick in die Ferne gerichtet. „Nun“, fing sie an, „sobald du einen Code eintippst und den Duft riechst und die Frequenz hörst, kommst du in ein Gefühl. Dann aktiviert sich dein Gehirn und du sagst zu dir: Ich bin! Geht das Gefühl vorbei, brauchst du die nächste Dosis. Wir Unabhängigen fühlen wenig. Denn wir haben keine Mitte. Es ist überall das gleiche zu erleben, nur die Frequenz ist austauschbar.“
„Ich bin ein ganzer Kerl und ich weiß, wer ich bin!“ konterte er. „Die Battery bestätigt mich nur. Tut mir gut. Dann fühle ich mich richtig.“
„Natürlich!“ Rehbraune Augen sahen ihn an. „Wer eine Identität haben will, braucht immer Nachschub. Wir Unabhängigen sind auf keiner Frequenz zu finden. Wir sind. Das ist uns genug“
Goran spürte wie die Frequenz von 25 46 nachließ. Er tippte einen weiteren Code ein. So ein Mist, vertippt. Statt: Ich-bin-ein-Intellektueller hatte er nun Ich-lass-mich-verführen. Die beiden Codes waren einfach zu dicht beieinander.
„Erzähl mir mehr!“ säuselte er. Sie lächelte. Wusste, welche Frequenz gerade angetriggert wurde. Schüttelte den Kopf und sagte: „Nein. Das reicht für heute. Ich bin nicht hier, um deine Stimmungen zu bedienen. Vergiss nicht: Ich bin eine Unabhängige. Geh. Jetzt!“
Ihr Ton erschien ihm barsch und lieblos. Sie jagte ihn weg. Jetzt. In diesem Moment von Nähe und Zweisamkeit hier in diesem Hotelzimmer. „Hey, Süße, komm zu mir! Wir könnten es hier schön haben!“
Sie schüttelte den Kopf, nahm ihren Mantel und verließ das Zimmer. Klarer konnte eine Abfuhr nicht sein. Er legte versonnen den Kopf in den Nacken und genoss die Wirkung von Ich-lass-mich-verführen. Sie war weg. Doch das Gefühl blieb. Er änderte auch den Code nicht, obwohl das möglich gewesen wäre. Die Entspannung, die prickelnde Erwartung, das Geheimnisvolle kostete er gerne noch ein wenig länger.
Nach einiger Zeit spürte er, wie die Wirkung nachließ. Er fühlte keine Sensation mehr. Es war Zeit für einen neuen Code. Er wählte wieder Chill-out und ging nach Hause.
Den Abend verbrachte er mit verschiedenen Batterys bis er dann in einen traumlosen Schlaf fiel, der bis zum Morgen dauerte.
In dem kurzen Moment zwischen Wach-Werden und Wach-Sein – dem Moment, in dem er für gewöhnlich seine drei ersten Tagescodes programmierte, erinnerte er sich an die seltsame Begegnung mit der Unabhängigen. Auch die Karte mit den Gehirnarealen und den Frequenzen kam ihm wieder in den Sinn. „Wer war sie?“
Er hoffte, ihr nochmal zu begegnen. Er stärkte sich mit My aim, eine phantastische Battery voll Entschlossenheit, Geradlinigkeit und Ernsthaftigkeit. Dann sprang er in seine Jeans und stand eine Viertelstunde später im Hotel. Sie sei noch da, erfuhr er und ließ sich beim Portier telefonisch bei ihr anmelden.
Sie empfing ihn. Der Koffer stand bereits gepackt neben der Tür. Rehaugen fixierten ihn. „Und?“ fragte sie. Mehr nicht.
„Wer sind die Unabhängigen?“ stieß er hervor. „Wer seid ihr? Was macht ihr?“
Sie lächelte. Ein wunderbares Lächeln. „Wir sind frei von jeglichem Code. Wir produzieren unsere Gefühle in unserer eigenen Intensität. Und nicht so wie du und viele andere per Battery.“ Er schaute sie entschlossen und durchdringend an: „Wie kannst du da die Kontrolle bewahren? Ohne Code geht alles ins Chaos!“
Sie schüttelte den Kopf: „Du hast mich gefragt, wer wir Unabhängigen sind. Du magst gerne die Kontrolle haben und hast Angst vor dem Chaos. Wir Unabhängigen lieben das Chaos. Darum müssen wir nichts kontrollieren. Ja, es ist uns egal, welches Gefühl gerade vorherrschend ist. Denn sie unterscheiden sich ja nur in der Frequenz.“
Er schluckte. So einfach ließ er sich nichts vormachen: „Was ist mit deiner Identität? ICH brauche die Codes, um mich zu spüren und zu wissen, wer ich bin. Was hast du denn für eine Identität?“ Er packte sie am Arm. „Oder bist du weak? Schwach. Unfähig diese Intensität auszuhalten, die Gefühle in einem wecken?“
Sie ließ sich nicht beeindrucken. „Wir Unabhängigen haben keine Identität. Das Gefühl des Augenblicks ist in unseren Augen die Illusion von einer Mitte, von einer Identität. Wir sind Geschöpfe ohne Zentrum. Wir sind amorph.“
Er ließ sie los. „Amorph!“ bellte er. „Konturenlos! Keine Geradlinigkeit! Kein Ziel! – Das ist amorph!“
Sie wartete. Ließ einen Moment der Stille verstreichen und nahm ihren Mantel. „Wenn dein Code gleich abgeklungen ist, wirst du anders über mich denken.“
„Wohin gehst du?“ er packte sie wieder am Arm. „Bleib!“
Sie schüttelte den Kopf. „Wie gesagt: Wir Unabhängigen haben keine Mitte. Und darum auch kein zu Hause.“
Er ließ sie los und gehen. Ihr Leben war ihm fremd. Und dennoch auf eine Art, die er sich kaum eingestehen wollte, faszinierend. Frequenzunabhängig. Amorph. Das ganze ging weit über seine Vorstellungskraft hinaus. Nahm ihn für einen Moment mit in einen undefinierten Raum.
Dann gewahrte er das Hotelzimmer. War irritiert und tippte die 34 67. Tragic moments.