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Die Hungrigen und die Satten

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15.03.2008
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Die Hungrigen und die Satten

Wir sind uns selbst überlassen, hier draußen. Hier draußen sind wir von allen verlassen. Zu Zeiten des Hungers sind wir hier draußen sogar von uns selbst verlassen. Erst geschieht lange Zeit nichts und dann alles auf einmal. Ereignisse häufen sich in Sekundenschnelle zu Ereignistürmen, die, vom eigenen Gewicht erdrückt, in Sekundenbruchteilen ineinander stürzen. Und wir werden erschlagen von den Trümmern zerbrochener Phänomene, Bruchstücke, die kaum noch als die Reste der Ereignisse zu erkennen sind, deren scharfe Bruchkanten uns aber doch noch durch Haut, Muskeln und Knochen schneiden, so leicht, als wögen die Trümmer so viel wie gestauchte Sterne, die unsere Glieder, Köpfe, Hoffnungen mit Leichtigkeit amputieren. Als wären wir Vögelchen aus Luft und keine erdschweren Menschen, schwer wie schwarze Löcher, deren Ereignishorizonte alle Objekte in Reichweite in unsere Umlaufbahnen zwingen. Bis alles letztendlich kollidiert und vom Loch in uns verspeist wird, dessen Hunger mit allem wächst, das es verspeist. Und so schnell alles zerfällt, so schnell fallen die guten Geister von uns ab. Es ist so leicht hier, die Dinge geschehen fast von allein; ganze Lawinen rollen die Berge hinab, von dessen Gipfel wir einen Kiesel warfen. So leicht und so schnell fallen wir übereinander her in den Schlachten der Toten. In dem Schlachten der bereits Erschlagenen, die sich ein zweites Mal, ein drittes Mal die Schädel einschlagen. Alle unguten Dinge sind drei, das sagte man früher so, habe ich gehört. Und um wie viel mehr gilt das heute, für unsere unbehausten Körper, verlassen von allen guten Geistern. Niemand weiß, was das überhaupt bedeutet, was gute Geister eigentlich sind. Das beste, was uns hier draußen passieren kann, ist die Abwesenheit des bösen Geistes.
Es hilft uns nur die Stammesgruppe. Und nichts ist so bedrohlich. Das größte Unheil des Stammes stammt vom Stamm selbst. Der sich jedes Frühjahr neu erfindet. Um spätestens ein Jahr später wieder auseinander zu brechen. Der Stamm bricht auseinander, wie ein spindeldürrer Oberschenkelknochen, von keinem fetten Jahr genährt, der aufgebrochen wird, um das Knochenmark auszusaugen. Nach höchstens einem Jahr zerbricht jede Gruppe an sich selbst. Wenn es unerträglich geworden ist, die Gesichter der Anderen zu sehen. Wenn wir auseinander gehen, um nicht in tolle Raserei zu verfallen. Um uns nicht im Kampf Jeder gegen Jeden die Köpfe einzudrücken und Leichenberge aufzuhäufen. Das ist die Zeit, in der die Stämme auseinander gehen, um sich neu zu finden. Im Fortgang auf der Suche nach einem Gleichgewicht, das unmöglich zu erreichen ist. Möglich ist die vorübergehende Balance von Angst und Schrecken, von Hungrigen und Satten.
Die Jagdgesellschaft muss groß genug sein, um sich gegen äußere Feinde zu behaupten. Um nicht das Opfer anderer Wildbeuter zu werden. Die am Ende des Winters, wenn tagelang keine Fährten von jagdbarem Wild gesichtet wurden, auf Menschenjagd gehen.
Doch zu viele Jäger gewähren keinen Schutz. Zu viele von uns sind zu viele Mäuler, die gestopft werden müssen. Mit der zunehmenden Zahl steigt der Druck des Hungers. Bis der Stamm am schwächsten Glied zerspringt. Ich habe es so oft gesehen, dass ich die Male zählen könnte, um einzuschlafen. Bin selbst dies schwächste Glied gewesen. Oft ist der Kampf schon verloren, bevor wir wissen, dass er beginnt. Gegen den gefährlichsten Feind, unseren hungrigen Vater, den Dünnen Mann. Stranguliert die Einzelnen mit leerem Gedärm, hängt die Überlebenden auf an Fäden aus falscher Hoffnung und dirigiert ihren wilden Tanz, den blanken Hans. Nimmt uns, die wir nichts mehr haben, unseren letzten Besitz.
Die Seher sagen, wir zahlen den Preis für den Hochmut unserer Vorfahren. Zahlen ihn wieder und wieder, doppelt und dreifach, mit Zinsen und Zinseszinsen. Bis die Schulden der Vergangenheit restlos getilgt sind. Das letzte Hemd hat keine Taschen, aber die Schulden unserer Vorväter wurden auf die Haut ihrer Kinder und Kindeskinder tätowiert. Wir tragen sie auf unserer Haut wie Brandzeichen, die einst das Vieh kennzeichneten, damit jeder wusste, auf wessen Rechnung gehalten, geschlachtet, verwertet wurde. Da ist keine Verteidigung vor dem inneren Feind entrinnt niemand. Restschuldbefreiung unmöglich. Der Dünne Mann jagt uns. Jagt einen nach dem anderen. Nacheinander werden wir niedergestreckt und ausgeweidet und verzehrt. Unser Fleisch in Zahlung genommen. Wir zahlen und zahlen mit Schmerz und dem Leben. Und weiter wachsen die Schuldberge, Schuldenberge, auf die Haut geschrieben den Kindern in's Fleisch gebrannt. Endlich ist das unendliche Wachstum wirklich, sagen die Seher, und jeder kriegt, was er verdient.
Erst wird das Menschliche aus den Menschen subtrahiert. Dann die Gruppe um jene dezimiert, die eher sterben, als ihre Restmenschlichkeit aufzugeben. Bis uns die Wilden, Grausamen, Kaltblütigen dominieren, die vom Hungertick befallenen. Die nicht aufhören können unsere Kinder anzustarren. Was vor wenigen Wochen undenkbar war, als es noch nichtmenschliche Nahrung gab, beginnt mit vorsichtigen, verschämten Blicken der Kühnsten. Bald werden die Kinder von gierigen Blicken belauert, belagert, eingekreist. Immer öfter und offener, immer unverhohlener und unverschämter. Je länger der Hunger die Gesichter modelliert, Löcher hinein bohrt. Löcher, auf denen die Schädel zur Kette aufgefädelt werden. Es sind Schädelketten, die dem Dünnen Mann vom langen Hals hängen. Herrschaftszeichen, Herrschaftszeiten.
Unsere Gesichter wie Krieg wie Schrumpfköpfe wie Ruinen. Gesichter die wachsen wie Verhängnisse aus dem Hals wie Gefängnisse hinter Gitterstäben aus Vernunft. Hohlwangige mit hohlen Zähnen in leeren Mundhöhlen. Mit glänzenden Sehschlitzen ohne Tiefe, dem Starren des Dünnen Mannes. So verrät sich seine Anwesenheit. So verrät sich der unbehauste Körper an den Dünnen Mann und schlitzt sein Zeichen in die Stirn. Dessen Geist in jedes Fleisch fährt. Der besitzt, wen er will.
Die Besessenen blinzeln nicht, ihr Blick ist so starr wie ihr Denken wie Streben aus Stahl. So mager wie ihre Gefühle wie mangelernährte wie schlecht gemästete Kinder. An Winters Ende greift der Dünne Mann an. Ergreift uns, vergreift sich an uns. Greift nach den vom guten Geist verlassenen Körper. Die große Inbesitznahme, sein Brandzeichen auf Netzhäuten.
Manche sagen, Dünner Mann ist einer der ungezählten Namen des bösen Geists. Andere sagen, es ist der letzte Gott der Menschheit. Führer zur letzten Unruhestätte. Er ist eine Brücke aus den Gebeinen unserer Eltern, die unter unseren Schritten zerbricht. Ein Wurm aus Schädeln, der unter Gebeinbrücken lebt und sich windet, wenn wir auf der Flucht vor uns darüber hetzen. Was er ist, das weiß ich nicht. Ein Virus ist er. Ansteckend, von Mensch zu Mensch, die Geisterkrankheit, begeistert Hungrige, entgeistert die Satten. Der Virus, die Idee, eine Sprache und Besessenheit, die durch alle Menschen wandelt und jeden Mensch zum Wirt verwandelt. Der Dünne Mann sticht mit Hungerklingen, sticht Löcher in Seelen. Aus denen das Menschliche fließt wie aus Wunden, aus denen es sprudelt und in die Tiefen gurgelt, wo es in den Abgründen verläuft. In die Tiefen zum Unhold, der sich am Fluss aus Wahnsinn besäuft. Menschen laufen aus, bis nichts vom Menschen übrig bleibt. Übrig bleibt das behinderte Tier. Das entseelte, entbeinte, das ausgeblutete Tier. So ergeht es den Stärkeren. Die sich wehren, bei denen es dauert.
Die meisten zerreißt es mit einem Ruck. Sie verbrennen mit einem Mal. Angerissenes Zündholz, entflammter Strohballen. Zurück bleibt Hunger. Das Hungerfeuer. Sagen unsere Geisterseher. Es brennt umso mehr, je weniger Nahrung es kriegt. Das, glauben die Seher, geschieht mit uns. Einige Ältere sind noch Jünger der alten Religion der Vernunft und glauben nicht an den Dünnen Mann. Sehen in sein starres Auge und glauben nicht daran. Sie waren stets die Könige der Welt. Mit denen diskutiere ich nicht. Sie bleiben die Könige der Welt, bis der wahre Herrscher sie abberuft, mit einem Fingerschnippen bricht. Manche glauben an den Dünnen Mann, andere glauben nicht daran. Was es auch ist, es findet statt. Was es auch ist, es beginnt, wenn die Vorräte zur Neige gegangen sind.
Erst gibt es halbierte Rationen, dann geviertelte. Bald zehrt jeder von den eisernen Reserven, die der Einzelne am Körper versteckt : Trockenfleisch, steinhartes Brot, vergorenes Obst. Danach zehrt man von Reserven, die im Körper angelegt sind. Erst das Fett, dann die Muskeln. Selten schneidet man sich eine Scheibe voneinander ab. Wenn das große Fressen beginnt, ist es nicht mehr zu stoppen.
So spät im Jahr nehmen wir ab und die Zeit nimmt zu. Sie wird fetter und fetter, bis ein Tag schwer wiegt wie Wochen. Und wir sitzen am Feuer, bewegungslos, schmal wie Supppenkasper, unser Gedärm ineinander vertäut, damit der Wind uns nicht fort bläst. In den Gesichtern die Falten vertiefen sich täglich. Gitterstäbe wachsen aus den Rippen, aus dem Haar. Der Körper das Gefängnis des letzten Besitzes. Wir besitzen uns so lange, bis wir besessen werden. Wir gehören uns selbst, bis wir besessen sind. Wir werden besessen und besitzen uns nicht. Wir sehen alles und bleiben blind. Nachts träumt das blinde Auge des Dünnen Mannes vom Frühling und vom Essen. In den Träumen vom Frühling träumen wir vom Fressen fort und fort. Nach wilden Traumnächten beginnen Tagträume die Menschen zu beherrschen. Nächte später versuchen die Tagträumer uns zu beherrschen. Die Seher nennen das Visionen. Sie kommen zu uns, wenn die Sonne am höchsten steht. Sie werden realisiert im Dunst tagelangen Schweigens. Gesprochen wird ohnehin kaum noch. Es gibt einfach nichts zu reden. Wir haben uns nichts zu sagen. Es gehen auch Wörter verloren, hunderte jedes Jahr. Täglich wird irgendwo von irgendwem das letzte Mal ein Wort zu irgendwem gesagt, der den Sinn schon nicht mehr versteht. Mittlerweile redet auch niemand mehr, der nichts zu sagen hat.
In den Tagen am Ende des Winters überlagern sich die Welten. Hungerbilder legen sich über die Realität und werden wirklicher als die Wirklichkeit. Gedanken verlieren Form und Inhalt. Werden zum Gestammel und Gestötter einer nackten Wahrheit ohne Sattsein, ohne Götter. Werden gehetzt, gestaucht, brechen auf, brechen ab. Gedanken, von Stammelnden erbrochen. Erbrechen sich selbst, zerbrechen an sich selbst wie Wellen am Felsen des starren Blicks. Die ersten Anzeichen zeigen, dass es schon bald zu spät ist. Dass es bereits zu spät ist, zeigen schon die ersten Anzeichen. Kinder von zwölf Jahren, zarte Mädchen zum Beispiel oder zärtliche Jungs. Manchmal belauern die Hungrigen tagelang eins der Kinder. Schleichen sich an, nachts, im Taumel des Tagtraums. Oder sie taumeln am Tag durch die Korridore des Wachtraums der nackten Gier. Wenn sie glauben, gerade passt niemand auf. Wenn sie nichts mehr sehen, nichts mehr glauben, nurmehr getrieben sind. Wenn nichts mehr eine Bedeutung hat von dem Wenigen, das uns übrig blieb. Sätze wie dieser : Kinder sind kein Gemeingut.
Blank gezogener Wahnsinn sticht so lange durch die Augen, bis die durchlöcherten Seelen auslaufen. Aus den Augen läuft es die Körper hinunter und sammelt sich im Fluss des Wahns, der tiefe Canyons auswäscht, die sich mit Nichts auffüllen. Durch den das Schädelgewürm taucht, auf dem reitet der Dünne Mann. Ausgelaufene Augen werden ausgetauscht, ersetzt vom Dünnen Mann, der fortan durch diese Augen spricht. Ein Wort, Hunger, nur ein Wort, Hunger, Hunger, aus ungezählten Augenpaaren. Bald vergessen sich die Hungrigen selbst am Tag. Vergessen sich verfressen sich fressen dich fressen sich fressen dich fressen mich, verschlingen dich verschlingen mich verschlingen sich. Aus Versehen aus Gier aus Gleichgültigkeit. Verschlingen den eigenen Fuß oder im Eifer des Gefechts das halbe Bein, bis sie begreifen, was sie tun. Dass sie ergriffen sind vom Dünnen Mann.
In der langen Nacht des strahlenden Winters. In der strahlenden Nacht des blendenden Wahnsinns gibt es nur noch eine Macht und ihr Name lautet Hunger. Auch genannt Dünner Mann, blanker Hans, wilder Tanz. Und wir, die Satten, selbst schwach so schwach, müssen aufpassen, müssen die Angriffe des Hungers abpassen. Die Angriffe des Hungers auf uns und die Attacken der Hungrigen auf die Kinder. Dürfen keine Minute nachlassen. Das hat die Stunde geschlagen, wenn Zungen über Lippen lecken.
Wenn Zungen heftig lecken, wenn sie hektisch über Lippen lecken. Als wäre schon ein Kind gefangen, gebraten und gefressen. Jetzt das Fett von Lippen lecken. Tagträume. In denen man sich zurück lehnen kann, mit vollem Bauch, der Nahrung in Energie verwandelt, und einschlafen am Feuer, das den Energieverlust durch Kälte reduziert. Mädchen werden am häufigsten gefangen. Zärtlichstes Fleisch, heißt es. Das heißt, ihr Fleisch ist am zartesten. Doch es erwischt ebenso oft linkische Schlackse, denen gerade ein erster Flaum sprießt, die voller Neugier ihre Augen nicht auf dem Boden halten können.
Wenn das Lippenlecken schon eine Weile. Wenn die Hungrigen wie wahnsinnig ihre Lippen lecken und den Blick gar nicht mehr abwenden können. Geht's gleich los. Gleich geht's los. Jetzt geht's los, jetzt geht's los. Nachdem tagelang nichts passierte. Nur das Übliche, nur das Nötigste. Wir, die Satten, bilden einen Kreis um die Kinder in der Lagermitte. Eine Wagenburg für Trutz und Schutz. Die Hungrigen sitzen überall verstreut, um Feuerstellen, allein oder in kleinen Gruppen. Schwarz, starrend vor Schmutz. Schwarz, ohne eine menschliche Farbe. Die Bande schwarzer Männer, das Dunkle auf dem Grund von Menschlichkeit und Mitgefühl. Sie sind nicht böse, sie sind nicht schwarz, diese bösen Schwarzen sind nur hungrig.
Wenn die Zeit bis zum Frühjahrsanfang sich zieht und zieht, zieht der Hunger seine Kreise und fällt uns an sowie der Schlaf ausfällt. Wir sitzen mit den Keulen zur Hand im Kreis um die Kinder. Die spüren die Gefahr. Obwohl sie nichts davon wissen, spüren sie es. Kriegen jedes Mal das große Zucken, wenn sie versehentlich einen Hungrigen ansehen. Dessen Zunge über die Lippen zuckt, als schmecke er schon das Fett von Gebratenem. Wer gebraten wird, verliert seinen Namen. Die Bräter sind ja keine Unmenschen, sie haben nur Hunger. Allesamt nicht fett, die Kinder. Magerer als wir, dünn wie Stabheuschrecken. In langen Wintern schmilzt erst Fett und dann das Muskelgewebe.
Für die Kinder gelten Regeln. Erste Regel : In Zeiten des Hungers keinen Hungrigen ansehen. Zweite Regel : In Zeiten des Hungers keine schnellen Bewegungen machen. Dritte Regel : In Zeiten des Hungers nicht sprechen oder anders auf die eigene Existenz aufmerksam machen. Die Regeln werden nicht erklärt. Die Regeln wurden nur aufgestellt. Werden nur aufgesagt. Den Kindern wird gesagt, dass sie verschwinden werden, wenn sie ein Mal eine Regel nicht befolgen. Keinen Hungrigen ansehen, aber auch keinen Satten. Auch Satte werden zu Hungrigen, so schnell kannst du gar nicht kucken. So schnell, wie der Dünne Mann von einem Augenpaar zum anderen springt. Nicht reden im Winter, Kinder. Versucht, die eigene Existenz zu vergessen, damit sich auch niemand anderes daran erinnert. Überleben ist möglich.
Dieses Wegkucken müssen ist schlimm. Ich erinnere mich, wie es für mich war als Kind. Wenn wir angestarrt wurden, war es, als würden wir von einer Peitsche getroffen. Wenn sie sehen, die Zunge eines Hungrigen ist leckig, wie wir sagen. Wie läufig, im Frühling, wenn sich Tiere und Menschen bespringen, einmal im Jahr. Einmal im Jahr bespringen wir uns zum Zeugen, nicht zum Morden. Wir zeugen Kinder, um sie dieser Welt auszuliefern, wie auch wir von unseren Vätern dieser Welt ausgeliefert wurden. Dies Anspringen und der Hunger treiben uns an, treiben uns voran durch die Zeit. Wir wollen doch nur das, was es nicht gibt. Wir wollen fressen. Zu Fressen kriegt hier nur der Hunger. Der kriegt als einziger genug, der frisst an jedem, frisst an uns, frisst uns auf, von innen, von außen. Es gibt die Hungrigen und die Satten. Nichts zu fressen haben alle. Nur die Satten sagen sich, es ist okay. Mehr Wasser trinken. Nachwuchs schützen. Kinder sind eine lebende Fleischreserve, technisch gesehen, aber Kinder sind zugleich auch mehr als eine lebende Fleischreserve. Eine lebende Fleischreserve hält sich länger. Ist nicht so, dass wir nicht drüber nachdenken. Noch nie drüber nachgedacht hätten. Nicht ständig daran denken müssten.
Nur haben wir noch kein Kind erschlagen, gebraten und gefressen. Manche der Satten denken, sie wären was Besseres. Doch das sind wir nicht. Wir sind nichts besseres. Unschuldig ist keiner. Wenn der Hunger nicht mehr in Tagen zählt, sondern in Wochen, werden wir einander immer ähnlicher. Werden dem Menschen in uns immer unähnlicher. Manchmal fehlen ein paar Tage der Erinnerung. Und Kinder. Das ist wie kollektive Amnesie. Eine Gedächtnislücke, in der kleine Menschen verschwinden. Wenn wir wieder zu Bewusstsein kommen, sind die restlichen Kinder so unruhig, pulsieren in Panik. Einzige Nervenbündel, in Hautsäcken verschnürt. Man hört ihr Herz meilenweit klopfen, während sie sich tot stellen. Doch niemand sagt was. Wie sonst auch. Von außen betrachtet ist alles normal. Und wer weiß, wohin die Kinder verschwinden. Und wer sagt, dass ich was damit zu tun habe. Das kriegt keiner raus. Fragen können wir nicht. Dann kriegen es die übrigen Kinder mit der Angst. Dann kriegt die Angst es mit ihnen. Und Angst wollen wir nicht, Angst stinkt, Angst wird aus allen Poren erbrochen. Angst wird gerochen, Angst macht leckig. Angst macht Angst. Bis es am Ende nur noch einen Gestank gibt, nur noch ein Wort. Angst, Angst, Angst. Wie die letzte Frage, auf die es nur noch eine Antwort geben kann, Hunger. Hunger und Angst, das Pärchen, Angst und Hunger. Kann jeden erwischen, der Hunger, auch die Satten. Keine Charakterfrage. Alle sind verkehrt.
Es ist dieses verfluchte Lecken. Einer fängt an, vielleicht sogar einer der Guten. Nach stundenlangem Wacheschieben. Gedanken schweifen ab, Körper kurz vor'm Kippen, Disziplin fast aufgelöst. Schon schnellt die Zunge vor, als hätte das Biest ein Eigenleben. Ein paar der Satten schneiden sich die Zungen raus, um die Kinder vor dem Dünnen Mann zu schützen. Löblich. Kann sein, das hilft.
Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich hilft nichts. Zum Essen braucht es keine Zunge. So richtig unter Kontrolle die ganze Zeit hat das keiner. Wenigstens keiner, der hier draußen lebt. Und immer hungrig ist, und immer friert.
Kommt eine Zunge, folgt die nächste folgt die übernächste. Schnell sind fünf Erwachsene leckig und ihre Zungen schlängeln und zischen, lecken Lippen, und die Kinder verstecken sich immer tiefer in den Decken. Aufpassen, nicht schnell bewegen. Da sind die Hungrigen wie Reptilien. Reagieren auf Bewegung. Die Aussicht auf Beute, auf Energie, weckt aus dem wachen Winterschlaf. Reißt aus der Schweigetrance. Wenn die Leckigkeit über die Gruppe kommt, musst du schnell reagieren. Mit der Keule einen Schlag auf den Hinterkopf, dann ist die Zunge erst mal wieder drin.
Der Dünne Mann vertrieben von Schmerz und Betäubung. Eine Leere ersetzt die andere Leere. Das Schweigen wird unterbrochen vom leeren Affekt des leck leck, der wird unterbrochen durch saftige Kinder, nein, durch einen Schlag an die Fresse. Irgendwo tief in uns ist wohl immer noch der Instinkt, andere Menschen nicht zu schlagen. Schon gar nicht in's Gesicht, schon gar nicht hart in's Gesicht. Schon gar nicht hart mit der Keule. Ja mit der Keule und immer in's Gesicht. Nichts anderes hilft. Ich hab auch schon kassiert. Mehr Überraschung als Schmerz. Eben hast du noch gedankenlos in die Leere gestarrt, dachtest du jedenfalls, auf einmal schlägt dir eine Keule in's Gesicht. Ich weiß dann gar nicht, wo ich bin, oft. Bedanke mich erst mal.
Viel zu Wollen gibt's ja nicht, aber das will ich nicht. Egal wie groß der Hunger wächst. Vor dem es keine Rettung gibt. Was wir vor uns selbst verheimlichen. Was jeder weiß. Was denn. Was. Ist ja nicht so, dass wir eine Chance hätten. Bis dorthin durchhalten, dann kommt jemand und rettet dich. Sorgt für Energie. Hilft beim Überleben. Hilf dir selbst. Ich kann mir kein Essen vorstellen, das so lecker ist wie Kinder. Also wir warten auf nichts, es gibt keinen Auftrag, kein Ziel. Doch, schon Ziel. Frühjahr. Von dem wir jeden Winter zweifeln, ob es das wirklich gibt. Ob es kommen wird. Ob uns die Erinnerung an's letzte Jahr nicht trügt. Ob wir nicht gefangen sind im Gefängnis unserer Rippenkästen im endlosen Winter. In einer Welt aus Hunger und Kälte. Gefangen im Kampf gegen uns selbst, der über unsere Kräfte geht und nie endet. Wir warten auf nichts. Zweifeln am Frühjahr, ob es das wirklich gibt, zweifeln am Winter, ob es den wirklich gibt. Nur Hunger ist wirklich. Und nichts ist so lecker wie Zweifel. Nichts schmeckt wie Kinder.

 

Hallo @Kubus,

schön, mal wieder etwas von dir zu lesen - du weißt ja mittlerweile, wie sehr ich dein Schaffen schätze. Und deshalb weiß ich auch gar nicht so recht, warum/was ich hier jetzt schreibe. Zu abstrakt erschien mir das, was ich da gelesen habe, und grundsätzlich mag ich sowas ja, ich lese ständig Zeug, während ich gekonnt die Stimme ausblende, die mich fragt: Was liest du denn da eigentlich? Erklär mal, du Dummkopf. Verstehst doch gar nix. Irgendwie versteh ich es dann nämlich doch. Oder klammere mich halt an andere Dinge. Hier hab ich aber leider nichts gefunden, woran ich mich klammern konnte, also ja, doch, schon, dieses Freimachen halt, die Tatsache, dass du deinem Gedankensturm freien Lauf lässt, das ist großartig. Aber ... Mir fehlt es an Schärfe. Auf mich wirkt das zu vorsichtig, beinahe müde; als hättest du etwas ganz Elementares zu sagen, bringst aber nicht die Kraft auf, es zu tun. Ich erahne die Dornen, kann sie unter dem ganzen Buchstabenbuschwerk aber nicht sehen. Geschweige denn, dass sie mich blutig stechen, eben das, was dein Schreiben für mich ausmacht. Aber auch, wenn es diesmal nicht so recht funken wollte, ist für mich das große Ganze, also das, was du bist und machst, immer noch eines der interessantesten und spannendsten Literatur...dingsbumse überhaupt und deshalb hoffe ich, dass da noch viel mehr kommt.

Bis bald und liebe Grüße,

Bas

 
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"So lebt unter Seinesgleichen der Revolutionär und denkt:
[’di:zɐ ʃtɑ:t ɪst nɪçt main ʃtɑ:t.
kain ʃtɑ:t ɪst ’ybɐhaupt main ʃtɑ:t.
mɪt mi:ɐ ɪst kain ʃtɑ:t tsu ’maxn.
ɪç lep ɪn ’ainɐ ’ʃup’lɑ;də,
di: mi:ɐ nɪçt gə’hœrt.
ɪç lep ɪn ’ainɐ vɛlt,
di: mi:ɐ nɪçt gə’hœrt.
’mainə vɛlt gə’hœrt ’fɛtn ’gɛlt’zækn.
nu:ɐ main laip ɪst main ’aigənɐ.
also bɪn ɪç ’laip’aignɐ.]"
aus: Geschichten aus Be-Erde
Der Körper das Gefängnis des letzten Besitzes. Wir besitzen uns so lange, bis wir besessen werden. Wir gehören uns selbst, bis wir besessen sind. Wir werden besessen und besitzen uns nicht.

Das Zitat in Verbindung mit der Negierung des „aller guten Dinge sind drei“ bringt mich zurück in eine ferne, unfriedliche Vergangenheit, wo das Ding, die „Sache“ noch öffentlich verhandelt wurde und wenn ein Geladener der Aufforderung zum Thing nicht nachkam, beim dritten Mal ein Urteil ohne Verhandlung über ihn gefällt wurde. Da bedeutete „Friede“ zugleich „Schonung“ und „Freundschaft“ unter „Freihälsen“, Leute, die „frei“ waren, kein „Joch“ trugen (ein um den Hals gelegter eiserner Ring) wie ehedem der Sklave und hernach der Leibeigene.

Nun, das moderne Joch ist unsichtbar und doch spürt es jeder, wie abhängig er von der eigenen Natur und fremden Zwängen ist,

lieber Kubus,

und Hunger zu Kannibalismus führen kann, wenn der eine über den andern herfällt, wie seinerzeit von Jonathan Swift in der Schrift “A Modest Proposal: For Preventing the Children of Poor People in Ireland from Being a Burthen to Their Parents or Country, and for Making Them Beneficial to the Publick“, das anders als Dein Gedankengang selber bissig ist und zubeißt. Ich mein dann auch nicht so sehr über eine Hungersnot zu lesen, als über den nimmersatten Kapitalismus, der uns alle ergreifen will und dem Solidarität ein Greuel ist und darum das Single-Dasein als das höchste Maß an Freiheit predigt und doch weiß, dass das Leben für einen einzelnen teurer wird als in der Gruppe. Quasi ein Abgesang auf die herrschenden Verhältnisse.

Den „Dünnen Mann“ erkenn ich als Gevatter Hein, sozusagen auf dem Weg, den Hungernden „hein“ zu holen …

Was ein wenig aus dem Ernst der Erzählung heraussticht und befremdlich wirkt ist der Reim

Werden zum Gestammel und Gestötter einer nackten Wahrheit ohne Sattsein, ohne Götter.
Der ein bisschen klingt nach „reim dich oder stirb“.

Wie dem auch sei, ein paar Flusen

Da ist keine Verteidigung[,] vor dem inneren Feind entrinnt niemand.
Die nicht aufhören können[,] unsere Kinder anzustarren.
Unsere Gesichter wie Krieg[,] wie Schrumpfköpfe[,] wie Ruinen. Gesichter[,] die wachsen wie Verhängnisse aus dem Hals[,] wie Gefängnisse hinter Gitterstäben aus Vernunft.

Dessen Zunge über die Lippen zuckt, als schmecke er schon das Fett von Gebratenem.
Besser Konj. irrealis „als schmeckte er ...“

So viel oder wenig für heute vom

Friedel

Nachtrag: Nicht vergessen "Nutten sind raffiniert ..."

 

liebe Freunde,

war wohl nix der Text. eigentlich klar. dachte ich packs doch.
ich hab extremen Widerwillen den Text noch mal zu lesen, weiß nicht, ob das Ding hier überarbeitet wrd.
schreib ich lieber ne Kritik für was, das lebt. oder funktioniert.
Nutten sind raffiniert, auch das noch, danke Friedel, tschüß Verdrängung.
Kuck mir die beiden Texte morgen genauer an, wenn die Welt keine Salti schlägt.
Ordnung muss sein.

Grüße!

 

[’mano:, ‘haztə mi:r jetz’n ’ʃrekn ’aingə’ja:çt!]

Da freu ich mich, der

Kubus

is' widda da ... und dann sowat abba auch!

Die Welt kann keinen Salto schlagen, fielen ja allzu viele raus, dass die Herrn der Welt kein Publikum außer sich selbst nur noch hätten (und sie bewundern sich nicht, sehn sich vielmehr als KOnkurrenten, Bündnisse sind allemal zweckgebunden - sonst wäre ja der ganze wirtschaftliche Neoliberalismus im Eimer).

Überlech et Dich nochma, wie't im Pott heißt.

Dein Dante FRiedchen

 

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