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- 08.09.2017
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Die Hummel auf dem Klee
Die Hummel auf dem Klee
Eine kleine Geschichte zum Nachdenken
Da war er nun… mein neuer Garten. Der Vorbesitzer hatte ihn toll gepflegt, saubere Beete, ein satter grüner Rasen und eine Fläche für Gemüseanbau mit schöner schwarzer Erde. Alles sauber abgetrennt mit Wegen aus Betonplatten. Eine schöne Laube mit einer Terrasse, ebenfalls aus Betonplatten, ein kleiner Schuppen für die Werkzeuge. Kurz gesagt: ein Paradies. Hier brauchte ich mich nur noch in den Liegestuhl zu legen und mein Feierabendbier genießen. Herrlich, ich war der Herr meiner neuen grünen Oase.
So genoss ich die erste Abendsonne auf meiner Terrasse und ließ den Blick schweifen. Wunderschöne Blumen, besonders die mit den großen geschlossenen Blüten hatten es mir angetan, waren in Reih und Glied angeordnet, der Rasen wie eine ebene Fläche, Halm an Halm, jeder einzelne gleich lang geschnitten, eingefasst durch wie am Lineal gezogene Betonkanten. Das Gemüsebeet mit seinen sauberen Reihen, jetzt im Frühling mit Salat und Radieschen bepflanzt. Einige Gemüsesorten sollten in den nächsten Tagen ausgesät werden. Hier war bereits das Beet vorbereitet und akkurat geharkt.
Ich erzählte allen von meinem neuen Glück und so kam es, dass sich ein paar Freunde am Wochenende zum Grillen bei mir eingeladen haben. Iris, die Immobilienmaklerin, Stefan, der Vermögensberater, Wolfgang, der Vetriebsleiter und Sabine, die irgendwie genauso wenig wie ich in diese Gruppe passte, was unsere beruflichen Karrieren anging. Sie war Verkäuferin und ich hielt mich mit Autoreparaturen über Wasser. Naja, wir alle kannten uns seit der Schulzeit und so kamen wir immer wieder zusammen.
Um meine Freunde zu beeindrucken, habe ich mir noch schnell einen Gasgrill gekauft, so einen mit allen Schickimickis, damit der Grillnachmittag auch zum vollen Erfolg werden würde. Ein paar neue Gläser, Sekt, Likör, Bacardi und so weiter, alles vom Feinsten.
Als erstes kam Wolfgang, ein echter Haudegen. Er klopfte mir auf die Schulter und gratulierte mir lachend: „Jetzt hast Du es endlich auch geschafft, dein erstes Eigenheim…“. Wolfgang, Stefan und Iris hatten natürlich schon lange gebaut und moderne Häuser mit großen Glasfronten in der Villengegend am Westufer der Kieler Förde. Sogar Sabine hatte ein eigenes Haus, zwar von ihren Eltern geerbt und auch keine Villa, aber ihr eigenes Haus. Ich lebte in einer Zweizimmerwohnung und hatte diesen Schrebergarten.
Iris kam kurz danach, das heißt, sie stand am vierzig Meter entfernten Parkplatz, der durch eine Schranke vom Weg getrennt war, der zu meinem Garten führte. Sie rief herüber, dass ich die Schranke öffnen soll, damit sie hereinfahren könne. Sofort lief ich zu ihr hin und erklärte ihr, dass sie ihren Wagen auf dem Parkplatz abstellen müsse, weil das Befahren der Wege verboten sei. Sie schüttelte zwar den Kopf, stellte Ihren BMW dennoch auf dem Parkplatz ab. Sie sah toll aus, ihre blonden Haare toll frisiert und hochgesteckt, tolle rote Highheels, und ein tolles beigefarbenes Kostüm. Sie wusste schon immer, wie man sich gut kleidet. Eine tolle Frau.
Stefan kam in dem Moment auf den Parkplatz gefahren, als Iris gerade aus Ihrem Wagen stieg. Es hatte schon seit einigen Wochen nicht mehr geregnet und der Parkplatz war keine geteerte Fläche, sondern hatte lediglich einen Kiesbelag. Stefan war schon immer ein etwas forscherer Fahrer und so wirbelte seine Fahrweise auf dem Parkplatz eine mächtige Staubwolke auf, die bereits einen gelblichen Belag auf seinem schwarzen Audi hinterlassen hatte, bevor er ausgestiegen war. Er hatte dies natürlich bemerkt und hatte sich sicherlich über den Zustand des Parkplatzes geärgert, jedoch ließ er sich mir gegenüber nichts anmerken. Im Gegenteil, er suchte sofort interessiert das Gespräch und fragte mich, zu welchem Kleingärtnerverein mein Garten gehöre, wer dort im Vorstand sitze und wer für die Pflege der Gartenanlagen zuständig wäre. Ich fand, dass meine Freunde, obwohl sie Karriere gemacht haben, sehr bodenständig und nett waren.
Auf dem ungepflasterten Weg vom Parkplatz zum Garten knickte Iris einige Male mit ihren hochhackigen Schuhen um, was ihr aber offensichtlich nichts ausmachte, denn sie lächelte mich jedesmal dabei an, als ich sie aufzufangen versuchte. Sie war schon eine tolle Frau.
Sabine war in der Zwischenzeit auch angekommen. Sie war mit dem Fahrrad und ihrem Hund, einem schwarzen Mischlingsrüden, durch die Gartenanlagen gefahren und kam daher vom anderen Ende des Weges. Sie erzählte, dass sie bereits den ganzen Vormittag auf der Anlage unterwegs war, um sich die Gärten anzusehen und nun einen Bärenhunger habe.
Als erstes stießen wir mit Sekt an. Ich hatte natürlich keinen Kühlschrank und die Sonne schien bereits den ganzen Tag, daher hatte ich die Getränke in einer schattigen Ecke in meiner Laube gelagert. Ich hatte die Befürchtung, dass der Sekt etwas warm wäre, aber offensichtlich hatte er die richtige Temperatur, denn niemand ließ sich etwas anmerken. Sabine bevorzugte eine Flasche Bier, was ihr wie immer einige abfällige Blicke bescherte, zumal sie auch auf ein Glas verzichtete. Wir nahmen unsere Getränke in die Hand um einen Rundgang durch mein Paradies zu machen. Ich zeigte allen meine tollen Blumen, den gepflegten Rasen, die tolle Wegführung mit den Betonplatten und mein Gemüsebeet. Iris war besonders am Gemüsebeet interessiert. „Klasse, hier kannst Du ja deine eigenen Vitaminbeeren anbauen lassen. Hast Du schon jemanden eingestellt, der das für Dich macht? Ich kann ja meinen Gärtner fragen lassen, ob er jemanden empfehlen könne.“ Sie war wirklich eine tolle Frau, und so bemüht und immer hilfsbereit.
Sabine hatte sich von unserer Gruppe etwas abgesondert und betrachtete gedankenversunken die Blumenbeete, wobei sie sich hinhockte, um die Blüten aus nächster Nähe zu bewundern.
Stefan stand nunmehr auf der Rasenfläche und sah nach unten. „Eine Wespe!“ rief er. Iris schrie auf und ließ ihr Glas fallen, es zerbrach auf dem Betonweg. „Mach sie tot!“. Sofort schritt ich ein und zertrat das Ungeziefer. Iris beruhigte sich schnell wieder und lächelte mich an. Sie war eine tolle Frau und so tapfer. Stefan sagte, dass die Wespe auf einer Unkrautpflanze mit einer weißen kugelförmigen Blüte gesessen hatte, diese Pflanzen würden Wespen anlocken.
Während wir zur Terrasse zurückgingen, hatte Sabine sich bereits Handfeger und Schaufel besorgt, fegte die Scherben auf und murmelte etwas dabei. Es blieb mir nicht verborgen, jedoch konnte ich nicht genau verstehen, was sie meinte. Es hörte sich an wie „Fummel“ oder „Stummel“ und „Nee“ oder „Lee“. Ich konnte es nicht zuordnen, aber eine gewisse Abfälligkeit war nicht zu überhören.
Wolfgang hatte sich mittlerweile einen Bacardi eingeschenkt. Er war immer so selbtsicher, er hat sich die Flasche einfach selbst aus der Laube genommen, sich eines von den neuen Gläsern genommen und das Glas bis zum Rand gefüllt. Ein toller Typ, er stellte keine Fragen und nahm sich einfach was er haben wollte, ihn brauchte man nicht zu bedienen. Ich bewunderte ihn. So stand er nun breitbeinig auf der Terrasse und erklärte Stefan von irgendeinen neuen Vertriebsweg, den er entdeckt hatte. Ich verstand kein Wort und wandte mich Iris zu. Sie lächelte mich an und begann, von den Vitaminbeeren zu erzählen, die sie seit neuestem im Feinkostgeschäft führen. Die würden wahre Wunder bewirken. Nur drei Teelöffel dieser Beeren jeweils morgens mittags und abends würden den kompletten Vitaminbedarf decken, die Haut wird vor Falten geschützt, das Haar wird kräftig und das alles bei einem Preis von nur sechs Euro für 100 Gramm. Ihr Arzt hätte dies auch bestätigt, die Stuhlprobe hätte eindeutige Ergebnisse gezeigt. Sie war eine tolle Frau, wie Sie auf sich achtete und wie sparsam sie war.
Während wir uns über Vitaminbeeren und gesunde Ernährung unterhielten, bemerkte ich, dass Sabine bereits das Geschirr auf den Tisch gestellt und den Grill angeheizt hatte. Ich beobachtete gerade, wie sie das Fleisch auf dem Grillrost verteilte, als hinter mir Iris aufschrie und ich ein Glas klirren hörte. „Eine Ameise! Sie ist gerade mein Bein hochgekrabbelt!“ Sie schlug um sich und hüpfte umher, nach kurzer Zeit hatte sie das Tier offensichtlich abgeschüttelt, denn sie stand wieder ruhig da und lächelte mich an. Eine tolle Frau, so kämpferisch und stark.
Sabine nahm erneut Handfeger und Schaufel und fegte die Scherben zusammen, während sie etwas wie „Das ist Artur“ oder „Das ist Atur“ murmelte. Wieder konnte ich einen gewissen abfälligen Unterton wahrnehmen, ich wusste aber nicht, wer denn nun Atur oder Artur war und warum Sabine von ihm sprach. Führte sie Selbstgespräche?
Stefan sagte, dass man etwas dagegen unternehmen müsse, Ameisen können ganze Häuser zerstören und außerdem hätte diese nichts am Essenstisch zu suchen. Ich erinnerte mich, dass ich im Werkzeugschuppen einige Sprühdosen gesehen hatte. Vielleicht war ja irgendetwas gegen Ameisen dabei. Ich wollte ja schließlich nicht, dass die Ameisen meine schöne Gartenlaube zerstören, und erst recht nicht, dass Iris weiterhin der Gefahr ausgesetzt ist. So fand ich dort zwei Dosen Ungezieferspray. Mein Gartenvorbesitzer hatte wohl den gleichen Gedanken. Die eine Dose war halb voll, die andere noch randvoll. So nahm ich beide Dosen und versprühte den gesamten Inhalt auf der Terrasse. Iris lächelte mich wieder an. Sie war eine tolle Frau und so dankbar.
In der Zwischenzeit hatte Sabine das Essen serviert, für Stefan einen Martini eingeschenkt, Iris ein neues Glas mit Sekt überreicht und sich selbst eine Flasche Bier genommen. Mir hatte sie ebenfalls ein Glas Bier hingestellt. Wolfgang hatte sich seinen Bacardi bereits selbst ins Glas gefüllt. Iris hatte unterdessen aus Ihrer Handtasche eine kleine Dose genommen, die sie öffnete um den Inhalt auf ihren Teller zu schütten. „Ach Sabine, entschuldige. Hatte ich Dir nicht gesagt, dass ich kein Fleisch möchte? Ich habe ja diese neuen Vitaminbeeren aus dem Feinkostgeschäft.“ Sabine nahm daraufhin Iris‘ Teller und tauschte ihn gegen einen neuen aus auf dem Iris ihre Beeren nunmehr verteilte. Iris war schon eine tolle Frau, so höflich und zurückhaltend.
Stefan sprach nun davon, dass man im Garten alle Unkräuter und auch das Ungeziefer unbedingt bekämpfen müsse. Es würde nur wenige Tage dauern, bis sich alles wie eine Invasion ausbreiten würde. „In meinem Rasen befindet sich kein einziges Unkraut. Ich lasse meinen Gärtner täglich den Rasen untersuchen. Wenn er auch nur den kleinsten Ansatz eines Unkrauts feststellt, hat er die Anordnung, sofort mit dem richtigen Mittel zu sprühen. Ihr müsst wissen, so ein Rasen ist wie die Lackierung eines Autos. Der kleinste Kratzer oder der kleinste Staubkorn kann die ganze Optik nicht nur beeinflussen sondern auch zerstörerisch auf die Substanz wirken. Genauso ist es mit dem Unkraut. Hast Du Unkraut im Rasen, dann kommt auch das Ungeziefer, wie die Wespe vorhin.“
„Fummel“ oder“Ummel“ hörte ich wieder Sabine murmeln, während sie das Fleisch auf ihrem Teller zerschnitt.
„Ich habe meinem Gärtner alle möglichen Mittel zur Verfügung gestellt und keine Kosten gescheut, damit er diesem Einhalt gebieten kann. Ich schick Dir mal eine Liste zu.“ wandte Stefan sich mir zu. Ich wusste gar nicht, dass er soviel Ahnung vom Gärtnern hatte. Ich bat ihn, mir die Liste gleich morgen zukommen zu lassen. „Ich muss morgen sowieso zu deinem Chef, ich bring die Liste mit“ erwiderte Stefan.
Als wir mit dem Essen fertig waren, begann Sabine, den Tisch abzuräumen und uns neue Getränke einzuschenken, außer Wolfgang, er hatte sich bereits selbst das Glas gefüllt. So unterhielten wir uns weiter über die tollen Mittel, die es mittlerweile gegen alles Unerwünschte im Garten gibt. Es ist schon erstaunlich, wie die Forschung uns hilft, unseren Garten sauber zu halten. Im Schuppen fand ich noch einige Mittel von meinem Vorgänger, deren Wirkungsweise auf den Etiketten beschrieben waren und wir staunten, was die alles konnten.
Plötzlich schrie Iris, die als letztes noch aß und soeben ihre letzte Vitaminbeere auf ihre Gabel aufspießte, laut auf. Diesmal war es ein schmerzhafter Aufschrei. „Eine Mücke hat mich gestochen, ich hab genau gesehen, wie Sie auf meinem Unterarm saß und mit dem Stachel mein Blut saugte.“ Ich war wie gelähmt. Iris war aufgesprungen, dabei stieß sie gegen die Tischkante und ihr Glas fiel zu Boden. Sie war den Tränen nahe. „Was ist, wenn ich jetzt allergisch auf das Gift reagiere?“ Stefan reagierte sofort: „Ich fahr Dich zur Notaufnahme!“ Schnell half ich, Iris’ Sachen zusammenzupacken und erntete ein Lächeln, während sie Ihre Handtasche von mir entgegennahm. Sie war eine tolle Frau, selbst in der Not konnte sie sich noch ein Lächeln abringen.
So brachte ich Iris gemeinsam mit Stefan zu dessen Auto. Er versprach Iris noch, dass er ihr Auto abholen lassen würde und so verabschiedeten wir uns. Iris lächelte mir noch von der Beifahrerseite aus zu, während Stefans Audi beim Anfahren Staub aufwirbelte. Eine tolle Frau.
Als ich in meinen Garten zurückkam, hatte Sabine bereits die Scherben aufgefegt und das Geschirr abgewaschen. Wolfgang war im Stuhl eingeschlafen, sein Glas in der Hand. Sabine räumte alle Reste zusammen, wischte den Tisch ab und reinigte den Grill, während ich für Wolfgang ein Taxi rief.
Das Taxi kam keine fünf Minuten später. Sabine und ich brachten Wolfgang zum Parkplatz, jedoch weigerte sich der Fahrer, ihn mitzunehmen, da er zu betrunken sei. Sabine sprach kurz mit dem Fahrer, nahm einen Geldschein aus der Hosentasche ihrer Jeans und konnte ihn so überreden, Wolfgang doch nach Hause zu fahren. Sie nannte ihm die Adresse und so fuhr das Taxi mit Wolfgang, der auf dem Rücksitz lag, los.
Zurück im Garten nahm Sabine sich noch eine Flasche Bier und ging langsam durch meinen Garten, immer nachdenklich die Blumen betrachtend. Bald verabschiedete sie sich, bedankte sich für den schönen Nachmittag und wünschte mir einen schönen Abend. Sie rief ihren Hund, der es sich während des ganzen nachmittags in einer schattigen Ecke des Gartens bequem gemacht hatte, nahm ihr Fahrrad und wählte den Weg den sie gekommen war. Sie drehte sich noch einmal um, winkte mir über die Hecke zu und lächelte.
Ich dachte an Iris. Sie war wirklich eine tolle Frau.
Am nächsten Tag, kurz bevor ich Feierabend hatte, ich zog gerade die letzten Schrauben am Hinterrad eines Fiat fest, brachte Stefan mir wie versprochen die Liste der Mittel vorbei. Die benötigte ich auch dringend, ich hatte bereits gestern Abend nach so kurzer Zeit so viele Unkräuter im Rasen und jede Menge Ungeziefer entdeckt. Stefan hatte recht, die Invasion hatte begonnen. Er hatte wirklich Ahnung vom Gärtnern.
Ich erkundigte mich nach Iris‘ Befinden. Stefan sagte, es ginge ihr schon deutlich besser, nachdem sie in der Notaufnahme eine homöopathische Salbe aufgetragen bekommen hat. Eine allergische Reaktion blieb gottlob aus. Iris sagte, dass sie das Glück hatte, die Vitaminbeeren im Feinkostgeschäft entdeckt zu haben. Sie ist überzeugt, dass diese einen allergischen Schock verhindert hätten. Heute morgen hatte Stefan sie zur Nachbehandlung zu ihrem Arzt gefahren, und dieser hätte dieses auch bestätigt. Ich war beruhigt.
Als ich mich von Stefan verabschiedete, bemerkte ich, dass er zwar zu seinem Auto ging, aber nicht einstieg, er sah sich kurz um und ging zu Fuß weiter. Ich wunderte mich kurz, schloss aber dann die Werkstatt ab und fuhr mit der Liste zum Gartencenter, ich konnte keinen Aufschub zulassen. Noch einmal dürfte so etwas nicht geschehen, dass einer meiner Gäste in Gefahr gerät.
„Hallo Klaus!“ Ich stand gerade vor dem verschlossenem Glasschrank im Gartencenter als ich hinter mir Sabines Stimme hörte. „Hallo Sabine, was machst du denn hier?“ Sabine lachte. „Ich verkaufe hier alles was mit Garten zu tun hat. Die guten und die schlechten Sachen. Und zwar seit wir vor sechzehn Jahren die Schule verlassen haben.“ Ich erwiderte etwas beschämt: „Da kennen wir uns von Kindheit an, und ich weiß nicht einmal wo Du arbeitest. Warum hast Du das nie erzählt?“ „War mir nie so wichtig, alles nach außen zu kehren.“ sagte sie nur. „Was brauchst Du? Willst Du Stefans Liste abarbeiten?“ Das sagte sie ohne ein Lächeln. „Ja, du kannst ja gar nicht glauben, was für tolle Mittel er mir aufgeschrieben hat. Es gibt ja wirklich für jedes Problem im Garten eine Lösung. Stefan hat wirklich Ahnung vom Gärtnern.“ „Ja, ich weiß. Besonders gut kennt Stefan sich mit Hummeln und Klee und sowieso mit der Natur aus.“ Jetzt lächelte sie wieder. Ohne ein Lächeln nahm sie Stefans Liste, schloss den Glasschrank auf und suchte für mich alle Produkte zusammen. Danach verschloss sie den Schrank sofort wieder. Es müssen schon sehr wertvolle Mittel sein, wenn sie so streng unter Verschluss stehen wie der Schmuck beim Juwelier.
„Hast Du nicht Lust, mich heute Abend auf eine Flasche Bier zu besuchen?“ fragte Sabine mich ganz unvermittelt. Irgendwie war sie anders als unsere Freunde.
„Oh, das tut mir leid, heute kann ich nicht. Ich muss heute noch das Unkraut und die Ungeziefer bekämpfen, ich fürchte, sonst ist es zu spät. Und morgen muss ich nachsehen, ob es gewirkt hat und vielleicht Stefan nochmal um Hilfe bitten. Aber übermorgen könnte ich vorbeikommen.“
„Na dann bekämpfe mal schön, übermorgen passt bei mir auch gut. Ich freue mich.“
Auf dem Weg zur Kasse drehte ich mich noch einmal um und bemerkte, dass sie mir mit einem etwas bedrücktem Blick hinterhersah, doch dann lächelte sie und winkte mir zum Abschied zu. Ich dachte an Iris, Iris war eine tolle Frau.
An der Kasse zahlte ich 350 Euro. Wertvolle Mittel, wie der Schmuck beim Juwelier. Stefan hatte wirklich Ahnung vom Gärtnern.
Zurück im Garten war ich gewappnet. Ich hatte alle Waffen, um die Invasion zu stoppen. Als ich die erste Flasche öffnete, um das Rasenunkrautvernichtungsmittel in die Gießkanne zu füllen, klingelte mein Handy. Es war Herr Martens vom Vereinsvorstand, vor sechs Tagen hatte er mir den Garten verpachtet. Als ich an dem Tag in seinem Büro saß, wirkte er auf mich überhaupt nicht wie der typische Kleingärtner, wie man ihn sich vorstellt und schon gar nicht wie jemand, der im Vorstand eines Kleingärtnervereins sitzt. Ich hatte mir einen älteren Herren im Rentenalter mit etwas antiquierter Kleidung und genau solchen Ansichten vorgestellt. Jemand, der mit erhobenem Zeigefinger die Regeln des Vereins auswendig aufsagen kann und bereits jetzt mit der Kündigung droht, wenn meine Hecke nicht geschnitten ist. Doch als ich die Bürotür öffnete sah ich neben gerahmten Fotos von prachtvollen Gärten an der Wand am Schreibtisch einen ganz normalen Typen mit Jeanshose und T-shirt in den Dreißigern sitzen. Klischees sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. So hatte ich nach kurzem, angenehmen Gespräch meinen Vertrag in der Hand und war Pächter eines Kleingartens.
„Können sie morgen Abend nochmal ins Büro kommen?“ „Ja, worum geht es denn?“ „Nichts schlimmes, ich möchte es trotzdem nicht am Telefon klären“
Ich willigte ein und widmete mich wieder meinem Kampf gegen die Invasion. Versehentlich hatte ich etwas von dem Mittel verschüttet als ich nach dem Handy griff. Nur ein kleiner Tropfen, aber der erfasste eine Löwenzahnpflanze, die, kaum in Kontakt mit dem Mittel geraten, bereits jetzt schon braun wurde und die Blätter hängen ließ. Ein wahres Wundermittel. Stefan hatte echt Ahnung vom Gärtnern.
Von diesem schnellen Erfolg beflügelt, mischte ich das Mittel in der Gießkanne mit Wasser an, wobei ich eine etwas höhere Dosierung als auf der Verpackung angegeben wählte und benetzte die gesamte Rasenfläche mit der Mischung. Ich fühlte mich toll. So verwendete ich alle Mittel im Garten. Eines gegen Unkräuter im Blumenbeet, eines gegen Blattläuse, eines gegen Unkräuter im Gemüsebeet und verschiedene Mittel gegen Ungeziefer in der Laube, um die Laube herum und im Garten. Und natürlich auch noch ein Mittel gegen Ameisen, zur Sicherheit.
Danach nahm ich mir eine Flasche Bier genoss die Abendsonne und dachte an Iris.
Aber irgendetwas kam mir merkwürdig vor.
Tags darauf stellte ich fest: Ein voller Erfolg. Alle Unkräuter waren abgestorben, es war keine Blattlaus zu sehen, egal wie sehr ich auch suchte, kein Ungeziefer schwirrte herum und Ameisen konnten mir und meiner Laube auch nichts mehr anhaben. Ich habe immer wieder gehört, dass ein Garten viel Arbeit bedeutet. Das konnte ich nun überhaupt nicht bestätigen. Vielleicht hatten diejenigen, die das behaupteten auch nicht das Wissen, das Stefan mir vermittelt hatte. Der hatte echt Ahnung vom Gärtnern. Ich brauchte jedenfalls nichts weiter zu tun als mich in den Stuhl zu setzen und meinen Garten zu genießen. Herrlich.
Als ich in der Nachmittagssonne in meinem Liegestuhl döste, bemerkte ich, dass jemand an der Gartenpforte nach mir rief. Es war Sabine, die mit ihrem Hund mal wieder einen Streifzug durch die Gartenanlagen unternahm. „Ich dachte, ich guck mal rein“ sagte sie fröhlich „Ich habe heute meinen freien Tag, und als wir vorgestern gegrillt hatten, habe ich diese Gartenanlagen als neue Gassistrecke für Walter entdeckt.“ Sie war wirklich anders als unsere Freunde. Die hätten ihren Hund Hasso genannt oder Harro. Sabines Hund hieß Walter. Wir tranken zusammen eine Flasche Bier, während ich ihr von meinem erfolgreichen Kampf erzählte. „Ja, Stefan ist ein guter Lehrmeister, was die Natur angeht“ sagte sie und lächelte dabei. Dem konnte ich nur zustimmen. Eine Zeitlang saßen wir schweigend nebeneinander und ich fühlte mich in dem Moment sehr wohl. Doch irgendetwas kam mir merkwürdig vor.
Sabine musste weiter und ich hatte ja auch noch den Termin bei Herrn Martens. Also verabschiedeten wir uns und ich versprach ihr, Sie am nächsten Tag besuchen zu kommen. Sie winkte mir von ihrem Fahrrad aus zu und lächelte. Walter bellte kurz zum Abschied.
Herr Martens bat mich in sein Büro. Er wirkte etwas angespannt, als wüsste er nicht wie er das Gespräch anfangen soll. „Kennen Sie einen Stefan Breitling?“ „Ja, wieso?“ „Na ja, der Herr war gestern hier und hat uns einen Kostenvoranschlag für die Neulackierung seines Autos überreicht mit der Aufforderung, wir hätten die Kosten zu übernehmen. Sein Wagen wäre durch die Staubentwicklung auf dem Parkplatz so in Mitleidenschaft gezogen worden, dass eine neue Lackierung nötig wäre.“ Ich war vollkommen perplex und konnte kein Wort hervorbringen. Herr Martens sagte mir noch, dass es für mich keine Folgen haben würde und die Kostenübernahme durch den Verein überhaupt nicht infrage käme. Er würde mich jedoch bitten zu versuchen, Stefan diese Sache auszureden. Auf dem Weg nach Hause konnte ich langsam meine Gedanken wieder sortieren. Hatte Stefan mich bei seinem Eintreffen zu meiner Grillparty nicht gefragt, wer für die Gartenanlagen zuständig ist? Stefan, der Gartenfachmann?
Sabine öffnete die Tür. „Komm rein. Schön, dass Du da bist. Geh ruhig schon mal durch und setz Dich auf die Terrasse, ich gebe Walter noch kurz sein Futter.“ Ich ging durch das hellgestrichene Wohnzimmer mit den Bücherregalen. An den Buchrücken erkannte ich, dass sie viel über Natur und Gärten las. Sicherlich beruflich bedingt, dachte ich, schließlich arbeitet sie in einem Gartencenter. Ich setzte mich auf einen der vier Stühle, die um einen kleinen runden Tisch auf der Terrasse gruppiert waren. Es war gemütlich hier. Die Vögel sangen in der Abendsonne, Bienen flogen auf der Suche nach Nektar umher, überall sirrte, summte und zwitscherte es in der Luft.
Sabine kam mit zwei Flaschen Bier in der Hand auf die Terrasse und lächelte mich an. Mir war bisher noch nie aufgefallen, wie hübsch sie eigentlich war. Ihre langen, dunkelbraunen, fast schwarzen Haare waren zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, wobei der Pony in feinen Strähnen teilweise ins braungebrannte Gesicht fiel. Erste zarte Falten zierten ihre Augen. Ihre Jeans saß fest am kräftigen und wohlgeformten Körper, über ihr T-Shirt hatte sie eine Bluse gezogen, die vor ihrem flachen Bauch zugeknotet war. Sie wirkte wie ein Cowgirl. Was ich in dem Moment, als ich sie ansah jedoch am meisten bemerkte war ihre Ausgeglichenheit. Sie strahlte eine unglaubliche innere Ruhe aus, die mit einer mentalen Stärke einherging. Ich dachte kurz an Iris.
Wir tranken das Bier und redeten kaum. Trotzdem war es kein angespanntes Schweigen, sondern eines, das man in gewissen Momenten genießt. Die Geräusche um uns herum bildeten die Hintergrundmusik. Ich fühlte, dass in mir eine unbeschreibliche Zufriedenheit aufkam.
Sabine holte ein zweites Bier aus dem Kühlschrank, als mir die kuriose Geschichte mit Stefan wieder einfiel. Irgendwie brannte es mir auf der Seele und erzählte es Sabine. Sie hörte mir schweigend zu, während sie die Bierflaschen an der Tischkante öffnete. Sie war wirklich anders als unsere Freunde. Als ich zu Ende berichtet hatte, begann sie zu lachen, wobei sie sich verschluckte. Noch hustend sah sie mich an und sagte: „Stefan ist blank, pleite, bettelarm. Sein Haus mit dem ach so gepflegten Garten mit seinen Koniferen und der blitzeblanken Rasenfläche gehört ihm schon lange nicht mehr. Deswegen ist er auch hinter Iris her. Er weiß nur nicht, dass sie in einer ähnlichen Situation steckt. Sie hat zwar noch etwas, aber das sind hauptsächlich veruntreute Gelder. Da ist auch die Staatsanwaltschaft dran. Stefan versucht, auf jede erdenkliche Art und Weise, an Kohle heranzukommen.“
Jetzt war ich baff. Stefan. Iris. Ich verstand die Welt nicht mehr. Das waren meine Freunde. Wieder musste ich meine Gedanken sortieren. Diesmal konnte ich mich aber schneller wieder fassen. Wir schwiegen wieder und lauschten dem Gezwitscher der Vögel und dem Sirren der Insekten. Ich fühlte mich wieder geborgen, wusste aber nicht warum. Ich konnte mir diese innere Ruhe, die ich an diesem Ort verspürte einfach nicht erkären. Irgendwann schlief ich ein und als ob Sabine meine Gedanken lesen konnte, hörte ich sie wie in einem Traum flüstern: „Bald wirst Du es erfahren.“
Später am Abend weckte sie mich und ich fuhr nach Hause. Ich dachte nicht an Iris.
Am nächsten Nachmittag saß ich wieder in meinem Liegestuhl auf meiner Terrasse und wollte meinen Sieg und die verhinderte Invasion genießen. Doch wieder hatte ich keine Ruhe. Ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Anders als am Vorabend, als ich bei Sabine auf der Terrasse saß und sogar eingeschlafen bin, konnte ich die Stille in meinem Garten nicht genießen. Ständig dachte ich darüber nach, was jetzt meine innere Unruhe ausgelöst haben könnte. In meinen Gedanken versunken schrak ich plötzlich auf als Iris unversehens vor mir stand. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie in meinen Garten gekommen war. Sie hatte wieder das beigefarbene Kostüm und die roten Schuhe an. Allerdings kam es mir so vor, als wenn ihre Kleidung nicht mehr ganz frisch war. So, als hätte sie sie bereits mehrere Tage hintereinander getragen.
Sie wirkte aufgebracht, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich wäre fast gestorben. Ich hoffe, du hast eine gute Versicherung. Ich werde dich nämlich auf Schadenersatz verklagen.“ Ich konnte ihr nicht ganz folgen und hakte nach. „Das weißt du ganz genau. Deine blöden Viecher, dein Ungeziefer. Wir haben ja schon immer gewusst, dass du ein Loser bist, aber Dein verschissener Ungeziefergarten ist ja wohl die absolute Krönung. Ich kann nur froh sein, dass ich dein Gammelfleisch nicht gegessen habe, sonst wär ich wohl jetzt im Grab. Ich hab es geahnt, deswegen hatte ich in weiser Voraussicht auch meine Vitaminbeeren mitgebracht. Die haben mir nämlich das Leben gerettet. Mein Arzt hat insgesamt zwölf Mückenstiche gezählt und für jeden einzelnen wirst du zahlen.“
War ich wirklich verantwortlich? Aber sie hatte doch gar keine allergischen Reaktionen, hatte Stefan erzählt. Ich konnte nicht mehr klar denken. Stefan, Iris, pleite, Schadenersatz, Mückenallergie. Das war zu viel.
Als ob das noch nicht genug wäre, sah ich Stefan auf meine Pforte zukommen. Er trat sie mit dem Fuß auf, und ohne eine Begrüßung fuhr er mich an: „Wo ist mein Wagen?“.
Stefans Audi. Vorgestern stand das Auto noch vor der Werkstatt, blitzblank poliert, vom Parkplatzstaub keine Spur mehr, Stefan war an dem Tag zu Fuß gegangen. Ich konnte mich noch gut an den verstohlenen Blick erinnern, als er sich umsah. Gestern allerdings war der Wagen verschwunden.
„I- Ich weiß nicht. Was geht hier vor?“ erwiderte ich verwirrt.
„Wo ist Dein Chef. Die Werkstatt ist geschlossen, niemand zu sehen und du sitzt hier.“
„Wir hatten nicht viel zu tun, also hat mein Chef mir freigegeben. Verlängertes Wochenende. Verstehst du? Ich weiß nicht, wo er ist. Ich glaube, er wollte über das Wochenende weg fahren.“
Während Iris und Stefan vor Wut schnaubend vor mir standen, bemerkte ich, dass Sabine hinter der Hecke stand und dem Tumult in meinem Garten zusah. Nun ging sie auf die Pforte zu und trat ein, Walter folgte ihr. Mit ihrer unbeschreiblichen Gelassenheit betrat sie zunächst die Laube und kam mit zwei Flaschen Bier wieder heraus. Sie stellte sich neben mir auf und reichte mir eine Flasche herüber. „Prost!“ sagte sie zu meinen beiden Kontrahenten. „Sekt und Martini ist leider alle, sonst hätte ich euch auch etwas eingeschenkt.“ fuhr sie fort. Sie lächelte Iris und Stefan an. Beide waren verstummt. Ich saß immer noch auf meinem Stuhl, links neben mir stand Sabine, rechts von mir hat sich Walter postiert. Vor uns standen zwei etwas heruntergekommen wirkende Personen, von denen ich einst dachte, dass es die tollsten Freunde wären, die man haben konnte.
„Stefan, dein Auto hat Dir nie gehört, du hast nicht einmal die erste Rate an meinen Onkel gezahlt.“
„D-dein Onkel?“
„Ja, der Bruder meiner Mutter, Klaus‘ Chef“
Es wurde immer verrückter. Mein Chef war Sabines Onkel?
„Als Du ihn vorgestern aufgesucht hast, weil du einen Kostenvoranschlag für eine neue Lackierung brauchtest, hat er den Wagen einbehalten. Das hast du Klaus wohl nicht erzählt, was?“
Stefan hat also versucht, Geld aufzutreiben, um seine Raten zahlen zu können.
„Du hast meinem Onkel versprochen, das Geld noch abends zu bringen. Er hat schon zu dem Zeitpunkt gewusst, dass er vergebens warten würde.“
Sabine führte weiter aus, dass sie nun ihrem Onkel den Wagen abgekauft hätte. Er stünde nun bei ihr. Ich fragte mich kurz, woher sie als einfache Verkäuferin das Geld für einen solchen Wagen hatte, konnte aber keine Antwort finden.
Stefan war verstummt. Er blickte auf den Boden, zertrat mit dem rechten Fuß ein Insekt, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Jetzt stand nur noch Iris da. Seit Sabine den Schauplatz betreten hatte, schien sie wie erstarrt. Sie spürte wohl, dass nun sie an der Reihe war. Sabines Augen strahlten wieder diese unglaubliche innere Ruhe aus, als sie Iris fixierten. „Was Dich vergiftet hat, ist die Gier nach Geld. Mückenstiche lösen bei Dir keinen allergischen Schock aus. Du versuchst nur, jede Gelegenheit zu nutzen, um daraus Kapital zu schlagen. Immer schön lächeln, ist deine Devise. Damit wiegst Du jeden in Sicherheit, um dann aus dem Hinterhalt zuzuschlagen. So hast Du es auch geschafft, Maklercourtagen doppelt zu kassieren. Glücklicherweise fällt nicht jeder darauf herein. Der Staatsanwalt schon gar nicht.“
Ich Trottel BIN darauf hereingefallen.
Iris ging ohne ein Wort. Sabine rief ihr hinterher: „Ich soll Dir von Yussuf ausrichten, dass Du bei ihm keine Himbeeren mehr bekommst und Hausverbot hast. Du hast wohl gedacht, dass so ein kleiner türkischer Obsthändler keine Kameraüberwachung hat. Du bist in Großaufnahme zu sehen, wie Du gerade deine ,Vitaminbeeren‘ stiehlst.“
Yussuf war damals auch auf unserer Schule und hatte ein kleines Obst- und Gemüsegeschäft eröffnet. Offensichtlich hatte Sabine immer noch Kontakt zu ihm… und Iris auch, nur eher auf die negative Art und Weise.
Als Iris auch endgültig am Ende des Weges verschwunden war, nahm Sabine sich einen Stuhl und setzte sich zu mir. Ich konnte nichts mehr sagen und hatte das ungute Gefühl, dass Sabine nun mit mir abrechnen würde. Ich wusste zwar nicht was, aber irgendetwas musste ich auch falsch gemacht haben. Daher verspürte ich auch immer wieder diese innere Unruhe.
Gerade wollte ich sie fragen, als sie den Zeigefinger auf ihre Lippen legte. Ich sagte nichts und so saßen wir schweigend da und lauschten der absoluten Stille, bis Sabine mich fragte, ob mir etwas auffiele. Ich schüttelte den Kopf. Was meinte sie? Statt einer Antwort nahm sie meine Hand, deutete mir, aufzustehen und sagte: „Komm mit zu mir, ich möchte Dir etwas zeigen.“ Aus irgendeinem Grunde war ich froh, diesen Ort der merkwürdigen Geschehnisse zu verlassen. Was auch immer es war, etwas stimmte hier nicht.
Bei Sabine angekommen, wartete ich kurz im Wohnzimmer auf sie, während sie Walter Futter gab. Ich betrachtete wie beim gestrigen Besuch ihr Bücherregal und sah mir die Buchrücken nun genauer an: „Sabine Wichert, Natürlicher Pflanzenschutz“, „Sabine Wichert, Natur hilft sich selbst“, „Sabine Wichert und Prof.Dr. Ernst Winckelmann, Grünes Gleichgewicht“. Unzählige Bücher. „Das sind nur Worte“ sagte sie hinter mir. „Ich dachte, Du bist Verkäuferin“ sagte ich verwirrt. „Bin ich auch. Ich habe mich aber seit meiner Kindheit mit diesem Thema beschäftigt und bin wohl sowas wie eine autodidakte Expertin geworden. Du weißt ja, ich war immer sehr still in der Schule, eher eine Außenseiterin. Wenn man sich mit Blättern und Käfern beschäftigt, ist man bei Gleichaltrigen Jugendlichen nicht sonderlich angesagt. Du hast mich ja auch kaum beachtet. Hab ich dir aber nie übelgenommen. Irgendwie war ich ja trotzdem immer dabei und konnte in deiner Nähe sein. Den Job der Verkäuferin wollte ich aber trotz der Bücher nicht aufgeben, er gibt mir eine Form der Sicherheit.“.
Sie nahm wieder meine Hand und begann, mich durch ihren Garten zu führen. Bereits bei den ersten Schritten spürte ich, dass meine Verwirrtheit wieder dieser inneren Ruhe wich. Die Vögel zwitscherten, Insekten sirrten um uns herum. Sabine zeigte mir eine Blume mit einer kleinen, offenen Blüte, auf der eine Biene saß und Nektar trank, einen Reisighaufen, von dem sie sagte, dass hier ein Igel wohne. In der sattgrünen Rasenfläche konnte ich Löwenzahn und Klee ausmachen. Vögel liefen darauf herum und pickten sich Insekten und Würmer für Ihre Jungen heraus. Blattläuse, die von Marienkäfern verspeist wurden, Schmetterlinge, die umherflogen. Hier waren viele Unkräuter in den Beeten zu sehen, aber irgendwie störte es nicht. Der Garten wirkte trotzdem auf seine Weise gepflegt, alles hatte seine Ordnung.
Sabine stellte sich hinter mich und hielt mir mit den Händen beide Augen zu. Dann flüsterte Sie: „Fällt es dir jetzt auf? Lass die Augen zu und versuche mit den Ohren zu sehen.“ Sabine nahm die Hände von meinen Augen, die ich geschlossen hielt. Ich lauschte: Rechts neben mir hörte ich ein helles Sirren, hinter mir Vogelgesang, links ein Summen. Ich bemerkte, dass um uns herum eine Vielfalt von Geräuschen die Luft erfüllte. Es schien als würden alle Stimmen der Tiere gemeinsam mit dem seichten Wind eine unbekannte Melodie spielen.
Nun nahm ich es das erste Mal bewusst war und endlich begriff ich: Leben, hier war Leben, hier tobte das Leben. Mein Garten war tot. Vergiftet von Stefans tollen Wundermitteln. Wie das Geld Stefan und Iris‘ Leben vergiftet hatte, haben die Mittel meinen Garten vergiftet. Sabines Garten war laut, in meinem herrschte Grabesstille. Das war es, was mir im Unterbewusstsein Unbehagen beschert hatte. Ich hatte meinen Garten getötet.
Ich öffnete die Augen. Sabine stand vor mir und lächelte mich an. Ich sah sie an und war plötzlich überwältigt. Ich blickte die schönste Frau an, der ich je begegnet bin.
„Jetzt weißt Du es.“ sagte sie leise.
Wir setzten uns ins Gras, hielten uns schweigend die Hände, lauschten dem Leben und beobachteten eine Hummel auf dem Klee.