Die Hoffnung stirbt zuletzt
Der Krieg war vorbei. Endlich. Nichts sehnlicher hatten sich die Menschen gewünscht. Doch nun, nach den Jahren des Gräuels, begannen die Jahre des Jammers. Die Überlebenden des Krieges beneideten die Toten, denn die Toten konnten nicht den entsetzlichen Hauterkrankungen erliegen, die seit dem Chemiewaffeneinsatz wild um sich schlugen. Jeder Mensch war betroffen. Bei manchen zeigten sich die Symptome schon sehr auffällig, aber bei anderen war es nicht der Fall. Dennoch waren sie infiziert, doch die Folgen des Chemiewaffeneinsatzes würden bei ihnen erst später ausbrechen.
Carol Fraser, eine junge Ärztin, hatte sich zum Ziel gesetzt, die entsetzlichen Hauterkrankungen zu bekämpfen. Sie hatte gerade erst in Princeton ihren Abschluss gemacht, doch merkte man ihr nicht den Status eines „Frischfleisches“ an. Carol hatte die Routine eines „alten Hasen“. Schon als Kind wollte sie jedem helfen, doch stieß ihre Hilfe meist auf Missgunst, denn die Jahre des Krieges hatten die Menschen verbittert.
So etwas wie Gesetze gab es nicht mehr. Der europäische Kontinent, der unter dem Einsatz von Chemiewaffen am stärksten gelitten hatte, war stark entvölkert und Länder wie Frankreich, Deutschland oder Polen hatten keine Staatsoberhäupter mehr, weil es kein Volk mehr gab, das man regieren konnte. Weshalb damals überhaupt der Krieg ausgebrochen war, wusste heute niemand mehr genau.
Carol, die aus reichem Hause stammte und nur dadurch die Gelegenheit bekam, während des Krieges eine Schule zu besuchen, dachte oft darüber nach. Einige Leute munkelten, dass der Auslöser des Dritten Weltkrieges das Attentat auf das World Trade Center gewesen war, andere wiederum sagten, dass der Streit um die Rohstoffe schuld daran gewesen sei, was für Carol plausibler klang.
Der Krieg begann damals wohl zuerst rein konventionell. Von der Schule her wusste sie, dass das Öl knapp geworden war und sich die westliche und arabische Welt zu Verhandlungen getroffen hatten. Die Schulweisheit hatte sie gelehrt, dass die Verhandlungen zu nichts geführt hatten und sich die Ölknappheit zu einem atomaren Krieg entwickelte, der schließlich zum Kampf mit chemischen Waffen eskaliert war. Doch eine hundertprozentige Gewissheit, dass dies alles der Wahrheit entsprach, konnte man ihr selbst in der Schule nicht geben, da alle Aufzeichnungen während des Krieges vernichtet wurden. Menschen, die dies hätten bestätigen können, waren schon lange tot. Es war überhaupt ein Wunder, dass heute noch Menschen auf dem ehemals grünen Planeten wohnten.
Carol war gerade dabei neues Verbandmaterial aus einem Schrank zu holen, da in wenigen Minuten die ersten Patienten ihre Praxis, die aus einem einfachen Zelt bestand, aufsuchen würden. Die junge Frau fand an ihrem Beruf gefallen, obwohl sie ihn gerne unter anderen Umständen ausführen würde. Ihr Zelt, das gleichzeitig als Wohnung und Praxis diente, war von zahlreichen Rissen übersät. Hier im nirgendwo, irgendwo zwischen Deutschland und der Schweiz, hatte sie für die nächsten Monate ihr zuhause gefunden. Sie gehörte einem Ärzteverbund an, der schon seit fast zwei Jahren durch Europa zog, um die überlebenden Menschen medizinisch zu versorgen oder, wenn es nicht mehr anders ging, ihnen einen schmerzlosen Tod zu ermöglichen. Neben ihrem Zelt standen noch weitere Zelte, vor denen schon einige Menschen standen und warteten, bis der behandelnde Arzt die Praxis öffnen würde. Carol hatte sich alles zu Recht gelegt, drehte sich um und verharrte in ihrer Bewegung. Da war etwas. Irgendjemand erzeugte ein sonderbares Geräusch, das ihr schon einmal begegnet war. Die junge Ärztin öffnete den Reißverschluss des Zeltes und ging hinaus. Der Himmel war voller dicker, grauer Wolken, die der Sonne schon seit Jahren keine Chance gaben, einen Sonnenstrahl auf den Boden fallen zu lassen. Carol schaute sich um. Das Geräusch war weg. Sie wollte sich soeben umdrehen, um ins Zelt zurückzukehren, als das Geräusch erneut erklang. Es kam von einem Baum, der ohne Blätter und halbvermodert, in der Landschaft stand. Und nun sah Carol, wer für das Geräusch verantwortlich war.
Ein kleiner Vogel saß auf einem Baumstamm und sang fröhlich vor sich hin. Jetzt wusste Carol wieder woher sie das Geräusch kannte. In der Schule hatte sie sich zahlreiche Animationen über Vögel angehört. Sie hatte Musikdateien abgespielt und sich die verschiedenen Klänge diverser Vögel eingeprägt, doch in der Natur hatte sie noch nie einen Vogel gesehen. Wenn sie den Gesang des Vogels richtig einordnen konnte, musste es sich hierbei um ein Rotkehlchen handeln. Aber wie war das möglich? Auf der Erde existierten seit mehreren Jahrzehnten keine Tiere mehr! Und in Europa schon erst gar nicht. Durch den weitreichenden atomaren Fallout waren alle Tiere in Europa schon nach wenigen Monaten nach Ausbruch des Krieges verendet. Das gleiche galt für den Rest der Welt. Dieser Vogel, den Carol auf dem Baum vor sich sah, dürfte überhaupt nicht existieren! Wie sollte er überlebt haben? Plötzlich spürte sie, wie ein sonderbares Gefühl ihren Rücken wärmte. Sie drehte sich um und kniff ihre Augen zusammen. Das war doch nicht möglich. Die Wolkendecke riss auf und die Sonne nahm ihren rechtmäßigen Platz ein.
Seit mehr als fünfunddreißig Jahren hatte kein Mensch mehr die Sonne erblickt. Fünf Milliarden Menschen waren seitdem gestorben und niemand hatte mehr daran geglaubt, irgendwann in seinem Leben noch einmal die Sonne zu sehen. Die Patienten vor den Zelten hatten die Sonne natürlich auch bemerkt. Einige tanzten wild umschlugen auf dem toten Boden herum, andere fielen auf die Knie und falteten ihre Hände zu einem Gebet zusammen. Man sagt, die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte Carol, und wer auch immer dieses Zitat erfunden hatte, hatte Recht.
Eine ältere Frau, durch die Folgen des Krieges gezeichnet, kam auf Carol zu.
„Entschuldigung. Bitte, können Sie mir helfen?“, fragte sie und streckte Carol ihren Arm entgegen, der von Eiterpusteln übersät war. Carols Blick sank vom Himmel herab auf die gebrechliche Frau.
„Ich komme sofort. Gehen Sie schon einmal ins Zelt!“
Die Frau tat wie ihr aufgetragen wurde und verschwand wenige Augenblicke in Carols Praxis.
Carol drehte sich noch einmal zu dem Rotkehlchen um, das immer noch auf dem Zweig saß und fröhlich sein Lied sang. Ein Lächeln machte sich in ihrem Gesicht breit und sie wusste, dass die Zeit der Sorgen und des Leid ein Ende finden würde. Sie machte kehrt und verschwand wenige Momente darauf in ihrem Zelt, vor dem sich schon andere Patienten versammelt hatten.