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Die Himmelsfarbe

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21.05.2010
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Die Himmelsfarbe

„Na, Fräulein GuckindieLuft, träumst du wieder mal den Himmel blau?“
„Aber Papa, der Himmel ist doch schon blau, das ist doch die Himmelsfarbe!“
„Blau ist die Himmelsfarbe, das stimmt. Aber das war nicht immer so.“
„Ach Papa, das glaub ich nicht. Ich denk, das ganze große Blau, das war bestimmt schon immer so.“
„Hm, wenn du mir nicht glaubst, bleibt mir wohl nichts anderes übrig: Ich muss dir eine Geschichte erzählen. Magst du?“
„In Ordnung, ich seh in den Himmel und hör Dir zu.“
„Na dann:

In einer Zeit, lange vor der unsrigen, war der Himmel über der Welt von einem einheitlichen Grau. Das Grau war ganz glatt, am Tag heller und in der Nacht dunkler, aber das war auch schon alles, was sich an dem Grau veränderte. Die Sonne ließ es manchmal ein wenig glänzen, wie Metall. Das blendete dann. Der Regen schien direkt aus dem Grau zu fallen. Aber, wenn der Regen aufhörte, war das Grau noch immer da, unversehrt.
Die Menschen zu jener Zeit lebten ganz ähnlich wie wir heute. Sie lachten, weinten, liebten und stritten sich, gingen zur Arbeit, waren krank, wurden wieder gesund, standen am Morgen auf und gingen am Abend zu Bett. Nur ihren Himmel, den betrachteten sie nie. Warum auch, wenn immer alles gleich grau war.
Ein kleines Mädchen lebte damals, das war anders, eine Träumerin. Morgens stand es auf wie die anderen, frühstückte, ließ die Beine vom Stuhl baumeln und ging schließlich zur Schule. Wenn es aber vor die Tür trat, legte es den Kopf in den Nacken und besah sich den Himmel. Manchmal vergaß es, den Blick wieder nach vorn zu richten, bevor es losging, und stolperte dann auf dem Weg. So viel Platz da oben, so viel glattes Grau. Wie es wohl wäre, darauf zu malen, fragte sich die kleine Träumerin. Alles bunt malen, dann könnte man den Himmel wie ein Bild, ach was, wie viele Bilder betrachten. Sie begann Bilder zu malen, die ihren Traumhimmel darstellten. Bald nannte man sie Himmelsträumerin. Die Leute lachten über sie, konnten nicht verstehen, dass sie es nicht müde wurde, Farben in ihren Himmel zu träumen. Der Himmel war nun mal grau, daran konnte niemand etwas ändern, ganz gleich, wie lange man ihn auch anstarren mochte.
Doch sie träumte weiter, begann Bilder von ihrem Himmel zu malen: einen orangen Himmel mit gelben Butterblumen, einen türkisen Himmel mit goldenen Fischen, einen grünen Himmel mit roten Vögeln und zahlreiche andere Himmelsvarianten. Weil sie so viele Bilder malte, hatte sie bald zu Hause keinen Platz mehr sie aufzuhängen. Draußen hingegen gab es genug Platz, an Hauswänden, Bäumen, Litfaßsäulen, Plakatwänden und Schaufensterscheiben. Überall hängte sie bunte Himmel auf. Und die Menschen blieben stehen, schauten, schüttelten den Kopf und gingen weiter. Ein paar jedoch blieben stehen, schauten länger, lächelten, bevor sie weitergingen. Noch weniger blieben lange stehen, schauten erst auf die Bilder, dann hinauf zum Himmel, seufzten und gingen dann erst weiter. Diese kamen oft zurück, um nochmal zu schauen. Und morgens, wenn sie vor die Tür traten, sahen sie hinauf zu dem grauen Himmel. Aber sie sahen nicht mehr das Grau, sondern die Traumhimmel des Mädchens, in rot, grün, gelb, blau, violett, rosa und allen bekannten und unbekannten Farben mit Butterblumen, Delphinen, Kranichen, Elefanten und allen wirklichen und erfundenen Gestalten. Stolperten sie dann auf dem Weg zur Arbeit, lachten sie über sich, nannten sich selbst Träumer, Himmelsträumer. Immer mehr wurden sie, die Himmelsträumer. Bis es ein ganz normaler Anblick war, dass die Leute morgens den Kopf in den Nacken legten und lächelten.
Das Mädchen entwickelte eine Vorliebe für eine Farbe: Blau. Es gab ein dunkles Blau, ein helles Blau, ein tiefes, ein leichtes, ein fröhliches, ein trauriges, ein lachendes und ein weinendes Blau. Bald waren alle neuen Bilder des Mädchens in Blau gehalten. Und, weil das so einen schönen Kontrast ergab, tummelten sich weiße Pusteblumen, weiß-bäuchige Fische, weiß-gefiederte Vögel und weiß-gescheckte Kaninchen auf den blauen Himmelsbildern. Eines Tages, es war ein ganz gewöhnlicher Tag, erblickten alle, die morgens aus der Tür traten, dasselbe Bild: einen strahlend blauen Himmel mit weißen Schafen. Als sie sich später am Tag davon erzählten, war der Himmel immer noch blau und die Schafe weiß, auch wenn sie manchmal eine andere Gestalt annahmen. Das Blau blieb den ganzen Tag über, nur abends, da war es, als ob jemand Rot darüber gegossen hätte. Und am nächsten Morgen, da kam erst ein Orange, dann langsam ein Blau. So ging es Tag für Tag, und es zeigten sich nach und nach fast alle Farben am Himmel, und alle Gestalten. Das Blau aber, das war beinahe immer zu sehen. Auch das Grau war nicht ganz verschwunden, kam immer mal wieder, nicht mehr so glatt, kein Metall mehr, ein weiches Grau, das sich abregnete. Und immer wieder sahen die Menschen zum Himmel hinauf, ob das Blau noch da wäre, wenn der Regen aufhörte. Der Himmel ist blau, himmelblau, sagten sie und staunten. Seitdem ist der Himmel für alle Menschen blau, und wenn wir die Wolken betrachten, können wir noch all die Blumen und Tiere sehen, die das Mädchen gemalt hat.“

Als die Erzählung an ihr Ende gelangt war, blickte das Mädchen nachdenklich den vorbei fliegenden Möwen nach, die sich weiß gegen den blauen Himmel abhoben.
„Das war eine schöne Geschichte. Papa?“
„Ja, kleine Träumerin?“
„Gibt es solche Träume heute immer noch?“
„Aber ja, es müssen nur genügend Menschen denselben Traum haben und einer muss anfangen.“
„Dann, Papa, träum ich das Meer blau!“

 
Zuletzt bearbeitet:

Schön, dass es noch einen Vater gibt, der fürs Kind Geschichten erfindet und ihm auch erzählt,

liebe Sabine - herzlich willkommen!

Sicherlich der Inkompetenteste in Kindergeschichten hat mir die Geschichte gefallen, wobei mir ein allgemeineres Problem des Geschlechtrwechsels im grammatischen Sinne aufgekommen ist mit der Zeile

>Ein kleines Mädchen lebte damals, das war anders, eine Träumerin.< ein Mädchen/das war ... neutr. und ab der Träumerin fem., was natürlich an sich korrekt ist und den wenigsten problematisch erscheinen wird, in der Umgangssprache gängig ist. Vielleicht ließe sich - bis eben dem Mädchen von außen das Attribut der "Träumerin" zugewiesen wird - der Diminutiv einführen - was dem Kinde sicherlich gefiele.

Gruß

Friedel

Ach ja, hätt ich fast vergessen: dass ich zu Deiner kleinen Geschichte gefunden hab zeigt, dass Kinderlliteratur nicht nur für Kinder ist.

 

Lieber Friedel,

dank Dir für Deine freundliche Würdigung. An Kindern habe ich die Geschichte bisher noch nicht "getestet". Dem Vorlesenden muss sie jedoch auch gefallen, sonst stolpert er beim Lesen oder schläft gar ein.

Vielleicht ließe sich - bis eben dem Mädchen von außen das Attribut der "Träumerin" zugewiesen wird - der Diminutiv einführen - was dem Kinde sicherlich gefiele.
Ob mir ein Träumerlein gefiele, da bin ich noch nicht sicher. Aber die Stelle hakt wirklich ein wenig. Vielleicht löse ich sie noch durch ein Verb auf.

Lieben Gruß
Sabine

 

Salve SabineK,

Deine Geschichte scheint mir - ohne dass ich es am Klientel getestet hätte - eine nette Welterklärungsgeschichte für Kinder zu sein. Ist ja auch viel spannender, als auf die quälende Litanei an "Warum"-Fragen eine pseudowissenschaftliche Antwort bei wikipedia zu suchen.

Was ich allerdingsvermisst habe, ist in der Erzählung des Vaters der Konflikt - ich glaube, auch Kinder mögen es nicht, wenn alles zu glatt abläuft, da darf schon ein wenig Spannung,Handlungsentwicklung sein, ein Held, der eine Aufgabe bewältigt, eine Angst besiegt oder sonst was.

Nett ist der schlenker am Schluss - als das Mädchen sich das Meer blau räumen will. Als erwachsener Leser kommt mir der Gedanke, die Rahmenhandlung könnte in einem fantastischen Zeitalter spielen, in dem der liebe Gott oder das höhere Wesen, das wir verehren oder die Träume der Menschen tatsächlich noch nicht alles bunt angemalt haben.

Allerdings frage ich mich, ob der Dreh ohne explizite Erwähnung für ein Kind nicht zu versteckt ist - sollte er denn so beabsichtigt gewesen sein, wie ich es gelesen habe.

LG, Pardus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Pardus,

danke für Deinen Kommentar.

Mit dem Konflikt, da hast Du Recht, der ist höchstens leicht angedeutet in der Außenseiterrolle, die das Mädchen zu Beginn einnimmt. Könnte ich noch ausarbeiten, zumindest wenn ich es als Vorleseversion weiter verwende. Ursprünglich entstand die Geschichte mit dem Hintergedanken, sie in ein Schwarzlichttheaterstück für Kinder als eine Szene mit aufzunehmen. Wird vielleicht auch noch geschehen, das hätte eher einen Traumreisecharakter. Aber auch da kann es nicht schaden, mehr Spannung hinein zu bringen. Was wäre schließlich ein Kasperletheater schon ohne Krokodil?

Ich werde mir Deine Anregung auf jeden Fall durch den Kopf gehen lassen, und sehen, ob mir dazu noch etwas einfällt. Danke!

Lieben Gruß
Sabine

 

Hallo Sabine,

mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen!
Ich mag es, wenn man mit viel Fantasie seinem Kind die Welt erklärt!
Hab ich gerne gelesen.

gute Nacht,
tierwater

 

Aus'm Sauerland wieder zurück (wär's nicht eine schöne Geschichte, den Namen des S...landes zu erklären? und - wie's schon Jürgen von der Lippe getan hat, gleich den Sauerländer mit??) muss ich mich doch noch mal hierzu äußern,

liebe Sabine!

>Dem Vorlesenden muss sie jedoch auch gefallen, sonst stolpert er beim Lesen oder schläft gar ein<, was mir sogar beim Karlsson vom Dach und Ronja geglückt ist: da schlief der Vater schneller als das Kind!, da wäre also niemand vor gefeit.

Vorschlag, der natürlich nicht genommen werden muss, für die Verkleinerung: "Ein kleines Mädchen lebte damals, das war anders, halt ein kleines Träumerchen."

Gruß

Friedel

 

Hi Sabine,

mir hat Deine blaue Himmelsgeschichte gut gefallen. Eine nette Idee, sauber umgesetzt und sicher kindgerecht.

Noch weniger blieben lange stehen, schauten erst auf die Bilder, dann hinauf zum Himmel, seufzten und gingen dann erst weiter.

Das "Noch weniger" will mir nicht gefallen, da bin ich dran hängen geblieben.
Wie wäre es mit: "Wenige blieben lange stehen, ..."
Das würde sich für mich runder lesen.

Mir hat zwar beim Lesen nicht wirklich ein Konflikt gefehlt, aber es stimmt schon. Es läuft alles sehr glatt in Deiner Geschichte.
Vielleicht könntest Du mit dem Grau am Himmel eine gewisse Traurigkeit bei den Menschen verbinden und das Mädchen hält es nicht mehr aus, möchte lieber lachen, Farben sehen, die Welt verändern.
Nur so eine Idee, vielleicht fällt Dir ja noch was Besseres dazu ein.

Liebe Grüße
Giraffe :)

 

Hallo zusammen,

@tierwater: Es freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat. Zwar wollte ich damit ursprünglich weniger die Welt erklären als vielmehr die Macht der Phantasie, aber als Welterklärung ist es mir auch Recht. ;)

@Friedrichard: Danke für Deinen Vorschlag, lieber Friedel. Ich werde eine zweite Version in Angriff nehmen, die diesen Übergang und die mangelnde Spannung beheben soll. Dein kleines Träumerchen wird eine faire Chance erhalten. Dauert aber ein wenig.

@Giraffe: Das kann wirklich für den ein oder anderen ein Stolperstein sein. "Wenige" ist mir allerdings gegenüber "ein paar" zu wenig abgegrenzt. Vielleicht werden "einzelne" daraus. Der Konflikt, den ich in der Geschichte nicht richtig zum Ausdruck gebracht habe, ist im Grunde ja vorhanden. Phantasie gegen Realismus. Aber die Traurigkeit, die sich mit der Farbe verbindet, wäre auch möglich. Mal sehen, was daraus wird, wenn ich Eure Anregungen mit ins stille Kämmerlein zum Brüten nehme. :)

Liebe Grüße
Sabine

 

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