Die Himmelsfarbe
„Na, Fräulein GuckindieLuft, träumst du wieder mal den Himmel blau?“
„Aber Papa, der Himmel ist doch schon blau, das ist doch die Himmelsfarbe!“
„Blau ist die Himmelsfarbe, das stimmt. Aber das war nicht immer so.“
„Ach Papa, das glaub ich nicht. Ich denk, das ganze große Blau, das war bestimmt schon immer so.“
„Hm, wenn du mir nicht glaubst, bleibt mir wohl nichts anderes übrig: Ich muss dir eine Geschichte erzählen. Magst du?“
„In Ordnung, ich seh in den Himmel und hör Dir zu.“
„Na dann:
In einer Zeit, lange vor der unsrigen, war der Himmel über der Welt von einem einheitlichen Grau. Das Grau war ganz glatt, am Tag heller und in der Nacht dunkler, aber das war auch schon alles, was sich an dem Grau veränderte. Die Sonne ließ es manchmal ein wenig glänzen, wie Metall. Das blendete dann. Der Regen schien direkt aus dem Grau zu fallen. Aber, wenn der Regen aufhörte, war das Grau noch immer da, unversehrt.
Die Menschen zu jener Zeit lebten ganz ähnlich wie wir heute. Sie lachten, weinten, liebten und stritten sich, gingen zur Arbeit, waren krank, wurden wieder gesund, standen am Morgen auf und gingen am Abend zu Bett. Nur ihren Himmel, den betrachteten sie nie. Warum auch, wenn immer alles gleich grau war.
Ein kleines Mädchen lebte damals, das war anders, eine Träumerin. Morgens stand es auf wie die anderen, frühstückte, ließ die Beine vom Stuhl baumeln und ging schließlich zur Schule. Wenn es aber vor die Tür trat, legte es den Kopf in den Nacken und besah sich den Himmel. Manchmal vergaß es, den Blick wieder nach vorn zu richten, bevor es losging, und stolperte dann auf dem Weg. So viel Platz da oben, so viel glattes Grau. Wie es wohl wäre, darauf zu malen, fragte sich die kleine Träumerin. Alles bunt malen, dann könnte man den Himmel wie ein Bild, ach was, wie viele Bilder betrachten. Sie begann Bilder zu malen, die ihren Traumhimmel darstellten. Bald nannte man sie Himmelsträumerin. Die Leute lachten über sie, konnten nicht verstehen, dass sie es nicht müde wurde, Farben in ihren Himmel zu träumen. Der Himmel war nun mal grau, daran konnte niemand etwas ändern, ganz gleich, wie lange man ihn auch anstarren mochte.
Doch sie träumte weiter, begann Bilder von ihrem Himmel zu malen: einen orangen Himmel mit gelben Butterblumen, einen türkisen Himmel mit goldenen Fischen, einen grünen Himmel mit roten Vögeln und zahlreiche andere Himmelsvarianten. Weil sie so viele Bilder malte, hatte sie bald zu Hause keinen Platz mehr sie aufzuhängen. Draußen hingegen gab es genug Platz, an Hauswänden, Bäumen, Litfaßsäulen, Plakatwänden und Schaufensterscheiben. Überall hängte sie bunte Himmel auf. Und die Menschen blieben stehen, schauten, schüttelten den Kopf und gingen weiter. Ein paar jedoch blieben stehen, schauten länger, lächelten, bevor sie weitergingen. Noch weniger blieben lange stehen, schauten erst auf die Bilder, dann hinauf zum Himmel, seufzten und gingen dann erst weiter. Diese kamen oft zurück, um nochmal zu schauen. Und morgens, wenn sie vor die Tür traten, sahen sie hinauf zu dem grauen Himmel. Aber sie sahen nicht mehr das Grau, sondern die Traumhimmel des Mädchens, in rot, grün, gelb, blau, violett, rosa und allen bekannten und unbekannten Farben mit Butterblumen, Delphinen, Kranichen, Elefanten und allen wirklichen und erfundenen Gestalten. Stolperten sie dann auf dem Weg zur Arbeit, lachten sie über sich, nannten sich selbst Träumer, Himmelsträumer. Immer mehr wurden sie, die Himmelsträumer. Bis es ein ganz normaler Anblick war, dass die Leute morgens den Kopf in den Nacken legten und lächelten.
Das Mädchen entwickelte eine Vorliebe für eine Farbe: Blau. Es gab ein dunkles Blau, ein helles Blau, ein tiefes, ein leichtes, ein fröhliches, ein trauriges, ein lachendes und ein weinendes Blau. Bald waren alle neuen Bilder des Mädchens in Blau gehalten. Und, weil das so einen schönen Kontrast ergab, tummelten sich weiße Pusteblumen, weiß-bäuchige Fische, weiß-gefiederte Vögel und weiß-gescheckte Kaninchen auf den blauen Himmelsbildern. Eines Tages, es war ein ganz gewöhnlicher Tag, erblickten alle, die morgens aus der Tür traten, dasselbe Bild: einen strahlend blauen Himmel mit weißen Schafen. Als sie sich später am Tag davon erzählten, war der Himmel immer noch blau und die Schafe weiß, auch wenn sie manchmal eine andere Gestalt annahmen. Das Blau blieb den ganzen Tag über, nur abends, da war es, als ob jemand Rot darüber gegossen hätte. Und am nächsten Morgen, da kam erst ein Orange, dann langsam ein Blau. So ging es Tag für Tag, und es zeigten sich nach und nach fast alle Farben am Himmel, und alle Gestalten. Das Blau aber, das war beinahe immer zu sehen. Auch das Grau war nicht ganz verschwunden, kam immer mal wieder, nicht mehr so glatt, kein Metall mehr, ein weiches Grau, das sich abregnete. Und immer wieder sahen die Menschen zum Himmel hinauf, ob das Blau noch da wäre, wenn der Regen aufhörte. Der Himmel ist blau, himmelblau, sagten sie und staunten. Seitdem ist der Himmel für alle Menschen blau, und wenn wir die Wolken betrachten, können wir noch all die Blumen und Tiere sehen, die das Mädchen gemalt hat.“
Als die Erzählung an ihr Ende gelangt war, blickte das Mädchen nachdenklich den vorbei fliegenden Möwen nach, die sich weiß gegen den blauen Himmel abhoben.
„Das war eine schöne Geschichte. Papa?“
„Ja, kleine Träumerin?“
„Gibt es solche Träume heute immer noch?“
„Aber ja, es müssen nur genügend Menschen denselben Traum haben und einer muss anfangen.“
„Dann, Papa, träum ich das Meer blau!“