Die Heulenden Felder von Escapor
Schon von weitem konnte Ainua es hören. Es war ganz anders als sie es sich vorgestellt hatte, viel trauriger und voller Schmerz.
So sehr sie sich immer gewünscht hatte die Felder zu sehen, so war sie sich nun nicht mehr sicher, ob sie nicht doch auf die Ältesten hätte hören sollen.
Von klein auf wurde ihr und den anderen Kindern gesagt, dass sie den Felder nicht zu nahe kommen durften. Es sei gefährlich, sich dem Heulen zu sehr zu nähern, also sollten sie kehrt machen sobald sie meinten es zu hören.
Doch diesmal hatte sie sich nicht umgedreht, diesmal war sie weiter gegangen, immer weiter in Richtung des Heulens, das sonst nur ein Summen in der weiten Ferne war.
Manche der älteren Kinder sagten, es würde von einem riesigen Wolf stammen, der die Felder beschützte. Andere meinten, es wären Waldgeister, die einen davon abhalten wollen näher zu kommen, weil sie dort ihre Schätze versteckten.
Natürlich war Ainua nicht dumm. Sie wusste, dass die größeren Kinder ihnen nur Märchen erzählten, um ihnen Angst zu machen und ihre Späße mit ihnen zu treiben. Dennoch war sie neugierig, denn das Geräusch existierte schließlich wirklich. Und sie wollte die erste sein, die herausfand, woher es stammte.
Vorsichtig bahnte sie sich ihren Pfad zwischen den großen, alten Bäumen. Ihre Äste hingen tief, und ihre Wurzeln wucherten über den gesamten Boden. Ein großer Teil des Waldes wurde von dem Antlitz der Vergänglichkeit beherrscht; überall lagen tote, von Moos überwachsene Bäume auf dem Boden. Sie lagen dort bereits seit vielen Jahrzehnten, und würden auch noch in vielen weiteren dort liegen. Der Anblick des toten Holz bereitete Ainua unbehagen. Auch wenn sie schon vor langer Zeit gefallen waren, beschäftigte sie der Frage, was solche Riesen zu Fall gebracht haben könnte.
Trotz alle dem fürchtete sie sich nicht. Sie wusste, dass es einen der Wald wissen ließ, wenn sich Gefahr näherte. Noch zwitscherten die vielen verschiedenen Bunten Vögel, der Wind war ruhig und duftete nach nichts als Pflanzen und Erde.
Langsam merkte sie, wie das Heulen lauter wurde. Sie konnte den Schmerz und die Trauer nun immer deutlicher heraushören, fast, als würde sie sie selbst spüren. Mit all ihrem Stolz hielt sie eine kleine Träne zurück. Auch wenn sie hier niemand sehen konnte, wollte sie sich doch selbst keine Sentimentalität zugestehen. Sie setze ihre erwachsenste und ernsteste Miene auf und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag. Wenn sie sich nicht irrte, sollte sie die Felder hinter dem nächsten Hügel sehen können.
Mühsam zog sie sich an den großen Wurzeln hinauf, angetrieben von ihrer schier unendlichen Neugierde. Die Anspannung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie ihren Kopf über die letzte Hürde schob. Doch schnell wandelte sich ihr Blick, als sie sah woher das Geräusch stammte.
Vor Ainuas Augen erstreckten sich Felder, so weit wie eine Stadt groß, voller kniehoher Blumen. Wären ihre vielen Farben nicht so blass gewesen, wären die Felder wohl ein wundervoller Anblick gewesen.
Das hätte jedoch nichts daran geändert, dass ihren hängenden, kelchförmigen Blütenköpfen das schreckliche Heulen entstammte, dem sie die ganze Zeit gefolgt war.
Warum gaben diese herrlich ausschauenden Pflanzen nur so entsetzliche Geräusche von sich? Auch wenn ihre Ohren bereits schmerzten, war Ainua immer noch neugierig. Sie rutschte den Hügel hinunter und betrat die Felder. Nun verstand sie auch endlich, warum der Ort so genannt wurde. Ob die Ältesten wussten, wie es hier aussah, oder wurde auch ihnen nur der Name von den Ältesten zu ihrer Zeit überliefertet?
Ihr wurde mit jedem Schritt bewusster, weshalb man nicht wollte, dass sich jemand hier aufhielt. Das Heulen der Blumen brannte bis tief in ihr Herz, sie fühlte Mitleid, Trauer und Reue. Doch mehr als alles andere spürte sie Scham. Sie konnte es sich nicht erklären, aber sie hatte das Gefühl, dass sich die Blumen für etwas schämten.
Während sie durch die Felder schritt, bedacht, bloß auf keine der zierlichen Pflanzen zu treten, hielt sie ihren Blick die ganze Zeit gesenkt. Sie versuchte ihnen anzusehen, warum sie so ein trauriges Lied sangen. Vergebens.
„Willkommen, mein Kind.“ Die Stimme erklang so sanft vor ihr, dass sie, obwohl sie sie sehr überrascht hatte, nicht erschrak. Als sie ihren Blick hob sah sie eine alte Frau mit hüftlangem, weißen Haar, und einer Haut so gegilbt und furchig, dass sie selbst einem Feld glich. Nur ihre stechend klaren, blauen Augen standen im Kontrast zu ihrem sonst fast schon antiken Aussehen.
„Du siehst aus, als hättest du eine Frage. Was bekümmert dich?“ Sagte die alte Frau mit einem beruhigenden Lächeln. Ihre Stimme Klang so deutlich und rein, dass Ainua die heulenden Blumen um sie herum beinahe vergaß.
„Warum weinen die armen Blumen denn? Wurde ihnen etwas angetan?“ In ihren Worten lagen all die Emotionen, die das Heulen in ihrem Herzen hinterließ.
„Du hast ihnen gut zugehört, meine Liebe. Sie singen ein Klagelied, dass sie selbst gedichtet haben.“ Sie bewahrte ihr Lächeln, konnte aber nicht verhindern, dass sich ein Schimmer der Wehmut in ihre Gesichtszüge schlich. „Wenn auch nicht ganz freiwillig.“
Sie betrachtete das junge Mädchen mit einem prüfenden Blick, abschätzend, ob sie bereit war ihrer Geschichte zu lauschen. Was auch immer sie in ihr suchte, sie fand es in Ainuas Augen und fuhr fort.
„Vor vielen Generationen, lange vor meiner Zeit, gab es Krieg zwischen den alten Völkern. Sie kämpften lang und erbittert, bis niemand mehr wirklich wusste, warum und wofür er kämpfte. Und an diesem traurigen Ort trugen sie ihre letzte Schlacht aus. Hier entschied sich der Krieg, und hier entschieden sich die Menschen.“ Für einen Moment hielt sie inne, um ihre Gedanken zu sortieren.
„Wer hat gewonnen?“ Ainua konnte sich die Frage nicht verkneifen.
„Der, der jeden Krieg und jede Schlacht gewinnt: Der Tod. Es gibt keine Sieger, wenn sich liebende Väter, gute Männer unter schlechter Führung, von Angst, Sorge und Verzweiflung getriebene Menschen wie du und ich gegenseitig umbringen. Konflikte lösen sich nicht mit dem Ableben jener auf, die auf der jeweils anderen Seite stehen. Sie existieren tief in unseren Herzen, und wir selbst müssen sie für uns austragen.“ Die alte Frau seufzte.
„Was du hier siehst, sind keine einfachen Blumen. Es sind die schmerzlichen Erinnerungen jener, die in dieser Schlacht ihr Leben ließen. Ihr Klagelied ist ein Nachhall ihrer Trauer um dass, was sie verloren haben, und ihrer Scham und Reue über dass, was sie getan haben. Sie sollen uns daran erinnern, dass so etwas nie wieder passieren darf. Dass Gewalt und Mord nicht der Weg sind, den wir gehen dürfen. Werden ihre Schmerzen vergessen, verdammen wir uns selbst dazu, sie erneut zu erleben. Es ist wichtig, dass sie gepflegt werden. Doch ich bin alt, und kann mich bald nicht mehr um sie kümmern. Jemand muss dafür sorgen, dass wir ihre Leiden nicht vergessen, und so etwas nicht noch einmal zulassen. Also frage ich dich...“
Wirst du für sie einstehen?