Die Heimkehr
Die Heimkehr
Hinter dem Hügel wurden die Lichter immer heller. Eine bunte Kette der
Vorfreude, der weihnachtlichen Feststimmung, des stummen Gelächters.
Während der leichte Wind, der große flauschige Schneeflocken vor sich hertrieb,
stetig zunahm, womöglich einen Schneesturm ankündigte, schlich eine rauhe,
unangenehme, doch zugleich wohlige Dämmerung über den dunkelblauen,
hübsch vorweihnachtlichen Winterhimmel. Lachende, kreischende Kinder in
bunten Schneeanzügen lieferten sich eine kleine Schneeballschlacht vor der
Garage eines großen weißen Hauses, das über und über mit rot- grünen
Lichterketten und leuchtenden Sternen behangen war und in dessen Vorgarten
ein großer grinsender Schneemann thronte.
Der junge Mann mit dem grauen Schal und der schwarzen Mütze zog die dünne
Jacke enger um sich und vergrub die von der Kälte geröteten Hände dann
wieder tief in den Taschen seiner Jeans. Kleine weiße Atemwölkchen
verdampften in der Luft vor seinem Mund. Die Weihnachtsstimmung war nun zum
Greifen nahe, doch er konnte sie noch immer bloß erahnen.
An der nächsten Straßenecke stand der Weihnachtsmann und verteilte Süßes an
grinsende Kinder. Dieser Weihnachtsmann war eine knochige alte Frau in
einem fransigen roten Mantel mit einem pinken Hut auf dem Kopf, die fast keine
Zähne mehr hatte und furchtbar zitterte. Lucas blieb für einen Moment
unschlüssig stehen und sah zu, wie ihre verkrümmte, mit Altersflecken übersäte
Hand immer wieder in eine kleine blaue Tüte griff und neue Leckereien
hervorzauberte, um sie in die aufgehaltenen Händchen irgendeines
erwartungsfreudigen Kindes zu legen. Diese einfache Tüte in der
athritisverkrümmten Hand dieser Frau schien so etwas wie eine Wundertüte zu
sein, unendlich viele Karammelbonbons, unendlich viele Plätzchen und Kekse,
Schokoladenkugeln und Lebkuchen schienen sich darin zu befinden. Irgendwann
war es doch vorüber und die Kinder gingen mit vollen Backen und zufriedenen
Mienen nach Hause. Nur Lucas stand noch immer da, mit großen Augen und
einem gefrorenen Lächeln. Die Alte sah ihn und griff ein letztes Mal in ihre Tüte.
Tatsächlich hielt sie diesmal ein kleines rundes Plätzchen in der Hand. Sie bot
es ihm lächelnd an und schließlich nahm Lucas es.
„Aber ich bin doch kein Kind mehr“, sagte er leise. Dennoch spürte er auf einmal
Tränen in den Augen. Richtig, er war kein Kind mehr, doch er war fast noch
eines gewesen, als er diesen Ort zum letzten Mal gesehen hatte. Und vielleicht
hatte auch er früher Süßes aus der Plastiktüte der alten Frau gegessen und
konnte sich nur nicht mehr daran erinnern. Vielleicht, doch damals war sie noch
nicht ganz so alt gewesen und ihre Hände bestimmt noch nicht ganz so
verkrümmt. Sie lächelte ihn kurz an und ging dann ihres Weges.
Die Straßenlampen brannten inzwischen, schickten ihr milchig- weißes Licht
über den gefrorenen Asphalt. Es wurde spät und es war an der Zeit,
weiterzugehen, an der Zeit, nach Hause zu gehen. Es wurde zunehmend kälter
und windiger, ein starker Ostwind spielte mit seinem dichten schwarzen Haar
und blies ihm eisige Schneekristalle in das ungeschützte Gesicht. Lucas fühlte
sich schon viel besser. Jetzt wollten die weihnachtlichen Gerüche und Eindrücke
nicht mehr wie Blei auf seinem Denken lasten. Er biß in das Plätzchen und es
schmeckte einfach wunderbar! Wie lange hatte er schon nicht mehr etwas so
Gutes gegessen? Er konnte sich nicht erinnern.
Ein kleines Mädchen, etwa sechs Jahre alt, in einem grünen Schneeanzug
rannte direkt vor ihm aus einer Einfahrt und auf die Straße. Die Kleine kam
genau bis zur Mitte, dann geriet sie ins Rutschen, fiel schließlich hin und landete
auf ihrem Hosenboden. Sie blieb einfach sitzen und fing an zu weinen. Große
runde Tränen kullerten über ihre geröteten Wangen. Lucas zögerte kurz und ging
dann neben ihr in die Hocke. Er berührte den dicken Stoff ihres Anoraks mit
einer vor Kälte zitternden Hand.
„Hey, Kleine? Hast du dir wehgetan?“
Sie sah ihn mit großen, feuchten Augen an.
Lucas lächelte. Er zeigte ihr das angebissene Plätzchen. „Willst du?“
Jetzt lächelte sie. Sie streckte eine kleine Hand aus und nahm es. Zwei große
Bissen und es war verschwunden.
Lucas lachte und half ihr hoch. „Siehst du? War doch gar nicht so schlimm,
oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich muß gehen!“ sagte sie schnell.
Er ließ sie gehen und blickte ihr hinterher, bis sie in der Tür des
gegenüberliegenden Hauses verschwunden war. Kaum zu glauben, aber er hatte
flüchtig seine Wange berührt und da waren Tränen!
Das Fest der Liebe, in der Tat! Sie schien durch die Luft zu tanzen, diese Liebe,
in Form großer, blendend- weißer Schneeflocken war sie heute Abend überall,
gelangte an jeden, auch noch sie entlegenen Ort.
Er verbarg die Hände wieder in seinen Hosentaschen und ging jetzt schneller.
Trotz der innerlichen Hitze, die nun auch sein Herz erwärmte, war sein ganzer
Körper kalt wie ein Eiszapfen. Er brauchte dringend ein warmes Dach über dem
Kopf.
Und wie würden sie wohl reagieren? Diese Menschen, die er kaum mehr kannte
und die seine Familie waren? Was würden sie sagen?
„Ach, Hallo!“ und „Dein Geschenk liegt unterm Baum!“ Natürlich nicht.
Das sagten sie nicht, wenn sie fünf Jahre nichts mehr von ihm gehört hatten.
Oder doch? Es war schließlich Weihnachten, das Fest der Liebe! Und jeder
liebte jeden. Sogar die Menschen auf der Straße begegneten einander zu dieser
Zeit mit mehr Verständnis und Aufmerksamkeit und eine wildfremde Frau hatte
ihm mitten auf der Straße ein Plätzchen geschenkt. Was war das?
Nächstenliebe? Festtagsstimmung? Mitleid? Wohl etwas von allem, und noch
viel mehr. Es war eben Weihnachten, wenn die Menschen einander wieder
lieben lernten. Weihnachten war für alle da und jeder hatte etwas davon. Die
Leute waren einfach viel freizügiger und toleranter und (auch) leichtgläubiger,
was im Grunde für jeden irgendeinen Vorteil mit sich brachte. Die letzten fünf
Weihnachten jedoch hatte Lucas an einem Ort verbracht, wo allein ein paar
Lichter und Kerzen an das große Fest erinnerten und wo fast niemand je mit
einem breiten Lächeln auf dem Gesicht herumlief.
An diesem schrecklichen Ort hatte einmal jemand versucht, Stille Nacht zu
singen und das hätte ihn beinah die gesamte Sehkraft des rechten Auges
gekostet.
Im Knast legte man keinen besonderen Wert auf solche Dinge.
Auch Lucas hatte das nicht getan.
Doch jetzt war es an der Zeit, das alles hinter sich zu lassen. Es war an der Zeit,
wieder einmal Weihnachten zu feiern. Wie hatte er das als Kind geliebt! Gab es
überhaupt etwas Schöneres? Konnte es je mehr etwas geben, was den
Gefühlen eines Kindes am Weihnachtsabend gleichkam? Wahrscheinlich. Doch
nicht jeder würde es später im Leben finden, da war Lucas jetzt ganz sicher,
denn es war schwer, wirklich schwer! Er selbst hatte darin versagt.
Jetzt war es nicht mehr weit nach Hause. Früher war er diese Strecke oft mit
dem Rad gefahren, wenn er von der Schule oder einem seiner Freunde nach
Hause kam. Er sah das alles nun vor sich, als wäre es gestern gewesen. Die
Menschen waren noch genauso freundlich und die Farben der Welt begannen
allmählich, sich von tristen Grautönen in ein fröhliches Pink zurückzuverwandeln.
Er fühlte sich fast wie ein neuer Mensch und zweifelte nun kaum mehr daran, daß
sie ihn mit offenen Armen empfangen und als erstes gleich zum Gabentisch
führen würden.
Mama würde mit einem Teller Plätzchen aus der Küche kommen, wo alles so
schön nach Weihnachten duftete.
Sein Vater würde die Geschenke bringen..
Seine kleine Schwester würde ihm stolz ihre neueste Puppe vors Gesicht halten.
Und der Hund würde freudig bellen und mit dem Schwanz wedeln und ihm das
Gesicht lecken, wie in alten Zeiten.
Lucas würde dann sagen: Es tut mir sehr leid, daß ihr das gerade an
Weihnachten erfahren müßt, aber ich habe die lezten fünf Jahre im Gefängnis
verbracht.....
Da würden sie ihn gar nicht erst ausreden lassen, sondern alle zu ihm kommen,
lächelnd und mit Tränen in den Augen. Denn es war Weihnachten und sie
würden ihm verzeihen.
Und dann würde es ganz viele Umarmungen und Küßchen und liebe Worte und
warme Blicke geben und alles würde in Ordnung kommen. Wie schön. Wie
schön das klang.
Lucas schniefte. Er zitterte jetzt vor Kälte. Doch er hatte es ja auch gleich
geschafft. Schon konnte er das verschneite Dach ihres Hauses sehen, kurz
darauf die farbenfroh geschmückte Veranda. Im Garten stand ein kleiner
Weihnachtsbaum mit vielen bunten Kerzen. In den Fenstern hingen goldene und
silberne Weihnachtssterne. Überall im Haus brannte Licht. Lucas sank auf die
Knie, auf einmal waren seine Beine zu schwach und zu sehr wie Gummi, um
seinem Gewicht noch länger standzuhalten. Dicke Tränen quollen unter seinen
geschlossenen Lidern hervor. Bis jetzt hatte er das Schluchzen unterdrücken
können, doch nun war es da, ergriff mit erstaunlicher Heftigkeit Besitz von
seinem ganzen Körper, ließ ihn zittern und beben und sich verkrampfen. Alles
schien auf einmal über ihm zusammenzubrechen. Er war Zuhause und er hatte
keine Ahnung, was ihn jemals dazu getrieben hatte, diesem warmen
wundervollen Ort Lebwohl zu sagen. Was konnte es schöneres geben als
Weihnachten mit den Menschen, die einem etwas bedeuteten und die alles für
einen tun würden? Mühsam kam er wieder auf die Beine. Jetzt war es soweit.
Und am Ende des Weges wartete Gold auf ihn, davon war er überzeugt. Die
Leute, denen er auf dem Weg hierher begegnet war, hatten es ihm bewiesen.
Sie hatten ihm gezeigt, wie gut und glücklich und hilfsbereit und verständnisvoll
jeder an Weihnachten war. Die Herzen der Menschen öffneten sich und ließen
fast alles hinein, was ihnen in die Quere kam. Genau der richtige Zeitpunkt für
eine Um-, eine Heimkehr. Lucas lief die Einfahrt hinauf, sein Herz hämmerte jetzt
wie verrückt in seiner Brust, sein Magen schlug Purzelbäume.
Ein Kranz aus grünen Tannenzweigen und roten Bändern schmückte die
Haustür. Er holte einmal tief Luft und klingelte dann. Zweimal. Er trat unruhig von
einem Fuß auf den anderen. Es schien eine halbe Eiwgkeit zu dauern, bis die
Tür endlich aufging. Ein kleines blondes Mädchen stand vor ihm. Das mußte
seine Schwester sein! Jenny!
„Ja?“ fragte die Kleine und musterte ihn mit großen, mißtrauischen Augen.
„Hallo, ich...ich....bist du Jenny?“
Sie nickte.
„Ich...ich bin Lucas..“
Auf einmal erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. „Mama hat aber gesagt, du kommst
nicht wieder.“
„Hier bin ich.“
„Soll ich Mama und Papa holen?“
„Ja, bitte.“ Er kämpfte gegen den Drang an, sie einfach in die Arme zu
schließen. Das würde sie bestimmt sehr durcheinanderbringen. Jenny wandte
sich ab und lief zurück ins Haus, wo es nach Kerzenwachs und frischem Kaffee
roch. Lucas hörte, wie sie nach ihren Eltern rief. Lucas wartete wieder. Er
knabberte nervös an seinen Fingernägeln.
Schließlich kam sein Vater an die Tür, der sich überhaupt nicht verändert hatte.
Das graumelierte Haar, die stechend blauen Augen, die zarten Falten um den
Mund, die sich immer sehr vertieft hatten, wenn er lächelte. Doch er lächelte
nicht!
„Hallo“, sagte Lucas.
„Wo warst du?“ fragte sein Vater. Seine Stimme klang streng und gebieterisch,
keineswegs freudig.
Lucas schluckte schwer. Die erste Abweichung von seinen Vorstellungen und
das warf ihn völlig aus der Bahn. „K-kann ich nicht erst mal reinkommen? Es ist
verdammt kalt.“
Sein Vater wich widerwillig ein Stückchen von der Tür zurück. Lucas betrat das
Haus seiner Eltern zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder, es war Weihnachten
und niemand warf sich in seine Arme. Da waren keine Geschenke, die sein
Vater ihm vor die Füße warf, als wäre er nie weggewesen. Keine kleine
Schwester zeigte ihm ihre neueste Puppe. Kein Hund wedelte mit dem
Schwanz. Keine Tränen, kein feucht- fröhliches Wiedersehen. Alles war nur
trocken. Und irgendwie falsch. Es roch nach Zimt und alten Erinnerungen, eher
den schlechten als den guten. Das zertrümerte Fenster. Die kaputte Vase.
Schlechte Noten. Die falschen Freunde. Streit beim Essen. Streit beim
Fernsehen. Seine weinende Mutter, so verzweifelt, so enttäuscht von ihrem
einzigen Sohn. Sein schreiender Vater, wütend und unversöhnlich.
Er schloß die Tür hinter sich.
„Nun, wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“ fragte sein Vater hart.
Lucas zögerte, dann beschloß er, die Wahrheit zu sagen. Weil Weihnachten war
und weil an Weihnachten alle bessere Menschen waren (oder auch nicht, er war
gerade dabei, es herauszufinden). „Ich war im Gefängnis“, sagte er nur.
Sein Vater senkte den Blick auf seine Füße und nickte langsam. „Sowas hätte
ich mir fast gedacht“, sagte er leise. „Also, was willst du jetzt? Geld? Ich hab
nicht viel im Haus, aber für ein Zimmer in einem billigen Motel wird es vorerst
schon genug sein.“
Wie soll ich denn Weihnachten in einem billigen Motel feiern!? wollte er
schreien. Sein Mund war trocken. Seine Kehle schmerzte. Warum umarmst du
mich nicht endlich und sagst mir, wie sehr du mich liebst?! Warum freust du
dich nicht, verdammt nochmal?!
„Papa, ich wollte eigentlich hierbleiben“, sagte er.
Sein Vater starrte ihn an, als käme er von einem anderen Stern. „Das kann doch
nicht dein Ernst sein?! Du hast uns fünf Jahre lang nicht gebraucht, dann wirst du
wohl auch jetzt ohne uns klarkommen. Du kannst auf keinen Fall hierbleiben!
Denk doch mal an deine Schwester! Du bist nun wirklich nicht der rechte
Umgang für ein achtjähriges Mädchen! Warte hier! Ich hole das Geld. Und dann
verschwindest du! Ich will hier keinen Ärger, wir haben Gäste.“ Er ließ ihn einfach
stehen und verschwand in irgendeinem Zimmer. Lucas stand nur da und starrte
die Wände an. Er verstand die Welt nicht mehr. Er verstand gar nichts mehr.
Noch immer rotierten die Worte seines Vaters in seinem Kopf, ohne eine
wirkliche Bedeutung anzunehmen. Er konnte sie einfach nicht einordnen, er
konnte sie nicht verstehen. Er und ein schlechter Umgang für Jenny? Er war ihr
Bruder, zum Teufel nochmal! Und es war doch Weihnachten! Sie konnten ihn
nicht einfach abschieben wie ein lästiges Haustier. Haustier? Wo war überhaupt
ihr Hund Sonny? Keine Spur von ihm. Eine Tür ging auf und seine Mutter kam
heraus. Auch sie war noch ganz dieselbe. Rund und pausbäckig. Sie hatte
immer viel gelacht und als er ganz klein war, hatte sie ihm vor dem
Schlafengehen immer lustige Lieder vorgesungen. Das war jetzt vorbei. Alles
war vorbei. Noch nie war ihm das auf derartig schmerzhafte Weise bewußt
gewesen wie in diesem Augenblick.
„Mama....“ Er versuchte etwas zu sagen, hatte aber keine Ahnung, was. War
doch ohnehin alles sinnlos. Sie hatten sich gegen ihn verschworen. Keine
offenen Arme, keine Freudenstränen! Zum Teufel damit! Seine Mutter kam zu
ihm und drückte ihm Geld in die Hand. Lucas ließ es einfach fallen, er sah es
nicht einmal an. „Nein“, sagte er. „Ich will hierbleiben, Mama.“ Jetzt war er es, der
weinte. Und das waren keine guten Tränen.
„Das geht nicht“, sagte sie kalt. „Ich hab gehört, du warst im Gefängnis. Und du
hast dich nie bei uns gemeldet. Jetzt willst du dich wieder einschmeicheln, weil
du nicht weißt, wohin. Aber jetzt sind wir es, die die Schnauze voll haben, so wie
du damals, als du Hals über Kopf das Weite gesucht hast.“
„Das ist lange her.“
„Das ist es ja. Gerade sind wir dabei, das alles zu vergessen und da stehst du
wieder vor der Tür und machst schlafende Hunde wach.“
„Wo ist überhaupt unser Hund?“ fragte Lucas und kam sich vor wie der dümmste
Trottel auf Gottes weiter Welt.
„Ich hab Jenny gesagt, sie soll ihn in der Küche einsperren. Ihn mußt du nicht
auch noch unnötig aufscheuchen. Du hast schon genug angerichtet. Und jetzt
nimm das Geld oder nimm es nicht und verschwinde aus diesem Haus. Du bist
seit fünf Jahren nicht mehr hier Zuhause.“
„Aber es ist Weihnachten“, flüsterte er.
„Ja, das Fest hast du uns gründlich verdorben, aber wir werden gute Miene zum
bösen Spiel machen. Jenny zuliebe.“
„Ihr könnt mich nicht alleinlassen. Nicht in dieser Nacht.“
„Du hast uns auch alleingelassen.“ Und mit diesen Worten wandte sie sich ab,
so wie Jenny und sein Vater es vor ihr getan hatten. Sie wandte sich ab und ließ
ihn stehen.
Lucas wartete noch einen Moment. Niemand kam. Aus dem Wohnzimmer hörte
er gedämpftes Gelächter. Jenny packte gerade ihre Geschenke aus. „Eine
Puppe!!!“ rief sie. Sie ging nicht, um sie ihrem großen Bruder zu zeigen.
Irgendwo bellte Sonny. Er hätte ihn gerne noch einmal gestreichelt. Nur ein
einziges Mal. Irgendwann ging Lucas wieder nach draußen, zurück in die Kälte,
zurück in den Schnee. Inzwischen war es dunkel geworden und die Lichterketten
und Christbäume und goldenen Engelchen sahen schöner aus denn je. Lucas
weinte, während er sich langsam von dem Haus seiner Familie entfernte. Heute
war Weihnachten und einige Leute waren heute tolerant, nett, großzügig, ja
liebevoll zu ihm gewesen, nur nicht seine Familie, nur nicht die Menschen, von
denen er es am meisten erwartet hätte. Jetzt wußte er nicht, wohin. Vielleicht
dorthin, wo er all diese guten Menschen wiederfinden konnte. Dorthin, wo
wirklich noch jeder ein offenes Herz hatte, zumindest am Weihnachtsabend.
Denn die alte Frau mit den Süssigkeiten und das kleine Mädchen und all die
anderen fröhlichen Menschen mußten ja auch irgendwo Zuhause sein. Er konnte
bloß hoffen, daß nicht auch ihre Herzen sich ganz plötzlich verschließen würden,
wenn er erst einmal vor ihrer Tür stand. Er konnte bloß hoffen, daß sie ihn nicht
ebenfalls mit Geld für das Zimmer in einem billigen Motel abspeisen würden,
wenn überhaupt. Das war ja das Schlimme: Wenn überhaupt.
ENDE