- Beitritt
- 23.07.2001
- Beiträge
- 1.974
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Die Haushälterin
Die Haushälterin
Karin Hoffmann schritt in ihrem Wohnzimmer unruhig auf und ab.
Hin und wieder richtete sie ein Kissen auf dem Sofa zurecht oder platzierte einige Dekorationsstücke in den Schrankregalen neu, was in dem tadellos gepflegten Raum völlig unnötig war und nur als Beschäftigung diente. Immer wieder richtete sie den Blick auf die große Wanduhr über dem Fernseher, die mit jedem Ruck des Zeigers ihre Angst verstärkte.
Es war bereits nach Mitternacht und Nicole, ihre sechzehnjährige Tochter war noch immer nicht zu Hause.
Seit ihr Mann die Familie vor Jahren verlassen hatte, lebten beide allein.
Anfangs bewältigte sie die schwierige Aufgabe einer alleinerziehenden Mutter recht gut. Sie sah sich als Freundin ihrer Tochter, wobei Vertrauen und Zärtlichkeit zwischen beiden immer das Wichtigste waren -
bis Nicole in die Pubertät kam.
Das Verhältnis zueinander wurde schwieriger.
Nicole trieb sich oft mit anderen Jugendlichen herum, die Leistungen in der Schule ließen nach. Als sie im Zimmer des Mädchens zufällig ein kleines Päckchen mit einer braunen Masse entdeckte und Nicole dann auch direkt zugab, daß es sich um Haschisch handelte, brach für die Mutter eine Welt zusammen.
Stofftiere auf den Regalen, Poster der aktuellen Popstars an den Wänden, immer noch der Teddy im Bett und dann dies Teufelszeug in ihrer Schublade.
Eine heile Welt, die von einem Virus infiziert war und gegen den die Waffen der Mutter zu schwach waren.
Doch dies war die Realität, mit der sie umgehen mußte und der sie sich mit all ihrer Kraft entgegenstemmte.
Karin Hoffmann hatte danach ihren Beruf als Krankenschwester aufgeben müssen und arbeitete seither in der Verwaltung, weil sie der Schichtdienst im Krankenhaus zwang, die Tochter zu oft allein zu lassen. Aber trotzdem entglitt ihr Nicole immer weiter. Bald mußte sie den verzweifelten Kampf einer Mutter aufnehmen, deren Tochter immer mehr auch härteren Drogen verfiel.
Oft suchte sie ihr Kind an den heruntergekommenen, stadtbekannten Plätzen an denen sich die Abhängigen den Stoff besorgten und ihre „Schüsse“ setzten.
Es gab aber auch Momente, in denen Nicole einsichtig schien und ihre Mutter anflehte, ihr zu helfen. Karin Hoffmann tat ihr Möglichstes, ihre Tochter zu stützen und wieder auf den Weg in ein normales Leben zurückzuführen, aber nach wenigen Tagen war sie wieder in die Szene abgeglitten. Sie hätte nicht die Kraft, sich von den Drogen zu befreien, hatte ihr das Kind dann unter Tränen geklagt.
Wie so oft hatte Karin Hoffmann auch heute die einschlägigen Plätze abgesucht, war durch schmuddelige Hinterhöfe und abbruchreife Häuser gegangen und hatte andere Jugendliche, von denen sie wußte, daß sie Nicole kannten, gefragt.
Am Schluß war sie, wie schon einige Male zuvor, zur Polizei gegangen, um dort eine Vermißtenmeldung aufzugeben.
Und wie zuvor hatte man ihr geraten, nach Hause zu gehen und abzuwarten, bis man sich bei ihr meldete.
Dieses Warten war das Schlimmste.
Das Auf- und Abgehen, mit den Gedanken bei dem Kind, das sie in ihre Arme schließen, mit einem Schild aus Liebe umgeben wollte und das ihr doch immer mehr entglitt.
Sie blieb vor der kleinen Anrichte stehen und betrachtete die Familienbilder, die dort aufgereiht standen.
Nicole als Baby, auf einem Fest im Kindergarten, bei der Einschulung mit der großen, bunten Tüte, die sie von einer Tante geschenkt bekommen hatte und auf die sie so stolz gewesen war.
Fotos von der ganzen Familie, auf denen Alle lachten und die ihr jetzt die Tränen in die Augen trieben.
Bilder aus Zeiten, als die Welt noch in Ordnung war.
Bilder, die eine glückliche Zukunft versprachen und keinen Hinweis auf eine Entwicklung gaben, die nur wenige Jahre später die Welt aus den Fugen geraten ließ.
Karin Hoffmann haßte ihren Mann dafür, daß er sie alleingelassen hatte, haßte die Menschen, die unschuldige Kinder aus Profitgier in den Abgrund rissen und haßte die Welt, die all das gleichgültig und scheinbar tatenlos zuließ.
XXXXXXX
Gemächlich glitt der schwere Jaguar die Auffahrt durch den weiten Park zur Villa hinauf. Dr. Holland lenkte den Wagen in die breite Garage, deren Tor sich automatisch geöffnet hatte, stieg aus und trat an den Porsche heran, der ihm gefolgt war und dessen Fahrer nun ebenfalls ausstieg. Im Gegensatz zu dem Hausherrn, der in seinem edlen Maßanzug groß und stattlich als erfolgreicher Rechtsanwalt hervorragend zu dem noblen Anwesen paßte, machte sein Gesprächspartner eher den Eindruck eines neureichen Lebemannes, dem es trotz seiner teuren Kleidung nie gelingen würde, seine einfache, wenn nicht gar billige Herkunft zu leugnen.
Auch Dr. Holland war der Wohlstand nicht in die Wiege gelegt worden.
Nach seinem Studium hatte er sich mit einer kleinen Kanzlei selbstständig gemacht und sein Geld mit harmlosen Rechtsstreitigkeiten und der Ausarbeitung von Verträgen verdient. Bald aber zeigte sich sein Talent in Strafprozessen, in denen er sich besonders als Verteidiger im Drogenmilieu hervortat.
Ihm wurde sehr schnell klar, welche Fehler seine Klienten immer wieder machten, die sie letztendlich hinter Gitter brachten.
Dieses Wissen und die Kontakte, die ihm seine Arbeit zwangsweise erschloß, nutzte er bald dazu, selbst in den Handel einzusteigen. Stets achtete er darauf, im Hintergrund zu bleiben und wurde so zu einem der großen Schatten, an die heranzukommen der Polizei so große Schwierigkeiten bereitete.
„Ich gebe ihnen das Geld im Haus.“ raunte er dem Mann zu. „Und wenn die Sache abgewickelt ist, rufen sie mich mit dem Handy an. Und nennen sie nie meinen Namen.“
Ohne eine Bestätigung abzuwarten, stieg Dr. Holland vor dem Fremden die breiten, von Statuen umsäumten Stufen zum Eingang hinauf und betrat die Halle.
Kaum hatten sie das Haus betreten, als eine Tür der angrenzenden Räume geöffnet wurde und eine schlanke Frau von undefinierbarem Alter erschien. Sie trug eine billige Kittelschürze und Handschuhe aus Plastik. In der linken Hand hielt sie ein Putztuch.
„Guten Abend Herr Doktor.“ begrüßte sie ihren Arbeitgeber in dem holprigen, harten Akzent, den osteuropäische Zuwanderer nie ganz los werden, selbst wenn sie schon lange
Jahre im Lande lebten. Maria hingegen hielt sich erst einige Wochen im Westen auf und sprach darum nie sehr viel.
„Was machst du denn noch hier?“ fuhr ihr Arbeitgeber sie an, ohne daß er ihren Gruß erwiderte. Seine Verärgerung und Überraschung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Er war davon ausgegangen, allein im Haus zu sein. Auch seinem Gast war das Zusammentreffen offensichtlich nicht recht, denn er wandte sein Gesicht ab, so daß er von der Frau nicht zu erkennen war.
„Ich habe noch Arbeit“. erklärte sie demütig. Man merkte, daß sie sich die Aussprache jedes Wortes genau überlegte. Sie gab sich Mühe.
„Ich will nicht, daß du den ganzen Abend hier herumlungerst. Ich habe auch zu arbeiten und kann hier niemanden brauchen. Aber wenn du schon einmal da bist, dann bringst du mir in einer Viertelstunde ein paar Brote und ein Glas Milch und dann verschwindest du.“ Maria senkte demütig den Blick und schien ein wenig in sich zusammenzusinken.
Maria, die illegale Einwanderin, die für wenig Geld auch bereit war, ohne Klagen die schwerste Arbeit zu verrichten, zog sich wortlos wieder zurück.
Fünfzehn Minuten später klopfte sie an die Tür des Arbeitszimmers. Als sie von innen ein bestätigendes „Ja“ hörte, trat sie ein.
Der Fremde war verschwunden und Dr. Holland saß an seinem Schreibtisch, auf dem er einige Akten aufgeschlagen hatte und beachtete sie nicht. Sie stellte das Tablett auf einer freien Ecke des Tisches ab und wartete einen Moment, um einen möglichen weiteren Auftrag entgegenzunehmen.
„Was willst du noch? Verschwinde jetzt.“ brummte er ohne aufzusehen und blätterte weiter in den Papieren, die vor ihm lagen.
Wortlos verließ sie den Raum.
Der Anwalt las in den Unterlagen, machte sich dazu Notizen und blätterte hin und wieder in einem der dicken Gesetzbücher, die zu einem großen Teil das Regal hinter ihm einnahmen.
Ab und an griff er sich eines der angerichteten Brote und trank von der Milch, die ebenfalls auf dem Tablett stand.
Er hatte einen langen Arbeitstag hinter sich. Nach einer Weile fiel es ihm immer schwerer, sich auf die vor ihm liegenden Texte zu konzentrieren. Es hatte keinen Zweck, sich länger zu quälen und womöglich Fehler zu machen, darum entschied er sich schlafen zu gehen und am nächsten Tag weiterzuarbeiten.
Doch als er sich aus seinem schweren Stuhl erheben wollte, begann sein Kreislauf verrückt zu spielen. Ihm wurde schwindlig und er ließ sich wieder in die Polster sinken.
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und sein Magen krampfte sich zusammen. Die Arme und Beine wurden kraftlos, sein Atem ging flach und stoßweise. Er kannte das Gefühl von einer gelegentlichen Unterzuckerung oder wenn er nicht rechtzeitig genug gegessen hatte. Aber diesmal wurde es schlimmer. Langsam überkam ihn Panik. Er fürchtete, zu ersticken. Mit Gewalt sog er Luft in seine Lungen und versuchte, sich erneut aufzurichten aber sein Körper brachte nicht die nötige Kraft auf. Die Wände um ihn begannen sich pulsierend zu bewegen. Der Raum drehte sich, und als ihn die Bewußtlosigkeit erlöste, kippte sein Oberkörper auf die Schreibtischplatte herab.
Das Schwindelgefühl kam zurück.
Nicht so heftig wie zuvor aber noch immer stark genug, um zu verhindern, daß Dr. Holland mit klaren Gedanken seine Lage erfassen konnte. Er hatte die Kontrolle über seinen Körper noch nicht wiedererlangt aber wenigstens war der würgende Reiz nicht mehr da.
Als er versuchte, die Augen zu öffnen, blendete das Licht der Schreibtischlampe wie eine gleißende Sonne. Er senkte wieder den Kopf, um den schmerzenden Strahlen zu entgehen. Gleichzeitig wurde ihm klar, daß das taube und kribbelnde Gefühl in seinen Gliedern nichts mit seinem körperlichen Zustand zu tun hatte.
Er konnte sich nicht bewegen!
Wie ein Schlag traf ihn die Panik, die sich wie eine grausame, kalte Welle durch seinen Körper zog.
Seine Arme waren an die Lehnen des Stuhles gebunden und seine Beine waren ebenfalls gefesselt. Das einzige, worüber er noch Kontrolle hatte, war sein Kopf.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Augen wieder an das Licht gewöhnt hatten und er sich im Raum umsehen konnte.
Er war allein.
Tausende wirre Gedanken schossen ihm durch den noch immer schmerzenden Schädel. Nur langsam ließ sich sein Geist zwingen, die Situation, in der er sich befand, zu erfassen.
Er saß gefesselt in seinem Stuhl...., in seinem eigenen Haus,....und Niemand war da.
Kein Gegner, der ihn mit höhnischem Blick anstarrte und ihm eine Erklärung gab.
Wie lange würde er noch allein bleiben?
Dr. Holland brauchte endlose Sekunden, um sich so weit zu beruhigen, daß er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
Er mußte freikommen.
Ihm war immer klar gewesen, daß seine Geschäfte nicht ohne Risiko waren. Der Markt war hart umkämpft aber er war immer sehr vorsichtig vorgegangen und hatte sich im Hintergrund gehalten. Alle, die ihm gefährlich werden konnten, hatte er gekauft oder zu Mitarbeitern gemacht und einige, die sich stur stellten, gab es einfach nicht mehr.
Aber egal, wer es auch auf ihn abgesehen hatte, zuerst mußte er freikommen.
Die Panik stieg wieder stärker in ihm auf.
Die Befürchtung, seine Gegner würden jeden Moment zurückkehren, wurde verstärkt von seiner Platzangst .
Schon als Kind hatte er um sich getreten, wenn er festgehalten wurde.
Diese Fesseln, die ihm jede Bewegung verwehrten, brachten ihn an den Rand des Wahnsinns.
Er rüttelte mit aller Gewalt an den Gurten, versuchte, mit den Beinen zu strampeln und zu treten, wodurch ihm die stramm gezogenen Riemen noch zusätzliche Schmerzen bereiteten.
Tränen schossen ihm in die Augen. Nicht nur vor Schmerz.
Ein erwachsener Mann, der weint?
Verdammt ja!
Er hielt diese Hilflosigkeit nicht mehr aus.
Mit den Händen konnte er die Fesseln nicht erreichen. Er sah sich im Raum um, in der Hoffnung einen scharfen Gegenstand zu entdecken, an dem er die Fesseln aufschneiden konnte.
Verflucht..... in diesen Scheißfilmen gibt es so etwas immer.
Aber das wirkliche Leben hält sich nicht an Drehbücher.
Von außen nahm er ein Geräusch war.
Dann schwang die Tür mit einem leisen Knarren auf und Maria erschien.
„Gott sei Dank!“ Sein Herzschlag beruhigte sich um einen Takt.
„Ich bin überfallen worden! Maria, du mußt mir die Fesseln aufschneiden, schnell.
Die Verbrecher können noch im Haus sein.“ Er sprach mit gedämpfter Stimme und versuchte durch die offene Tür in die Halle zu blicken.
„Dr. Holland,“ erklärte Maria ganz ruhig. „ es ist niemand mehr im Haus.“ In ihrer Stimme klang eine Gelassenheit mit, die er von ihr nicht kannte und die ihn irritierte.
„Dann mach mich jetzt los!“ befahl er und machte dabei eine auffordernde Geste mit dem Kopf.
Die Haushälterin, die immer noch ihre Haushaltshandschuhe trug, trat an den Schreibtisch heran.
„Das werde ich nicht tun.“ Um ihre Worte zu unterstreichen schüttelte sie leicht den Kopf und sah ihren Arbeitgeber ernst an.
„Für mich ist es wichtig daß sie hier sitzen.“
Dr. Hollands Augen weiteten sich vor maßlosem Erstaunen.
Erst jetzt fiel ihm auf, daß Marias harter Akzent verschwunden war und sie in klarem Hochdeutsch ohne erkennbaren, fremden Einschlag zu ihm gesprochen hatte.
„Was soll das?“ brüllte er los. „Bist du verrückt geworden? Was willst du von mir? Wenn du Geld willst, dann kann ich dir was geben, aber erst machst du mich hier los!“
Wortlos setzte sich die Frau auf den Besucherstuhl ihm gegenüber und bückte sich nach einer Tasche, die bisher außerhalb seines Blickfeldes auf dem Boden gestanden hatte.
„Ich möchte ihnen eine Geschichte erzählen.....meine Geschichte.“ Sie griff dabei in die Tasche und zog einige gerahmte Fotos daraus hervor, die sie vor Dr. Holland in einer Reihe so auf den Tisch stellte, daß er sie ansehen konnte.
„Ich verspreche dir, daß ich mich mit dir über deine Geschichte unterhalten werde, aber zuerst wirst du mich losbinden. Hast du mich verstanden?“ Die letzten Worte brüllte er heraus und begriff sofort, wie falsch es war, die Frau in dieser Situation so anzufahren.
Aber er war völlig hilflos und hatte Angst.
Maria hielt einen Augenblick inne, sah ihn mit ausdruckslosen Augen an und fuhr fort.
„Sie würden mich nicht anhören, aber es muß sein.
Sie haben keine Kinder, und ich möcht ihnen etwas über Kinder erzählen.
Haben sie einmal in die Augen eines Kindes gesehen?
Sie sind wach, fröhlich und voller Neugierde auf eine Welt, die ihnen so viel zu bieten hat und sie erwarten viel. Sie werden von Tag zu Tag wacher, sie lernen, sie werden geliebt und sie geben Liebe. Ob sie wollen oder nicht. „Ihre Stimme nahm einen verträumten Klang an, ihr Blick schweifte in eine Ferne und sah Bilder, die nur sie sehen konnte. „Sie geben so unendlich viel Liebe und sind in der Lage Menschen so leicht glücklich zu machen, denn die Gefühle, die Kinder zeigen, sind echt und darum geben sie so viel.“
Schweiß lief ihm von der Stirn in die Augen.
„Maria..... bitte!“
Ich hatte auch so ein Kind, eine Tochter.
Wir waren glücklich und hatten Pläne und Wünsche und Träume. Ich wollte alles daransetzen, diese Träume Wirklichkeit werden zu lassen.
Aber das Leben ist nicht immer so, wie man es sich wünscht.
Dann kommen irgendwann Kräfte und Verführungen, die diese Hoffnungen zunichtemachen und aus einem sorglosen Leben wird die Hölle. Kein Tag vergeht ohne Leiden und Angst. Man kämpft gegen einen übermächtigen Feind, der einen zu verhöhnen scheint und man kann diesen Kampf nur verlieren.“ Sie sah ihr Gegenüber wieder klar an.
„Sehen sie sich diese Bilder an. Dieses glückliche Kind hat den Kampf verloren, als sie sechzehn Jahre alt war.
Da waren Menschen, die es verstanden haben selbst Kinder in den Sumpf von Drogen herabzuziehen und sie für Geld gewissenlos zu opfern.“
Dr. Holland mußte die vor ihm aufgereihten Bilder ansehen, ob er wollte oder nicht.
„Maria,“ erklärte er in besänftigendem Ton,“ ich würde dir gern helfen aber dazu muß ich von diesem Stuhl loskommen.“
Die Frau schien seine Worte nicht zu hören, denn sie fuhr fort, als wäre sie nicht unterbrochen worden.
„Ich möchte auch von mir erzählen, denn das Leid hört nicht auf.
Gottlob, gibt es aber auch Menschen, die helfen wollen. Menschen, die dasselbe Schicksal ereilte.
Ich traf diese Menschen in einer Selbsthilfegruppe. Wir schafften es gemeinsam, mit dem Schmerz leben zu können. Aber da blieb immer noch die brennende Hilflosigkeit gegenüber dieser Seuche, die uns die Kinder genommen hatte.
Für uns war es wie eine Krankheit, gegen die es noch kein Mittel gab.
Aber in unserer Gruppe gibt es viele, die dies nicht hinnehmen konnten und nach einem Gegenmittel suchten. Jede Verhaftung eines kleinen Dealers war für uns, als würde man eine Wunde verbinden, wobei der Stachel im Fleisch verbleibt und sein Gift weiter ungehindert in die Blutbahnen abgibt.
Wir haben uns entschlossen, diesen Stachel zu ziehen.“
Dr. Holland schien es, als legten sich zusätzliche Stahlreifen um seine Brust, die sich bei jedem ihrer Worte unbarmherzig weiter zuzogen und ihm die Brust zusammenpreßten.
Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren. „Aber was habe ich damit zu tun?“ Er neigte sich so weit vor, wie er konnte und legte so viel flehende Kraft in seine Stimme, als wolle er eine unsichtbare Wand, die sein Gegenüber zu umschließen schien, und unempfindlich für seine Emotionen machte, durchstoßen.
„Maria, du mußt mir glauben. Ich habe mit diesen Dingen nichts zu tun.
Aber ich kann dir sicher helfen. Nur, wenn du mich nicht frei läßt wirst auch du im Gefängnis enden und das hilft doch auch deinen Freunden nicht und auch nicht eurer Sache.“
„Sie irren sich, Dr. Holland.“ Von Maria schienen auf einmal die Schleier der Depression abgefallen zu sein. Sie wirkte kalt und entschlossen.
„Wir haben ein ganzes Jahr gebraucht, um dies alles vorzubereiten. Ich bin keine Einwanderin. Ich halte mich hier unter falschem Namen auf, mich kennt Niemand und wenn ich fort bin, wird mich auch Niemand beschreiben können. Ihnen ist nie aufgefallen, daß ich ständig Handschuhe trug. Dadurch gibt es keine Fingerabdrücke oder sonstige Spuren von mir.
Sie beugte sich zu ihrer Tasche herunter, hob sie auf und kam um den Tisch herum.
„Haben sie einmal einen Drogenabhängigen gesehen? Haben sie je in die verquollenen Augen, in die aufgedunsenen Gesichter dieser Unglücklichen, zitternden Gestalten geblickt, in deren Köpfen kein Platz mehr ist für Lachen und Freude, deren einziges Streben sich nur darum dreht,- Wie beschaffe ich mir den nächsten Schuß-? Wissen sie, wie lange das Sterben dieser Unglücklichen dauert? Ich kann es ihnen sagen.
Es dauert lange.
Sehr lange.
Meistens Jahre, in denen der körperliche Verfall mit dem sozialen einher geht. Aber das langsame Sterben hat unter gewissen Umständen auch einen wichtigen Vorteil:“ Sie sah ihn direkt an und er erkannte jetzt die kalte Verachtung und Unbarmherzigkeit in ihren Augen. „Man hat Zeit zum Nachdenken! Mir liegt viel daran, daß auch Sie Zeit zum Nachdenken haben.“
Wieder schossen ihm Tränen in die Augen. Er schwitzte. Das Zittern seines Körpers wurde nur durch die Stöße seines Schluchzens unterbrochen. „Bitte mach dich nicht unglücklich. Es tut mir alles sehr leid. Ich verspreche, daß ich dich unterstützen werde. Ich kenne Leute und Hintermänner. Ich kann sehr wertvoll für dich sein.“
Außerhalb seines Blickfeldes machte sie sich an ihrer Tasche zu schaffen und holte einige dünne Schläuche und metallisch glänzende Röhrchen hervor. „Ich glaube nicht, daß sie uns viel weiter bringen können.“ Sie verband die Schläuche mit den Metallteilen. Er versuchte, seinen Kopf zu drehen, um zu erkennen, was sie da tat. „In der Zeit, in der ich hier gearbeitet habe, konnte ich eine Menge erfahren, aber das Meiste wußten wir ohnehin schon.“ Endlich erschien sie wieder in seinem Blickfeld. Doch als er erkannte, was sie in der Händen hielt, wurde sein Flehen zu wortlosen Grunzlauten. Er verschluckte sich und Hustenanfälle mischten sich mit Wortfetzen.
Die Frau, die ihm noch immer nicht ihren wahren Namen genannt hatte, trennte mit wenigen Schnitten beide Ärmel seines Hemdes auf. Als er die Nadeln, die in den Schläuchen endeten, in ihren Händen sah, wurde ihm mit Grauen bewußt,
warum seine Arme in dieser merkwürdig gestreckten Haltung gebunden waren.
Er begann hemmungslos zu schreien und wand sich wie ein wildes Tier in seinen Fesseln.
„Sie machen es uns nur unnötig schwer.“ erklärte sie ruhig, wie zu einem Patienten, der sich vor einer unumgänglichen Behandlung sträubt.
„Wie fühlt es sich an, wenn sich ein Abhängiger die Nadel in die Vene schiebt?“
Und mit einem Schrei, der nichts Menschliches mehr an sich hatte, quittierte er den Stich in seine Haut.
„Vielleicht fühlen ihre Opfer genauso, wie Sie jetzt, denn auch sie wissen bei jeder Spritze, die sie setzen, welchem unabänderlichen Schicksal sie entgegengehen.“
Den zweiten Stich begleitete nur noch ein Gurren und Stöhnen, in dem nur schwer die verzweifelt, flehenden und bittenden Worte zu erkennen waren.
Karin Hoffmann, die sie jetzt wieder war, dachte einen winzigen Moment darüber nach, wie dünn doch die menschliche Persönlichkeit war, wie schnell aus einem skrupellosen, herrschsüchtigen und brutalen Menschen ein jammerndes und sabberndes Wrack wurde, wenn er nur selbst einmal vor all den unmenschlichen Grausamkeiten stand, die er immer wieder ohne Gewissen anderen zugefügt hatte.
Ein trauriges Etwas, das jede Persönlichkeit verloren hatte und fast schon Mitleid erregte.
Aber als sie den Blick hob und die Bilder ihrer Tochter auf dem Tisch sah, nahm wieder das vertraute Gefühl von Traurigkeit und Kälte von ihr Besitz. „Wieviele Liter glauben sie, haben sich die armen Geschöpfe bisher von dem Gift, mit dem Sie Ihren Reichtum geschaffen haben zubereitet und in die Adern gespritzt? Zwei, drei oder vier? Wahrscheinlich sind es mehr!“ Sie öffnete die winzigen Ventile an den Kanülen und langsam floß das rote Leben durch die transparenten Schläuche.
Dr. Holland saß mit hochrotem Kopf und tränenverquollenen Augen winselnd in seinem Sessel, während sich unter ihm aus den Tropfen, die sich in schneller Folge von den Enden der Schläuche lösten und zu fließenden Fäden wurden, zunächst kleine Pfützen auf dem Fußboden bildeten, stetig größer wurden.
Karin nahm wieder auf dem Besucherstuhl Platz.
„Sind Sie religiös Dr. Holland?“ fragte sie unvermittelt, aber ohne tatsächlich eine Antwort zu erwarten.
„Ich denke, es wäre gut, wenn Sie jetzt in einem Gebet Ihre Sünden bekennen, denn wer auch immer im Jenseits über sie richten wird, wird doch wahre Reue erkennen.“
Für einen Moment herrscht Stille in dem Raum und nach einer Weile bildeten sich tatsächlich undeutliche Worte auf seinen sabbernden Lippen: „Lieber Gott.“ gefolgt von einem rhythmischen Gemurmel, dessen Sinn nicht zu verstehen, aber eindeutig an jemandem gerichtet, der allgegenwärtig war und jedes Wort und jeden Gedanken erkannte.
Und bald verlor das Licht im Raum seine Kraft, die Gestalt von Karin Hoffmann wurde undeutlicher, alle Konturen verliefen ineinander und um Dr. Holland wurde es Nacht.