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Die Hans Müller
Nach Feierabend begab ich mich mal wieder auf mein Lieblingsblog „Schall und Rauch“. Ich überflog die Kommentare zum neusten Beitrag. Bei einem blieb ich hängen.
Inhaltlich war er nichts besonderes. Aber dieser Name: Albrecht Kuczewski.
Eigenartig. War das nicht verboten? Oder zumindest … unüblich?
Am Abend lag ich lang wach und konnte nicht einschlafen. Ich hätte beinahe Anna geweckt, doch ich beherrschte mich. Sie hatte mit ihrer neuen Schulklasse viel zu tun und brauchte den Schlaf. Und dann war da ja noch ihr Bauch. Was sollte sie in dieser Situation mit meinen kranken Gedanken anfangen?
* * *
Am nächsten Morgen in der Firma erwartete mich ein anstrengender Arbeitstag.
- Guten Morgen, Herr Müller! Sehen aber müde aus heute.
- Ach ja, Herr Meier. Habe Schlafprobleme. Sollte mir vielleicht was verschreiben lassen. Was gibt's Neues?
- Nicht viel. Nur Wettbewerbsverstöße, das Übliche halt. Du hast Glück heute, kannst wohl früher Schluss machen.
- Aber heute ist doch der 20. Juli! Das wird schon noch heiß heute Abend.
- Oh, stimmt, habe ich ganz vergessen. Dann viel Spaß noch! - Er grinste schadenfroh.
Ich legte mich mit meiner Spürsoftware auf die Lauer. Früh am Morgen gab es noch wenig zu tun, da schliefen meine alten Bekannten noch. Eine regelmäßige Arbeit hatte schließlich nur eine Minderheit von ihnen. Aber gegen 15 Uhr gingen die Streitereien los. Das 90. Jubiläum des Attentats auf Hitler 1944 brachte die Communitys zur Weißglut. Die Antifa gegen die Neonazis - ein klassischer Konflikt, der nichts von seiner Sprengkraft eingebüßt hatte.
Da – eine Morddrohung im VSZ-Forum! Die Abwicklung war schnell, Polizei benachrichtigt, nach 30 Minuten war der Mann festgenommen. Insgeheim hatte ich gehofft... aber nein, es war Hans Müller, wie immer.
* * *
Endlich Feierabend. Ich zog den Kollegen Hans Meier mit in die PrivatBar. Wir bestellten ein paar Bier und parlierten erst einmal ein paar Minuten über Gott (hieß er eigentlich auch Hans?) und die Welt. Dann rückte ich mit meinem Vorhaben heraus:
- Weißt du, manchmal finde ich die ganze Hans-Müller-Kultur zum Kotzen. Alle heißen Hans Müller! Ja, und ich auch! Es ist trotzdem unerträglich!
- Also mir ist das egal, ich hab mich schon dran gewöhnt. Und wenn schon. Ist doch besser so, dass die Leute nicht gleich wissen, wer du bist, wenn du dich im Internet mal im Ton vergreifst.
- Aber hör doch mal zu! Die ganze Namenskultur geht verloren! Weißt du, da ist noch was...
Ich schluckte. Irgend jemandem musste ich es erzählen.
- Annas Junge. Ich habe keinen Bock, ihn Hans zu nennen. Ich habe da einen wunderbaren Namen gesehen letztens. Albrecht. Ein Kommentator in einem Blog hieß so. Dieser Name! Wie ein Flashback in eine längst vergangene Zeit voller Glanz und Individualität. Ich würde den Jungen gerne so nennen.
- Wirklich? Bist du dir da ganz sicher?
- Ja.
- Und Anna, was sagt sie dazu?
- Naja, ich habe mich noch nicht getraut sie zu fragen...
- Du bist verrückt! Denk daran, was dem Kind droht! Die ganzen Sachen, die wir doch schon überwunden glaubten! Mobbing fängt ja heute schon im Kindergarten an...
- Na und? Damit muss der Herr Sohn dann halt umgehen! Ob er jetzt gemobbt wird weil er zu dumm oder zu schlau ist oder wegen seinem Namen ist doch auch egal!
Ich schaute ihm in die Augen.
- Kannst du dich noch an das Buch erinnern, das ich mir letztens gekauft habe?
- Ähm, nein. Welches?
- „Wir“ von Samjatin. Das mit der gläsernen Gesellschaft, in der jeder nur eine Nummer statt einem Namen hat. Wo alles bis ins kleinste Detail vom Staat überwacht wird.
- Ah ja, stimmt.
- Weißt du, ich fühle mich manchmal wie eine Nummer. Wie in diesem Roman!
- Du übertreibst.
- Wenigstens hatte in „Wir“ jeder noch eine individuelle Nummer, um sich von anderen zu unterscheiden. Aber wir haben ja nicht einmal das!
- Nun ja, wenn ich mir das so überlege, hast du schon Recht. Wenn ich in die Geschichtsbücher schaue, bekomme ich manchmal schon etwas wehmütige Gefühle bei Namen wie Napoleon oder Aristoteles. Das wäre heute undenkbar...
- Genau. Tolle Vorstellung: Wenn ich in meinem Leben es zu was bringen sollte, steht dann später in den Büchern nur „Hans Müller“. Der vierundzwölfzigste? Würde mich ja am liebsten umbenennen lassen, geht aber ja seit diesem blöden Gesetz von 2031 nicht mehr. Aber meinem Sohn will ich das nicht zumuten!
- Wenn du meinst. Aber wie gesagt: Die Hans-Müller-Bewegung gab es nicht ohne Grund. Du könntest wenigstens einen nur leicht abartigen Namen nehmen, so wie Johannes.
- Das ist doch dasselbe. Ach, keine Ahnung.
Wir saßen noch eine lange Weile stumm herum und starrten in unsere Biergläser. Dann brachen wir auf, jeder in sein Heim. Anna schlief schon. Ich brauchte dafür wie erwartet länger.
Um Zeit totzuschlagen, schaute ich noch bei „Schall und Rauch“ herein. Albrecht Kuczewski hatte heute nicht kommentiert. Dann kam mir der dumme Gedanke, doch mal im Online-Telefonbuch nachzuschauen.
Doch auch dort nur das Übliche:
Hans Müller, Fernmeldetechniker.
Hans Müller-Meier, Gymnasiallehrer.
Maria Meier, Einzelhandelskauffrau.
Dr. Anna Maier, Chemikerin.
Anna Müller, Gastronomin.
Johannes Müller, Musiker.
Heinz Müller, Bestattungsunternehmer.
Schließlich schlief ich ein.
* * *
Ein paar Tage später beschloss ich, beim Abendbrot mit Anna zu reden. Sie hatte in der Schule nicht so viel zu tun gehabt und war gut gelaunt. Ich nutzte die Gelegenheit.
- Du, ich möchte kurz mit dir was Persönliches besprechen.
- Aber klar, Schatz. Was bedrückt dich denn?
- Naja, es geht um den Kleinen. Ich …
Ich schluckte wieder. Anna sah mich mit ihren großen braunen Augen an, so traute ich mich.
- Ich würde ihm gerne einen individuellen Namen geben. Ich dachte an Albrecht.
Ihre Augen wurden noch größer.
- Albrecht? Bist du verrückt geworden?
- Weißt du, die ganze Hans-Müller-Bewegung... das ist alles so anonym geworden. Ein Name sagt doch heute gar nichts mehr aus, weil alle gleich sind. Fast alle heißen Hans oder Anna Müller, wie wir. Heinz, Johannes, bei Frauen Maria, oder der Nachname Meier sind doch das höchste, was sich die Leute heute trauen...
- Das verstehe ich schon, aber du weißt doch, was unserem Sohn sonst bevorsteht! Denk daran, das er sich nicht verstecken kann, nirgends! Pseudonyme sind nun mal verboten! Und wenn er im Internet mal was blödes sagt, wenn er ein paar Bier getrunken hat, Liebeskummer hat oder so? Jeder sieht es sofort, das er es war!
- Aber das ist doch inzwischen egal! Die Technik ist ja heute schon etwas weiter! Wenn du im Internet Mist baust, wirst du sofort von unserer Spürsoftware gefunden. - Es bringt gar nichts mehr, sich Hans Müller zu nennen!
- Hans, es geht doch um etwas ganz anderes! Die Kids sind wahnsinnig intolerant geworden! Wenn die im Netz was lustiges entdecken und jemand zufällig das Profil des Opfers kennt, ist es aus... Bei mir letztens in meiner fünften Klasse wurde ein Mädchen gemobbt, weil sie ein Foto von sich selbst mit roten Ohrhörern veröffentlicht hat. Dann ein Junge, der sich im Netz als Michael-Jackson-Fan geoutet hatte. Seine Mutter hat mir beim letzten Elternabend erzählt, dass er jetzt zum Psycho geht. Und jetzt stell dir das vor, wenn unser Junge überall erkennbar ist, ohne dass jemand sein Profil kennen muss. Dem Jungen steht die Hölle bevor!
- Aber er kann doch lernen, damit umzugehen!
- Hans. Ich könnte dir noch viel mehr Storys aus meiner Schule erzählen. Und dann noch das Thema Personalchefs. Wenn die eine Bewerbung von einem Albrecht sehen, was denkst du, wird dann passieren?
Damit hatte sie leider recht. Die Personalchefs waren konservativ wie eh und je.
- Aber vielleicht wird er ja Künstler... oder Unternehmer...
- Bitte. Schlag dir den Gedanken aus dem Kopf. Du weißt doch ganz genau, was es mit einem individuellen Namen für Probleme geben wird. Aber warte...
- Ja?
- Wollen wir ihn vielleicht Johannes oder Heinz nennen? Das wäre noch in Ordnung...
Ich gab auf. Vielleicht war ja in ein paar Tagen was zu machen.
* * *
Als ich heute die Zeitung öffnete, traf mich die Schlagzeile mit voller Wucht.
Albrecht Kuczewski war tot. Erschlagen von einem Neonazi, der sich von seinem Namen provoziert fühlte. An jenem 20. Juli 1944 waren ja mindestens sieben Namensvettern beteiligt...
Ruhe in Frieden, Albrecht. Wir werden ihn Johannes nennen.