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Die Handtasche
Wolfgang warf die aufgerauchte Kippe zwischen die Gleise am Bahnsteig und machte auf den Absätzen kehrt, um wieder in seine Lok einzusteigen, mit der er gleich den Regionalexpress zurück nach Kassel fahren musste. Draußen war es mittlerweile hell geworden, die zarten Lichtstrahlen der Morgendämmerung fielen durch das Gläserne Dach des Frankfurter Hauptbahnhofs. Weiter hinten stiegen noch immer Reisende in seinen Doppelstockzug ein.
In drei Minuten würde er abfahren. Von irgendwoher roch es nach frisch gebrühtem Kaffee.
Er griff zu den Holmen der Handgriffe und setzte seinen Fuß auf das unterste Trittbrett, wollte sich gerade hochziehen. Die morgendliche Kühle ließ ihn immer wieder erschauern, immer wieder ging ein eisiger Wind durch die Einfahrt unter dem gigantischen Stahlgerüstdach. Die letzte Fahrt für heute. Noch einmal die rund 160 Kilometer nach Kassel, den Zug an den Kollegen übergeben und dann nach Hause, Essen kochen, Geschirr spülen, Staubsaugen und etwas aufräumen bis seine Tochter Melanie aus der Schule heimkommen würde.Dann konnte er die Füße hochlegen. Seit seine Frau vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam lebte er allein mit seiner Tochter. Oft wußte er nicht, wie er das alles schaffen soll. Sie war mit 16 zwar aus dem Gröbsten heraus, aber dennoch mußte man auf sie aufpassen. Sie war alles was er noch hatte.
Da fühlte er plötzlich, wie jemand seine Schulter berührte.
"Entschuldigen sie!" hörte er auch schon eine junge Frauenstimme.
Erschrocken drehte er sich herum.
Das Mädchen war etwa in dem Alter wie seine eigene Tochter. Und sah ihr ziemlich ähnlich. Dasselbe schwarz gefärbte Haar, auch bei ihr wuchs sich die Farbe langsam aus. Auch ihre Augen waren ebenso grün wie die seiner Tochter. Und die seiner Frau. Die selben grünen Augen mit dem leichten grau darin, das sie so funkeln liessen. Ein Stich fuhr ihm durch das Herz.
Für die morgendliche Kühle war sie mit einem Bauchfreien Top und einer dünnen Stoffhose etwas mehr als unzureichend gekleidet.
Auf ihren Unterarmen sah er Gänsehaut, und ihre Zähne klapperten leise aufeinander.
Er vermutete, dass sie erst jetzt aus irgendeiner Disco gekommen war.
Doch dann sah er auch die verlaufene Schminke, die dünnen schwarzen Rinnsale ihrer verlaufenen Wimperntusche. Als ob sie geweint hatte.
Er fühlte das sie in Schwierigkeiten zu sein schien. Ihre Augen blickten wässrig und traurig, so als ob sie ihre Tränen gerade so unterdrücken konnte.
"Was kann ich denn für dich tun?"
"Mein Freund hat sich in der Disco eine Andere geangelt und mich einfach stehen gelassen! Wir waren mit seinem Auto hier. Ich habe kein Geld und weiß nicht wie ich heim kommen soll! Ich muss nach Bad Vilbel" sprach sie mit zitternder Stimme, und jetzt rann ihr eine Träne über die Wange. Sie zitterte am ganzen Körper. Ein hilfloses Bündel Mensch. Völlig verzweifelt.
Die Gedanken in Wolfgangs Hirn fingen an zu rotieren.
Er blickte sich, noch immer auf der untersten Stufe der Einstiegsleiter stehend auf dem langen Bahnsteig um.
Doch er konnte Reinhold, den Schaffner, nirgends entdecken.
Mit ihm hätte er darüber reden können, das Mädel umsonst mitfahren zu lassen. Auch sein Kollege und Skatfreund hatte eine Tochter in dem Alter. Reinhold ist zwar manchmal etwas zu korrekt, aber hier würde er bestimmt eine kleine Ausnahme machen.
Und in jetzt weniger als einer Minute müsste er losfahren.
Er knirschte leise mit den Zähnen, noch immer konnte er ihn nirgends entdecken. Reinhold, wo bist du, verdammt! Oder aber er nahm sie bei sich vorn mit. Vielleicht auch keine schlechte Idee. Sie braucht bestimmt jemanden zum Reden.
Was er sich überlegte war eigentlich verboten.
Noch immer keine Spur von Reinhold. Er atmete tief durch. Hoffentlich sah das jetzt keiner.
"Na dann steig bei mir ein! Fass hier an und zieh dich rauf!" Er deutete auf die Holme links und rechts der Stiegen. Dann zog er sich hoch, während sie ihm folgte.
Während sie in den Führerstand seiner Br 141 einstieg sah er noch einmal aus dem Seitenfenster.
Jetzt sah er plötzlich Reinhold ganz hinten stehen, wie er schon die grün leuchtende Handlampe schwenkte und die Trillerpfeife an den Mund setzte. Abfahrbefehl.
Es war nun zu spät, noch etwas anderes zu arrangieren. Schon gellte der Piff.
Wolfgang wies ihr stumm den Klappsitz an der Rückwand des Führerstandes zu, während er sich in den Lokführersessel schwang und eilig den Zug Fahrbereit machte.
Langsam rollte die Lok an, kleine bläuliche Blitze funkten zwischen Oberleitung und Stromabnehmer.
Der Lok mit dem Doppelstock - Regionalzug am Haken kam unter der riesigen Stahldachkonstruktion des Frankfurter Hauptbahnhofs ins Freie.
Die Morgensonne spiegelte sich in den Glasfassaden der Bankhochhäuser, Vogelschwärme segelten über das weit verzweigte Netzwerk der Gleise und Weichen.
Zarte Nebelfetzen standen um die Spitze des Messeturms, und ein Airbus hing hoch über den Dächern im Landeanflug auf den Flughafen.
Eine S - Bahn überholte den Doppelstockzug, ein bremsender ICE kam ihm entgegen.
"Entschuldigung, dass ich ihnen solche Umstände mache!" kam plötzlich die leise Stimme des Mädchens von hinten. Sie zog geräuschvoll ihre Nase hoch.
"Das ist schon in Ordnung! Ich hab auch schon die Heizung angemacht! Gleich wirds warm!"
Dabei dachte er immer wieder an seine eigene Tochter, die wohl noch zuhause schlafend im Bett lag.
Ob sich die Eltern dieses Mädchens Sorgen machten? Na wie auch immer, jetzt war sie in Guten Händen.
Sie kramte in ihrer kleinen Handtasche. Es war eine kleine Stofftasche mit einem Kuhfell - Imitat auf der Vorderseite.
"Brauchst du ein Taschentuch?" Wolfgang wartete nicht ab, sondern reichte ihr eines nach hinten.
"Danke!" hörte er noch, bevor sie sich schnäuzte.
"Er hat mich einfach in der Disco sitzen gelassen! Einfach so! Ist mit einer anderen im Arm rausgegangen!" begann sie plötzlich zu erzählen, und in ihrer Stimme schwang jetzt auch etwas Wut mit.
Sie wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augenwinkeln.
Wolfgang spürte, wie ihm die Galle hoch stieg. Solche eine Gemeinheit. Dem Kerl gehörte ordentlich was auf die Löffel.
"Das war nicht sehr nett!" meinte er kurz.
"Ja. Ich dachte er liebt mich!"
Wolfgang gab sich Mühe, seine Wut zu unterdrücken. Sollte mal einer auf die Idee kommen, das seiner Tochter anzutun.... Seiner kleinen Melanie. Seinem Ein und Alles
Nicht nur so zu enttäuschen, sondern sie auch einfach in einer fremden Stadt sich selbst zu überlassen. Weiß der Himmel, was für Schweinehunde es auf der Welt gibt! Er war so froh, dass sie zu ihm gekommen war, anstatt vielleicht zu irgendeinem Schweinehund ins Auto zu steigen...
"Was ist denn mit deinen Eltern? Hast du versucht, sie anzurufen?"
"Die würden mich umbringen, wenn sie das rauskriegen! Außerdem habe ich keinen Penny mehr! Wieder schluchzte sie leise auf."
"Na ja, umbringen nicht gerade... Hast du es noch weit vom Bahnhof in Bad Vilbel?"
"Nein, wir wohnen dort in der Nähe vom Bahnhof!"
Wieder schluchzte sie.
"Sie werden dich bestimmt nicht umbringen. Sie werden nur froh sein, das du wieder zuhause bist! Wie heißt du eigentlich?"
"Ich heiß Sara. Sind sie sich da sicher, dass sie mir nicht böse sein werden?" Ihre Stimme beruhigte sich.
"Nun ja, ich hab auch eine Tochter in deinem Alter, und ich würde die nicht umbringen, wenn sie morgens erst heimkommt! Aber dem Kerl würde ich die Hammelbeine lang ziehen!""
Sie lachte etwas.
Wolfgang fühlte sich nun auch wohler.
Der Bahnhof von Bad Vilbel war auch nicht mehr weit, und ein Elternpaar würde aufhören, sich Sorgen zu machen.
"Vom Bahnhof aus sinds noch fünf Minuten zu Fuß!"
"Dann ist ja gut! Ich hoffe, du vergisst den Kerl mal ganz schnell! Andere Mütter haben auch hübsche Söhne!"
"Er ist eigentlich so lieb!" Wieder rang sie mit der Fassung.
"Solche Typen gibt es leider, weiß Gott allein warum! Sie sind es nicht wert!"
Sie schwieg.
"Komm schon, Sara, Kopf hoch! Das wird wieder! Du bist ein hübsches Mädchen und wirst schnell einen anderen finden, der dich wirklich liebt!"
"Sind sie sicher?"
"Absolut!"
Sie erreichten wenig später den Bahnhof von Bad Vilbel, wo der Zug einen kurzen Aufenthalt hatte. Wolfgang brachte den Regionalexpress kurz vor dem Ende des Bahnsteigs zum Stehen.
Zum Abschied drückte er Sara die Hand.
"Jetzt sieh zu, dass du heim kommst! Und vergiss den Kerl, du hast echt was besseres verdient!"
"Danke schön für alles! Sie sind ein so guter Mensch!"
Und schon war sie aus dem Führerstand geklettert, nachdem Wolfgang ihr die Tür geöffnet hatte.
Er sah ihr hinterher, wie sie über den Bahnsteig rannte, auf die Treppe zur Unterführung zu. Ja, es würde alles Gut werden. Wolfgang fühlte sich erleichtert.
Und dann sah er plötzlich, dass sie ihre Handtasche nicht bei sich hatte.
Als er sich schnell umdrehte sah er sie noch immer neben dem Klapssitz auf dem Boden stehen.
Schnell stürzte er ans Seitenfenster, doch sie war bereits in der Unterführung verschwunden. Der Pfiff des Schaffners gellte über den Bahnsteig. Fluchend brachte Wolfgang den Zug wieder zum Fahren. Was jetzt?
Wolfgang ging wie an jedem Tag wenn er frei hatte mit dem Hund spazieren.
Ihm ging die Sache mit dem Mädchen nicht aus dem Kopf. Wenn das seine Tochter gewesen wäre? Hätte sie einer seiner Kollegen vorn mitgenommen? Oder ein Schaffner? Wolfgang kannte welche, die waren so Tausend Prozentik, das sie nicht einmal ihre eignenen Töchter umsonst mitfahren lassen würden.
Die Handtasche einfach in ein Paket zu stecken und an die Adresse in Saras Personalausweis zu schicken war schließlich Melanies Idee gewesen. Wolfgang war zu aufgeregt gewesen, um auf diesen Gedanken zu kommen. Erst hatte er überlegt, die Tasche gleich nach Ankunft in Kassel Hauptbahnhof der Fundstelle zu übergeben, es aber dann doch nicht getan. Schließlich hatte Melanie das Paket zur Post gebracht.
Wolfgang kehrte mit dem Golden Retriever zurück. Unterwegs öffnete er den Briefkasten im Hausflur. Zu seiner Überraschung war die Post schon durch.
Zwischen Rechnungen und einer Postkarte von Melanies Freundin Saskia auch ein Brief mit Absender in Bad Vilbel.
"Na also!" Wolfgang war froh, endlich Gewissheit zu haben, dass die Tasche angekommen war.
Der Brief war an Melanie adressiert, also gab er ihn ihr auch zuerst zum Lesen.
Sie verzog sich mit dem Brief auch sogleich in ihr Zimmer, während Wolfgang die Kartoffeln für das Mittagessen zu schälen begann.
Und dann hörte er plötzlich ihren spitzen Schrei aus dem Zimmer.
Mit einem Satz war Wolfgang aufgesprungen.
Als er in ihr Zimmer stürmte sah er, wie sie ihm mit verweintem, ausdruckslosem Gesicht den Brief entgegen hielt.
Wolfgang las den Brief insgesamt drei Mal durch, bis er ebenso fassungslos neben Melanie auf das Bett sank.
Es konnte gar nicht sein, schrieb eine Frau Müller.
Denn ihre Tochter Sara hatte sich aus Liebeskummer vor genau einem Jahr das Leben genommen. Liebeskummer darüber, weil ihre erste große Liebe sie in der Disco hatte sitzen gelassen. Sie hatte sich im Bahnhof von Bad Vilbel vor einen Güterzug geworfen.
Wolfgang hatte früher nie an Geister geglaubt.
Doch heute noch laufen ihm eisige Schauer über den Rücken,
Wenn er früh morgens am Frankfurter Hauptbahnhof zur Abfahrt bereit steht.