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Die Halbjahreskonferenz
Professor Mylenik kratzte sich mit dem Bleistift die dünnen Haare hinter dem Ohr. Waren die alle verrückt geworden? Kaum hatte er sich die erste Woche Urlaub seit zehn Jahren gegönnt, blockierten alle Rädchen in seiner Behörde.
Exemplarisch fiel sein Blick auf Gordon Stark, den bulligen Leiter der Kreativabteilung. Unrasiert und mit Schatten unter den Augen, trommelte der unmelodisch auf den Konferenztisch.
Oder Fritz Schreckreitz, sein penibler Kollege aus Studienzeiten. Mit der roten Knollennase und der bleichen Gesichtsfarbe sah der aus wie ein Clown und nicht wie der Leiter der wissenschaftlichen Abteilung.
Einzig Mireille Simonis wirkte entspannt. Als Pressechefin musste sie die Entscheidung nicht treffen, sondern hübsch verpacken.
Es war Halbjahreskonferenz.
Gregor Mylenik kratzte sich noch einmal hinter den Ohren und brachte damit zum Ausdruck, was sie alle dachten. Dies würde die schwierigste Halbjahreskonferenz seit Bestehen des Instituts für Krisenverteilung werden.
Ganz am Anfang einmal, erinnerte sich der Professor, hatte es ähnliche Probleme gegeben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte eine Krise die Welt heimgesucht, als Professor Mylenik die wahnwitzige, aber geniale Idee hatte, die Krise jedes Halbjahr neu zu verteilen. Auf Länder, Völker, Berufsgruppen oder andere abgrenzbare Ziele.
Natürlich war das für die Betroffenen problematisch, aber es hatte seine Vorteile. Die anderen Gebiete waren während dieser Zeit krisensicher und für die Krisenziele bedeutete es zwar eine Zeit der Depression, doch war diese begrenzt und eine lange Phase der Erholung garantiert. Einmal war halt jeder dran.
Ganz am Anfang hatte sich Professor Mylenik erlaubt, seine Gefühle die Entscheidung über das Krisengebiet beeinflussen zu lassen. Damals wurden den Frauen der Welt die Krise zugeteilt. Auf jedes Gebiet hatte die Krise einen anderen Einfluss. Bei den Erdwäldern vermehrten sich Holzwürmer und andere Schädlinge, Orkane wüsteten und Feuer rodeten. Als die Beamten an der Reihe waren, gab es halbe Besoldung, keinen Kaffee und sie mussten arbeiten.
Doch diesmal standen Mylenik, Stark, Schreckreitz und Simonis vor einem echten Problem: es gab kein Gebiet, dass nicht schon einmal die Krise gehabt hatte.
„Das kann doch nicht sein“, sprach Mylenik aus, was sie alle dachten.
„Was ist mit Öl?“, warf Stark ein.
Die anderen winkten ab.
„Gedächtnis wie ein Sieb“, murmelte Schreckreitz und blätterte weiter in dem großen Buch der Krise, in dem alle Vergaben aufgelistet wurden.
„Wie wäre es mit Geld?“, man sah Simonis an, wie schwer ihr dieser Vorschlag gefallen war.
Professor Mylenik schüttelte den Kopf.
„Damit hat es praktisch angefangen. Nein, nein, so kommen wir nicht weiter.“
Er schüttelte den Kopf und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Die Konferenz dauerte bereits sieben Stunden, ohne dass die Mitglieder der Behörde eine Zielkrisengruppe ausfindig machen konnten. Sogar Fritz Schreckreitz hatte seine Krawatte gelockert und hing in seinem Stuhl wie ein nasses Handtuch.
„Das gibt es doch gar nicht“, seufzte er alle fünf Minuten.
Mireille Simonis hatte ihren hübschen Kopf auf den Tisch gelegt und schlummerte leise schnarchend. Gordon Stark wendete eine seiner neuesten Kreativtechniken an und schob einen Bleistift in seine Nase, bis es nicht mehr weiter ging. Gedankenlockerer nannte er diese Anwendung. Beim Herausziehen des Stiftes sollen sich Gedanken anhängen und so ans Tageslicht kommen. Gregor Mylenik hatte so seine Zweifel.
Der Professor saß apathisch in seinem Sessel. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn und er fühlte sich blass und leer. Mylenik erkannte schnell, dass mit dieser Entscheidungslosigkeit die Zukunft seiner Behörde auf dem Spiel stand.
Plötzlich fing er an zu grinsen, ungläubig zu lächeln.
„Ich glaube“, doch das ging in seinem Lachen beinahe unter, „ich glaube, wir haben die Krise.“