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Die Hängende
Die Neonröhren tauchten ihre flachen Wangen in ein schreckliches, kaltes Licht.
Der Betrachtende saß auf seinem üblichen Platz, die Hängende vor ihm. Die billige Polsterung der immer gleichen Bank hatte bereits seit Jahren die Form seiner Unterseite angenommen.
Man kannte ihn hier im Museum für Kunst der Frühmoderne, was aber nicht hieß, dass man ihn mochte. Nicht ein einziges Mal hatte er hier jemand anderen angesehen als sie. Noch vor der Dämmerung stand er jeden Morgen vor der Glastür, das Bedürfnis sie zu zerschlagen bekämpfend, und wartete auf die Öffnung.
Vor ein paar Jahren war er für Sie extra in die Stadt gezogen, damit sich der Weg zwischen ihnen verkürzte.
Sie war die Frau eines genuesischen Dogen und zugleich der schönste Mensch, der jemals gelebt hatte. Zumindest für ihn.
Eine Gruppe lautstarker Schüler, die er so hasste, trat in den Raum. Die Faust um den Schlagring in seiner Hosentasche verkrampfte sich. Er konnte sich kaum zügeln, sie zu vertreiben, doch er rief sich in Erinnerung, wie knapp er damals einem Hausverbot entgangen war, als er nur versucht hatte, Sie vor den lüsternen Augen der Besucher, mit seiner Jacke zu schützen.
Es hatte ihn viel Geld und Würde gekostet das zu verhindern.
Dann vernahm er die Stimme des Führers der Gruppe. Auch ihn hasste er. Jeden Tag vergewaltigte dieser seine Angebetete mit seinen unwürdigen Fakten und Erläuterungen. Er stand am Rand das aushalten zu können. Eigentlich hasste er jeden. Außer Sie.
Wie jeden Tag stand er kurz davor es zu tun. Doch er konnte sich nicht durchringen, da es bedeutete Sie nie wieder zu sehen.
Als aber ein besonders dicker Halbwüchsiger, der nicht einmal den Anstand besessen hatte, seine Kopfbedeckung im Museum abzunehmen, ein Foto von ihr mit seinem Telefon machte und es dann auch noch kichernd seinen Freunden zeigte, war es zu viel für ihn. Er erhob sich langsam, ging gerade auf den Jungen zu und schlug ihm mit seiner verstärkten Faust ins Gesicht. Anschließend drehte er sich schnell auf dem Absatz um und verpasste auch dem verdutzen Führer eine. Damit hatte er sich einen lang gehegten Traum erfüllt.
Dann hob er Sie aus ihren Angeln und rannte mit ihr im Arm den Gang herunter. Der Wärter in der Lobby machte sich nicht einmal die Mühe den Kopf zu heben.
In seiner kleinen Wohnung angekommen, zog er die speziell für diesen Tag angeschaffte, schwere Stahltür zu und stellte Sie auf ihren Schrein.
Er verachtete das Zimmer und die Art wie er lebte, doch er hatte die Familie und alle Privilegien die mit ihr kamen aufgegeben.Sie hatten nicht verstehen können. Er bereute nichts.
Die wenige Zeit, die er jetzt noch mit ihr hatte, musste für den Rest seines Lebens reichen. Wenigstens konnte er Sie nun im Schein der Kerzen sehen, deren Licht ihr zwar auch nicht würdig war, aber um ein Vielfaches besser als das kalte Röhren in ihrem Gefängnis.
Während er Sie studierte, kam es ihm wie immer vor, er sähe er sie zum allerersten Mal. Er betrachtete die kleinen Lichtreflexionen auf ihrem Hals, bis er ihre Vollkommenheit nicht mehr ertragen konnte. Doch er zwang sich wieder hinzusehen, da jeder Augenblick genutzt werden musste.
Es dauerte auch nicht mehr lange bis die Polizisten in einer solch respektlosen Weise das Treppenhaus hinauf schepperten, dass er aus seinen Gedanken gerissen wurde.
Jemand musste ihm beim Eintreten gesehen haben, denn sie hörten nicht auf gegen die Tür zu hämmern. Er hielt Sie nun in seinen Armen und wiegte Sie langsam.
Irgendwann rief eine raue Stimme unter dem Spalt hervor: „Geben Sie das Gemälde heraus und stellen Sie sich, dann werden wir noch alles klären können.“
Die Gewissheit, dass es langsam Zeit wurde, bahnte sich in ihm an.
Er hatte schon im Vorfeld gewusst, dass er, nachdem er Sie einmal wirklich für sich allein gehabt hätte, niemals wieder ertragen können würde, dass Sie jemand anderes ansah.
Also verteilte er den Inhalt seines Gehirnes auf ihren holden Wangen, und riss dabei sowohl in seinen als auch in ihren Hinterkopf ein schönes, großes Loch.