Was ist neu

Die Hängende

Mitglied
Beitritt
09.01.2016
Beiträge
27
Zuletzt bearbeitet:

Die Hängende

Die Neonröhren tauchten ihre flachen Wangen in ein schreckliches, kaltes Licht.
Der Betrachtende saß auf seinem üblichen Platz, die Hängende vor ihm. Die billige Polsterung der immer gleichen Bank hatte bereits seit Jahren die Form seiner Unterseite angenommen.
Man kannte ihn hier im Museum für Kunst der Frühmoderne, was aber nicht hieß, dass man ihn mochte. Nicht ein einziges Mal hatte er hier jemand anderen angesehen als sie. Noch vor der Dämmerung stand er jeden Morgen vor der Glastür, das Bedürfnis sie zu zerschlagen bekämpfend, und wartete auf die Öffnung.
Vor ein paar Jahren war er für Sie extra in die Stadt gezogen, damit sich der Weg zwischen ihnen verkürzte.
Sie war die Frau eines genuesischen Dogen und zugleich der schönste Mensch, der jemals gelebt hatte. Zumindest für ihn.
Eine Gruppe lautstarker Schüler, die er so hasste, trat in den Raum. Die Faust um den Schlagring in seiner Hosentasche verkrampfte sich. Er konnte sich kaum zügeln, sie zu vertreiben, doch er rief sich in Erinnerung, wie knapp er damals einem Hausverbot entgangen war, als er nur versucht hatte, Sie vor den lüsternen Augen der Besucher, mit seiner Jacke zu schützen.
Es hatte ihn viel Geld und Würde gekostet das zu verhindern.
Dann vernahm er die Stimme des Führers der Gruppe. Auch ihn hasste er. Jeden Tag vergewaltigte dieser seine Angebetete mit seinen unwürdigen Fakten und Erläuterungen. Er stand am Rand das aushalten zu können. Eigentlich hasste er jeden. Außer Sie.
Wie jeden Tag stand er kurz davor es zu tun. Doch er konnte sich nicht durchringen, da es bedeutete Sie nie wieder zu sehen.
Als aber ein besonders dicker Halbwüchsiger, der nicht einmal den Anstand besessen hatte, seine Kopfbedeckung im Museum abzunehmen, ein Foto von ihr mit seinem Telefon machte und es dann auch noch kichernd seinen Freunden zeigte, war es zu viel für ihn. Er erhob sich langsam, ging gerade auf den Jungen zu und schlug ihm mit seiner verstärkten Faust ins Gesicht. Anschließend drehte er sich schnell auf dem Absatz um und verpasste auch dem verdutzen Führer eine. Damit hatte er sich einen lang gehegten Traum erfüllt.
Dann hob er Sie aus ihren Angeln und rannte mit ihr im Arm den Gang herunter. Der Wärter in der Lobby machte sich nicht einmal die Mühe den Kopf zu heben.
In seiner kleinen Wohnung angekommen, zog er die speziell für diesen Tag angeschaffte, schwere Stahltür zu und stellte Sie auf ihren Schrein.
Er verachtete das Zimmer und die Art wie er lebte, doch er hatte die Familie und alle Privilegien die mit ihr kamen aufgegeben.Sie hatten nicht verstehen können. Er bereute nichts.
Die wenige Zeit, die er jetzt noch mit ihr hatte, musste für den Rest seines Lebens reichen. Wenigstens konnte er Sie nun im Schein der Kerzen sehen, deren Licht ihr zwar auch nicht würdig war, aber um ein Vielfaches besser als das kalte Röhren in ihrem Gefängnis.
Während er Sie studierte, kam es ihm wie immer vor, er sähe er sie zum allerersten Mal. Er betrachtete die kleinen Lichtreflexionen auf ihrem Hals, bis er ihre Vollkommenheit nicht mehr ertragen konnte. Doch er zwang sich wieder hinzusehen, da jeder Augenblick genutzt werden musste.
Es dauerte auch nicht mehr lange bis die Polizisten in einer solch respektlosen Weise das Treppenhaus hinauf schepperten, dass er aus seinen Gedanken gerissen wurde.
Jemand musste ihm beim Eintreten gesehen haben, denn sie hörten nicht auf gegen die Tür zu hämmern. Er hielt Sie nun in seinen Armen und wiegte Sie langsam.
Irgendwann rief eine raue Stimme unter dem Spalt hervor: „Geben Sie das Gemälde heraus und stellen Sie sich, dann werden wir noch alles klären können.“
Die Gewissheit, dass es langsam Zeit wurde, bahnte sich in ihm an.
Er hatte schon im Vorfeld gewusst, dass er, nachdem er Sie einmal wirklich für sich allein gehabt hätte, niemals wieder ertragen können würde, dass Sie jemand anderes ansah.
Also verteilte er den Inhalt seines Gehirnes auf ihren holden Wangen, und riss dabei sowohl in seinen als auch in ihren Hinterkopf ein schönes, großes Loch.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hermeias!

Nette kleine Story hast du da geschrieben - erinnert mich ein bisschen an "Roter Drache" von Thomas Harris. Nur ist dei Gemälde wesentlich weniger bedrohlich als das Bild des roten Drachen.:)

Ein paar Sachen sind zu verbessern:

Sie war die Frau eines genuesischen Dogen und zugleich der schönste Mensch [Komma] der jemals gelebt hatte.

Eine Gruppe von lautstarken Schülern, die er so hasste, trat in den Raum.
Besser: Eine Gruppe lautstarker Schüler

Er konnte sich kaum zügeln [Komma] sie zu vertreiben, doch er rief sich in Erinnerung, wie knapp er damals einem Hausverbot entgangen war, als er nur versucht hatte [Komma] Sie [sie] vor den lüsternen Augen der Besucher, mit seiner Jacke zu schützen.

Doch er konnte sich nicht durchringen, da es bedeutete [Komma] Sie [sie] nie wieder zu sehen.

Dann hob er Sie [sie] aus ihren Angeln und rannte mit ihr im Arm den Gang herunter.
Ab jetzt korrigier ich nicht mehr alle groß geschriebenen "Sies" und Kommas - ich will dir ja nicht die ganze Arbeit wegnehmen;)

Den Wärter in der Lobby wunderte es nur, warum er das Museum schon so früh verließ.
Und ihn wunder es nicht, dass da so ein Typ mit nem Bild unterm Arm rausrennt?

Er verachtete das Zimmer und die Art wie er lebte, doch er hatte seinen Familiensitz auf dem Land aufgegeben um ihr näher zu sein. Er bereute nichts.
Wenn er sogar einen "Landsitz" hatte, dann impliziert das, dass der Mann Kohle hat/hatte. Warum leistet er sich dann keinen Lebensstil (nahe bei ihr), den er nicht verachtet? Wenn es ihm andererseits aber egal sein sollte, würde er seine Art zu Leben nicht verachten. Insgesamt finde ich diese Denkweise unlogisch.

Es dauerte auch nicht mehr lange bis die Polizisten in einer solch respektlosen Weise das Treppenhaus hinauf schepperten, dass er aus seinen Gedanken gerissen wurde.
Die Polizisten "scheppern"? Robocop, oder was?!;)

Die Gewissheit, dass es langsam Zeit wurde, bahnte sich in ihm an.
Komische Formulierung - vielleicht besser so etwas wie: "Ihm kam die Erkenntnis", "In ihm reifte die Erkenntnis", sowas in der Art

Auch würde er nicht übers Herz bringen können, Sie zu verletzen.
Also verteilte er den Inhalt seines Gehirnes auf ihren holden Wangen, und riss dabei sowohl in seinen als auch in ihren Hinterkopf ein schönes, großes Loch.
Das gefällt mir gut - aber wenn er sich direkt vor dem Gemälde das Gehirn wegballert, dann verletzt er sich doch. Wieso bringt er es dann nicht übers Herz, sie zu verletzen?
Ich würd den Herz-Satz ersatzlos streichen und den Schlusssatz so stehen lassen. Aussagekräftig und ein gutes, konsequentes Ende.
Außerdem reisst er streng genommen nur in seinen Hinterkopf ein schönes großes Loch - bei seiner Gemäldeschönheit wird anatomisch gesehen eher die Stirn sein.;) Sowas fällt nem Splatterfreund wie mir natürlich sofort ins Auge!!:D

Insgesamt hat mir deine Geschichte gut gefallen.

Viele Kunstgrüße vom Eisenmann

 

Hallo Eisenmann,

danke für deine Kritik. Freut mich, dass es dir gefallen hat.

Die Vorschläge mit den Schülern und dem Hinterkopf finde ich gut. Danke auch dafür.
Die Sache mit dem Wärter sollte ich etwas präzisieren; möglicherweise schaute er beim Prot. gar nicht erst hoch.
Gleiches gilt für den Landsitz. Eigentlich war gemeint, dass er seine wohlhabende Familie verlassen hat oder ausgestoßen wurde. Es soll seine Besessenheit noch stärker ausdrücken. Die Implizierung, dass es "seiner" ist, ist irreführend.
Falls es dir keinen ausdrücklichen Spaß macht, würde ich vorschlagen, Kommas allgemein bei mir nicht zu korrigieren, da ich mir sicher bin, dass diese Fehler das Produkt einer speziellen Form der Legasthenie (falls etwas derartiges den existiert) sind und ich die Überarbeitung dessen niemanden zumuten kann und will.

Die großgeschriebenen Sie's sollten ein unterschwelliges (und wohl missglücktes) Stilmittel sein, um unterscheiden zu können wer gemeint ist, da ja keine Namen auftauchen.

Der vorletzte Satz war in dem Sinne gemeint, dass der Prot. Sie (Es ist eine unschöne Veranlagung von mir, manchmal ein sinkendes Schiff nicht verlassen zu können) "nur über seine Leiche" verletzen kann.
Als Sie dann verletzt wird, muss er es ja nicht mehr übers Herz bringen.
Ich weiß, eine verkorkste Logik und nicht sehr ersichtlich; ich werde es wohl überarbeiten oder mich an deinen Vorschlag halten.


Grüßend und dankend,
D.H.K.

 

Hallo Hermeias,

interessante Variante von Besessenheit durch ein Gemälde. Das Problem mit den "Sie" wäre vielleicht zu lösen, wenn du noch einmal darüber nachdenkst, was diese "Sie" für den Protagonisten verkörpert: Ist sie die Frau schlechthin, die Mutter, die Geliebte, die Madonna? Ist sie einfach die Schöne? Er könnte ihr ja einen Namen geben, ohne Rücksicht auf den kunstgeschichtlichen Kontext.
Nicht so gelungen erscheint mir der Protagonist selbst. Es müsste sein sozialer Hintergrund plausibler ausgearbeitet werden. Und seine erste Begegnung mit dem Gemälde. Gab es vielleicht eine Kopie in seinem Elterhaus und, daran geknüpft, verstörende Ereignisse?
Ich glaube, die Story wäre ausbaufähig, auch in Richtung Spannung.
Ich jedenfalls warte darauf.

Gruß wieselmaus

.
,

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom