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Die häßliche Prinzessin
Die hässliche Prinzessin
Prinzessinnen sehen wunderschön aus, sie haben eine weiße, matt schimmernde Haut, rosige Wangen, blonde Haare, blaue Augen und blitzende strahlendweiße Zähne. So steht es im königlichen Universallexikon und das wußten alle. Die Königin hatte schon drei Mädchen geboren, die waren echte Prinzessinnen durch und durch. Aber das vierte Kind, das die Königin zur Welt brachte, sah ganz anders aus. Es war zwar ein Mädchen, aber mit dichten schwarzen Haaren und einem verschrumpelten Schweinsgesicht.
"Nehmt das weg", flüsterte die leitende Hofdame, bevor die Königin das Kind sehen konnte.
"Diesen Schock wollen wir der Königin ersparen", meinte die Oberhofamme.
Dann wurden alle Hofärzte und Geheimminister und Hofzauberer zusammengerufen. Sie betrachteten das Kind und berieten, was zu tun sei:
"Wir sollten sie gründlich baden, dann geht die schwarze Farbe vielleicht ab."
"Haben wir nicht einen kleinen Prinzessinnenzauber?"
"Vielleicht ist das Kind vertauscht worden."
"Wer ist der Schuldige?"
Dann kam auch der König, schaute nach seiner Frau, die ganz benommen im königlichen Prunkbett lag, sah sich das Kind an und entschied: "Oberforstmeister, Ihr bringt das da in den Wald, da gehört es hin."
Und alle gingen zufrieden auseinander. Der Oberforstmeister, der gar nicht wußte, wie ein Wald von innen aussieht, nahm das Bündel, das ihm eine Unterhofamme reichte, ritt ein paar Meter in den Wald und legte das Kind unter einen dichten Busch, der auf einer Lichtung stand. Dann ritt er nach Hause und vergaß diese unliebsame Geschichte genauso schnell wie alle anderen Beteiligten.
Der Säugling wimmerte leise vor sich hin und so fanden ihn die Waldwichtel.
"Soll ich das Kind aufziehen?"
"Das geht doch nicht, das passt jetzt schon nicht in unsere Höhlen."
"Was sollen wir tun, wir können das arme Kind doch nicht hier liegen lassen."
"Ich gehe zur weisen Frau", sagte ein uralter Wichtel, der seit vielen Jahren mit der weisen Frau befreundet war und schon viele Gespräche mit ihr über Heilpflanzen, das Wetter und vieles andere geführt hatte.
Kurze Zeit später kam die weise Frau, schaute das Kind genau an und drückte es an sich: "Die Köhlerfrau erwartet heute Nacht ihr Kind. Sie hat Milch genug für Zwillinge. Was später geschieht, wir werden es sehen."
Der Köhler lebte alleine mit seiner Frau mitten im Wald. Hier hatte er seinen Meiler, in dem er Holzkohle aus Buchenholz machte. Er sah zum Erschrecken aus mit seinen wirren schwarzen Haaren und dem langen verfilzten schwarzen Bart. Auch sein Gesicht und seine Hände waren schwarz von der Arbeit. "Warum soll ich sie waschen, sie werden ja doch wieder schwarz und Holzkohle ist gesund", sagte er, wenn seine Frau ihm vor dem Essen eine Schüssel mit Wasser hinstellte. Seine Frau hatte als Magd bei einem Bauern gearbeitet, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Sie war ein dralles Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen gewesen. Jetzt führte sie den Haushalt, betreute den kleinen Garten an der Köhlerhütte, fütterte die Hühner und die Ziege im Stall und war immer fröhlich. Ihr gefiel das Leben im Wald sehr gut und ihre rot leuchtenden Apfelbäckchen zeigten dies auch sehr deutlich.
"Das ging ja so schnell, ich hätte nicht gedacht, dass es zwei sind", keuchte die Köhlerfrau, während ihr die weise Frau die beiden Kinder an die Brust legte und den Köhler hineinrief. Auch er schaute liebevoll auf die beiden kleinen Kinder und seine Frau zeigte auf die ehemalige Prinzessin. "Wir nennen sie Amsel, weil sie so dichte schwarze Haare hat und ihre Schwester ist etwas kleiner, die nennen wir Spatz."
"Du hast schöne Namen ausgesucht mein Schatz", murmelte der Köhler gerührt und einige Freudentränchen rannen über seine Wangen, die er zur Feier dieses Tages sogar gewaschen hatte.
Amsel und Spatz wuchsen in der Köhlerhütte heran. Nach wenigen Jahren waren sie groß genug, ihrer Mutter in Haus und Garten zu helfen. In ihren Kleidchen und den langen schwarzen Zöpfen sahen sie wie Zwillinge aus. Beide hatten braune Augen und ihre Haut war auch im Winter gebräunt. Wenn sie von einem Ausflug im Wald zurückkamen, wurde schnell deutlich, wie verschieden die beiden waren.
"Schau mal Mami, ich habe Dir Erdbeeren und schöne Blumen mitgebracht", trällerte Spatz.
"Die Blumen sehen sich sehr ähnlich, aber diese haben blaue Blüten und die anderen haben gelbe Blüten. Warum ist das so?", fragte Amsel. Und so ging das jeden Tag. Spatz freute sich über alles und Amsel fragte bei allem:
"Warum sieht das so aus, wie heißt das, wozu kann man das gebrauchen ..."
Erst machten ihre Fragen den Eltern Spaß, aber die Kinder wurden größer und bald wußten sie keine Antworten mehr und stöhnten heimlich über die Wissbegierde ihrer Tochter.
Jedes Jahr kam die weise Frau zu Besuch, trank einen Kräutertee und erzählte den Kindern eine kleine Geschichte. Auch im zwölften Jahr schaute sie an einem Nachmittag vorbei. "Ich will Kräuter sammeln und da dachte, ich schau mal, wie es euren Kindern geht."
"Sie sind beide fleißig und fröhlich. Aber Amsel fragt mir langsam Löcher in den Bauch."
"Was fragt sie denn?"
"Heute morgen wollte sie wissen, ob bei den Vögeln die Männchen immer bunter sind als die Weibchen und ob Vogeleier farbig sind, damit die Vögel ihr Nest wiederfinden und ob Bienen gelbe Blüten lieber mögen als rote und ich weiß gar nicht, was noch alles."
"Das ist ja interessant."
"Das ist anstrengend und abends schwirren mir die Frage im Kopf herum wie dicke Brummer und dann bekomme ich Kopfschmerzen."
"Ich habe eine Idee. Ich suche schon lange einen Lehrling. Gib mir Amsel als Lehrmädchen mit."
Der Köhler war gerade in die Hütte gekommen und mischte sich in das Gespräch: "Das geht nicht, wir können dir die Lehrzeit ja gar nicht bezahlen."
"Wenn ihr mir jeden Herbst vier Bündel Feuerholz bringt und ich jederzeit bei euch zu Gast sein kann, ist mir das genug Lehrgeld."
Die beiden Köhlerleute überlegten. "Kommt Amsel auch mit, wenn du uns besuchst?", fragte schließlich die Köhlerfrau.
"Ja, selbstverständlich."
Das gab den Ausschlag und die Eltern willigten mit Handschlag ein. Die beiden Kinder hatten schweigend zugehört, aber jetzt begann Amsel zu weinen.
"Wein doch nicht", sagte Spatz und legte tröstend ihren Arm um Amsel.
"Ich freue mich ja so", schluchzte Amsel und umarmte ihrerseits ihre Mutter und ihren Vater.
Dann ging es ans Packen, viel besaß Amsel nicht und noch am Nachmittag verließ sie mit der weisen Frau ihr Elternhaus.
Vier Jahre lernte sie bei der weisen Frau und wuchs in dieser Zeit zu einem recht hübschen Landmädchen heran. Für eine Prinzessin hätte sie gewiß niemand gehalten mit ihrer dunkelbraunen Haut, den schwarzen Haaren, den breiten tiefschwarzen Augenbrauen und der etwas großen Nase. Und als die weise Frau sie einmal fragte, ob sie vielleicht lieber Prinzessin wäre, lachte sie nur: "Nie in die Sonne gehen, damit die Haut schön weiß und zart bleibt? Nur nutzlose Dinge wie Hofetikette und französisch parlieren lernen? Nein, ich bin lieber im Wald und ich glaube, die Hoflehrer wissen nicht halb so viel wie Du!" Liebevoll schaute Amsel auf die weise Frau, die inzwischen recht betagt war und sich nur selten aus ihrem Ofensessel erhob. Amsel hatte ihre Prüfungen bestanden, sie konnte alle Arbeiten alleine erledigen und die Leute nannten sie heimlich schon die weise Frau, aber das mochte Amsel gar nicht hören. Lieber saß sie bei ihrer Lehrmeisterin auf einem Schemel und stellte ihr Fragen. In ihrer Lehrzeit hatte sie auf jede Frage eine Antwort bekommen und dazu noch viele Antworten gelernt, zu denen sie nicht einmal die Fragen gewusst hatte. Die weise Frau schien ein unerschöpfliches Wissen zu haben und eines Abends fragte Amsel sie: "Weißt du alles oder gibt es auch Fragen, auf die du keine Antwort weißt?"
Ein leises Lächeln zog über das Gesicht der weisen Frau, aber dann wurde sie sehr ernst. "Viele weise Frauen haben vor mir gelebt und geforscht und gefragt und wir haben dieses Wissen immer weitergegeben und es ist immer weiter angewachsen. Aber es gibt Fragen, die wir nicht beantworten können und eine macht mir seit deiner Geburt sehr zu schaffen. Ich habe dich im Wald gefunden an dem Tag, als deine Mutter Spatz geboren hat. Spatz ist also nicht deine richtige Schwester."
"Aber das ist doch nicht wichtig. Ich liebe Mama und Spatz und Papa und das wird auch so bleiben. Das ist doch gar keine Frage!"
"Nein, das ist nicht die Frage. Aber seit deiner Geburt ist unsere Königin sehr krank. Niemand konnte sie bisher heilen. Ja, der Oberhofarzt hat sogar mich heimlich zu ihr gerufen, aber ich konnte ihr auch nicht helfen."
Amsel war betroffen. "Kann man ihr den gar nicht helfen? Was für eine Krankheit hat sie überhaupt?"
"Sie kann nicht mehr lachen und sich über nichts mehr freuen. Sie sitzt den ganzen Tag in ihren Gemächern und sagt nichts und sieht niemanden an. Niemand weiß, was ihr fehlt."
"Das ist ja schrecklich. Da könnte ich bestimmt auch nichts tun."
"Es gibt einen kleinen Hinweis. Die Königin sollte in der Nacht bevor Spatz geboren wurde, ihr viertes Kind bekommen. Offiziell wurde verkündet, das Kind sei bei der Geburt schon tot gewesen, aber über diese Nacht wird am Hof nicht mehr gesagt und es gibt kein Grab auf dem königlichen Friedhof."
Amsel schwieg lange. Dann stand sie auf, stellte sich vor den großen Spiegel, drehte sich langsam einmal um sich selbst und setzte sich wieder. "Ich bin keine Prinzessin. Ich habe doch die Hochzeitsbilder gesehen, als die drei Prinzessinnen geheiratet haben. Haut wie Milch, Haare wie Honig, Augen wie Bergseen und zierliche Näschen - nein, das sind nicht meine Schwestern."
"Ja, die Prinzessinnen haben geheiratet und sind in ferne Länder gezogen. Vielleicht wollten sie einfach fort aus dem Schloß. Jetzt gibt es dort gar kein Lachen und keine Freude mehr. Es ist so still, dass man mittags die Fliegen schnarchen hört. Aber das ist nicht so schlimm. Bisher hat die Krankheit der Königin die Menschen im Schloß verstummen lassen. Jetzt greift sie langsam auf die Stadt über und ich fürchte eines Tages wird unser ganzes Land stumm sein."
"So schlimm? Alles stumm? Keine Vögel zwitschern, keine Bienen summen?"
Amsel versuchte sich vorzustellen, es gäbe nichts mehr zu hören. "Das geht nicht, die Menschen müssen doch miteinander sprechen."
"Die Menschen im Schloß wollen gar nicht mehr miteinander reden. Die meisten schlafen, nur einige tun noch schweigend ihre Arbeit, aber vielleicht werden sie eines Tages auch schlafen und dann müssen sie alle sterben."
Amsel stand wieder auf, lief im Zimmer herum, schaute sich im Spiegel an und sagte schließlich: "Bei meiner Prüfung habe ich versprochen, allen Menschen zu helfen, gleich, woher sie kommen und wer sie sind. Ich werde also ins Schloß gehen."
Amsel zog ihre beste Kutte an. Zauberer tragen Phantasiegewänder in allen denkbaren Farben und Hexen tragen meist rote wallende Gewänder, aber weise Frauen bevorzugen grüne Kutten, damit die Menschen gleich wissen, wer ihnen begegnet. Am Schloßtor bekam Amsel auch prompt Probleme.
"Kräuterhexen haben hier keinen Zutritt" schnarrte einer der beiden Wachtposten und stellte sich vor sie. Amsel sah sich erste einmal um und erwiderte dann:"Ich sehe hier keine Hexe. Würden Sie mich jetzt bitte durchlassen, ich werde erwartet."
Der Wachtposten war so verdutzt, dass er zur Seite trat und Amsel vorbeischlüpfen konnte. Dann aber rief er hinter ihr her: "Wer wartet denn auf Sie?"
"Die Königin wartet seit sechzehn Jahren auf mich", rief Amsel zurück und verschwand um eine Ecke.
Obwohl sie sich an das Schloß nicht erinnerte, fand sie den Weg zu den Gemächern der Königin ohne Nachfragen. Schließlich hatte sie auch gelernt, Krankheiten an ihrem ganz eigenen Geruch zu erkennen und dieses Schloß roch so intensiv nach einer schweren Seelenlast, dass sie nur ihrer Nase zu folgen brauchte.
Sie betrat das Prunkgemach der Königin ohne anzuklopfen. Mehrere Hofdamen saßen um die Königin herum und schienen zu schlafen. Die Königin saß mit offenen Augen in einem bequemen Sessel, schien aber nichts zu sehen.
Amsel stellte sich direkt vor sie: "Guten Tag."
Das Gesicht der Königin wurde lebendig, sie schaute Amsel an und krächzte "Ich kenne dich!" Das waren ihre ersten Worte seit sechzehn Jahren.
Jetzt erwachten auch die Hofdamen, erblickten Amsel und gerieten in Hysterie.
"Was ist das denn."
"Wie ist die hier hereingekommen."
"Nehmt das weg" schrie die leitende Hofdame und fuchtelte mit ihren Armen, daß ihr Rüschenkleid nur so flatterte.
"Halt" rief da die Königin mit klarer lauter Stimme. "Ihr nehmt mir nichts mehr weg."
Dann stand sie auf, umarmte Amsel und weinte: "Mein Kind, du bist zurückgekommen."
Der König ordnete eine Festwoche für das ganze Land an und in dem königlichen Universallexikon musste unter dem Stichwort 'Prinzessin' eingetragen werden, dass Prinzessinnen auch braune Haut und schwarze Haare und eine große Nase haben können und dennoch durch und durch echte Prinzessinnen sind.