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Die großen Fünf

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15.11.2003
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Die großen Fünf

Die großen Fünf.

Die großen Fünf.
Eine Kurzgeschichte.

Was kann das Wesen eines Menschen ändern? Diese Frage stelle ich mir seit Urzeiten und eine Antwort darauf zu finden hielt ich für absolut unmöglich. Menschen sind verschieden, so auch Ängste und Vorlieben und was auch immer damit verbunden ist. Aber ich will hier nicht in philosophische Kontroversen abschweifen, das liegt mir nicht. Ich stellte mir oft die Frage, was wäre, wenn einem Menschen angeboten würde, sein Leben nach seinen Wünschen zu verändern. Jeder von uns kennt diese Situation. Man hat etwas getan oder gesagt, ohne konkret darüber nachgedacht zu haben und hinterher - vielleicht noch Wochen oder Jahre später, wenn man sich mit Konsequenzen befaßt hat - wird einem klar, daß eine andere Handlungsweise vielleicht alles, was dann ist, hätte verändern können. Ich für meinen Teil weiß, wie es ist, vor eine Entscheidung gestellt zu werden.

"Möchten Sie gerne Ihr Leben verändern?"

Was im ersten Moment klingt wie die Ansage zu einer schlechten Werbesendung für einen Abnehmdrink ist in Wahrheit das, was man mich fragte, nachdem ich den Vermummten das erste Mal sah. Er war so etwas wie ein Gott und doch nichts weiter als ein stummer Beobachter. Drei Leute, ebenfalls vermummt, waren stets bei ihm - im Hintergrund, sie traten niemals vor und sprachen nicht. Zusammen waren sie fünf. Nicht jeden Tag trifft man sojemanden, doch ich hatte das Glück, ihn kennenzulernen. Ich weiß nicht mehr genau, warum, aber ich weiß noch, daß ich ganz heiß darauf war, auf sein Angebot anzuspringen. Der Vermummte erklärte mir das System. Es würde wie ein Computer funktionieren. Ich hätte mein Leben quasi auf Video aufgezeichnet, könne zu bestimmen Stellen spulen und bei Bedarf einschreiten und Änderungen vornehmen, wie ich gerne möchte. Ganz einfach eigentlich. Der Haken an der Sache war jedoch, daß ich dem Vermummten mein Vertrauen schenken mußte.

"Klar vertraue ich Ihnen!"

Die Aussage genügte nicht. Er sagte, daß zwei und zwei fünf ergäbe, simple Algebra, und fragte mich dann, was zwei und zwei sei. Ich sagte ihm, daß es natürlich fünf wäre, was denn auch sonst? Er sah anscheinend den guten Willen in mir, schließlich hatte ich ja nur die Wahrheit gesagt. Er zeigte mir seinen Computer, auf dem sich mein Leben abspielte. Ich hatte damals in meinen neunzehn Lebensjahren vielleicht noch nicht die Welt gesehen, doch ich wußte genau, daß es Passagen gäbe, die verändert werden mußten. Der Vermummte sagte mir, daß ich fünf Veränderungen machen dürfe. Auch weniger, aber nicht mehr. Ich wußte genau, wo ich sie machen wollte, denn in meinem Leben gab es bis dato fünf große Punkte, bei denen ich falsch gehandelt hatte.

Vierzehnter Juli als ich dreizehn Jahre alt war, das war die erste Stelle. Ich sah das Video vor meinen Augen ablaufen und konnte es bis auf das letzte Wort mitsprechen. Meine erste große Liebe war es, die ich damals fand und verlor im selben Atemzug. Wahrheit oder Pflicht war das Spiel und Wahrheit meine Wahl.

"Wen liebst Du?"

Eine pathetische Frage, wenn man mein Alter damals bedachte. Aber die anderen waren ja im selben Alter. Jane war ihr Name und ich liebte sie wirklich. Irgendwie tue ich das heute noch und ich war mir damals schon sicher, daß mein ganzen Lebens anders verlaufen würde, wenn ich nur anders agiert hätte. Nach dem Spiel waren Jane und ich allein in einem kleinen Waldstück hinter dem Garten, wo wir spielten. Die anderen saßen oben und tranken ihre Colas und Fantas. Ich frage sie, wen sie denn lieben würde und sie nannte den Namen eines anderen. Ich ging weg, betrank mich mit Cola und Fanta und einige Jahre später waren Jane und ich die besten Freunde. Schließlich hatte ich sie mit ihrem späteren Freund verkuppelt. Ich schritt ein, wo ich sie antwortete, daß sie einen anderen liebte und änderte meine Aktion so, daß ich sie einfach unerwartet auf den Mund küssen würde. Die Aktion wurde gespeichert. Der Vermummte erklärte mir nun, daß ich erst alle fünf Aktionen durchführen müßte, bevor die Änderungen letztendlich real würden. Ich fuhr fort.

Die zweite Anlaufstelle war der Tag, an dem sich mein bester Freund Brian auf dem Dachboden erhängte. Dreiundzwanzigster September. Wir waren beide fünfzehn. Er wohnte im Mietshaus direkt neben mir und meiner Mutter, noch mit beiden Elternteilen. Wir spielten seit Kindertagen zusammen, noch bevor wir sprechen konnten. Oft waren wir auf dem Dachboden des Mietshauses, dort lagen kistenweise Utensilien von Vormietern herum, die sehr alt waren. Von Kleidern über Fotoalben bishin zu seltsamen Konstrukten, deren Wirkung wir nie entdeckten. Brian war ein sehr emotionaler Junge, schon immer gewesen. Als ihn eines Tages seine Freundin verließ, der er sein Leben widmete, und das meine ich wörtlich, sagt er mir, daß er ein letztes Mal auf den Dachboden gehen würde und bat mich, vor die Tür seiner Eltern zu gehen, bis einhundert zu zählen und sie mit dem letzten Zählschritt nach oben zu holen. Ich wußte genau, was er tun wollte, aber ich schritt nicht ein. Das sollte sich ändern, so entschied ich. Ich zählte nicht bis hundert, sondern holte seine Eltern sofort. Der Vermummte stimmte mir zu, und ließ mich fortfahren.

An dritter Stelle wollte ich zu einer Stelle, die mein Leben nachhaltig prägte, und zwar negativ. Ich war im Prinzip ein guter Schüler, wenn auch nicht sehr beliebt. Ich hatte nur wenige Freunde in der Schule und noch weniger wurden es, als ich einmal einem Lehrer verriet, wer einen Klassenraum demolierte. Fünfter Februar, siebzehn Jahre war ich alt. Ein paar Chaoten aus meiner Klasse hatten sich Nachmittags Zugang verschafft und Stühle und Tische zerschlagen, Fenster kaputtgemacht und die Tafel von der Wand gerissen und in ihre Einzelteile zerlegt. Dazu haben sie noch einige Präparate für Biologie zerstört - und das nur, weil ein Lehrer sie nicht versetzen wollte. Ich hatte zufällig gehört, was sie vorhatten und war zu einem Lehrer gegangen. Der glaubte mir, weil ich bis dato sein Lieblingsschüler war; talentiert, immer darauf bedacht, den Unterricht voranzubringen und engagiert, was allgemeine Dinge betraf. Die haben es irgendwie herausgefunden und seitdem war ich die Zielscheibe für alle möglichen Übergriffe. Nicht nur, daß ich Prügel bezog, nachdem ich sie verpetzt hatte. Meine Leistungen ließen deswegen schlagartig ab, ich habe den Abschluß nur mit einer unterdurchschnittlichen Note geschafft. Ich schritt ein, und sagte dem Lehrer nichts. Stattdessen ließ ich latent andeuten, daß ein jemand war, den in der Klasse eh niemand leiden konnte - noch weniger als mich. Ich änderte das Ereignis außerdem dahingehend, daß ich den Chaoten sagte, ich hätte ihren Kopf aus der Schlinge gezogen. Ich wollte mein Ansehen in der Gruppe stärken und somit meine guten Leistungen mit Akzeptanz unter den anderen verbinden. Wieder speicherte ich die Änderungen und der Vermummte stimmte mir zu.

Die fünfte und letzte Stelle, die ich verändern wollte lag nur fünf Tage damals zurück. Da hatte ich einen schweren Autounfall und lag im Krankenhaus im Koma. Während ich im Koma lag, hatte ich den Vermummten getroffen und ich war mir bewußt, daß ich wahrscheinlich nicht wieder aufwachen würde. Ich war betrunken in den Wagen gestiegen und wenige Meilen später war mein Wagen durch einen Baum, gegen den ich fuhr, schmerzhaft abgebremst worden. Meine Änderung war simpel. Ich stieg einfach nicht in den Wagen sondern bestellte mir ein Taxi, um nach Hause zu fahren. Der Vermummte fragte mich schließlich nochmal, ob ich mit allen Änderungen einverstanden wäre und ich bejahte das.

In weniger als einem Augenblick wachte ich auf. Eine schöne Wohnung, an der Wand eingerahmt mein Abschlußdiplom mit Meisterleistung - bester im Jahrgang, Jane wohnt mit mir zusammen und Brian nebenan. Was kann das Wesen eines Menschen ändern? Jetzt weiß ich es, es sind die großen Fünf.

 

Ist ja abgefahren...

Mir ist gerade eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen.

Ich habe nochmal nach der vierten Sache gesucht, aber ich vergaß, zwei und zwei sind ja fünf... eine interessante Angelegenheit. Man muß wirklich Vertrauen haben, um das zu glauben.

Über dieses "Was wäre, wenn..." habe ich schon häufig nachgedacht, und deswegen deine Geschichte interessiert gelesen. Nur eines macht mich stutzig: Die letzte Änderung.
Wenn er nicht in den Wagen gestiegen ist, ist er auch nie dem Vermummten begegnet, und hat nie diese Chance erhalten, oder? Dann wäre womöglich die letzte auch die einzige Veränderung gewesen, und durch das Zeit-Raum-Paradoxon wären die zwei und zwei, die fünf sind, nur noch eins.
Ich finde sowas immer verwirrend. :)

Aber ansonsten schön zu lesen; das Paradoxon mal außer acht gelassen, ist es ein schönes Happy end.
Danke!

greetz, Oile

 

Das Paradoxon ist durchaus beabsichtigt. Die Idee dahinter war, daß der Protagonist im Grunde gar nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, ob es jemals anders war, zumal sein "neues Leben" ja mit dem Aufwachen beginnt und sich daher die Frage stellt, ob er nicht alles nur geträumt hat.
Wie man das ganze sehen möchte, überlasse ich natürlich dem Leser selber. ;)

Danke für die Kritik.

 

Alex!
Deine bislang beste Geschichte. Ganz großes Lob von mir! Ich bin leider mit den anderen Geschichten der Rubrik "Philosophisches" nicht allzu vertraut, aber im Allgemeinen ist diese Geschichte wirklich sehr solide, interessant und bewegend. Endlich mal kein Endzeit-Trash :)
Daumen hoch!

 

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