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Die Grinser
Auf dem Schulhof versinke ich für eine Sekunde in mir und alles um mich herum läuft ab wie in Zeitlupe. Ich bleibe stehen und betrachte die Menschen. Ich genieße diesen Augenblick, ich analysiere. Zunächst sämig, dann immer schneller fließt die Erkenntnis an meine Seele und zeigt mir ein wenig erhellter auf, was ich oft schon spürte.
Ich höre das tausendfache Lachen der mich umringenden Gestalten. Es hallt dämonisch in meinem Ohr. Ich sehe, wie sie hantieren, mit Händen und Füßen sprechen, springen, an sich herumreißen. Sehe die Grüppchen, sehe die Gruppen. Von überall grinst es zu mir herüber. Ich schaue zu einigen jungen Menschen aus den niedrigen Klassen, die herumtollen, aber nicht mehr so oft wie früher. Meist stehen sie nur da und tratschen. Einige liegen auf dem Boden rum, ihre Rucksäcke neben sich geschleudert. „Sie wollen etwas besonderes sein“, hörte ich vor ein paar Tagen jemanden sagen, „sie lungern nur auf dem Boden rum, weil das sonst keiner auf dem Schulhof tut.“
„Stephan.“
Ich schaue weiter. Eine Schülerin zieht sich eine Mezzomix aus dem uralten Automat und will sie gerade öffnen, doch sie lässt die Flasche fallen. Schallendes Lachen springt mir entgegen, überall Klatschen, grienende Gesichter glaren mit sensationssüchtigen Augen auf die Scherben, als wären sie die Splitter des Heiligen Grals. Die Schülerin lacht natürlich mit, muss sie ja. Ich klatsche nicht und lache nicht, ich schaue tiefer. Mein Zustand ist wie in Trance, aber gleichsam durch einen sfumatoesquen Schleier sehe ich alles. Meine ich alles zu sehen.
„Stephan!“
Ich sehe die Heuchelei. Rieche sie. Ich fühle sie bei allem, was sich hier abspielt, hautnah. Es sticht. Mit einem mal surrt mir ein Liedtext durch den Kopf. „Unfortunately blinded like a mole, plays everyone his artificial role.“ Vielleicht summe ich dazu. Es ist nichts natürlich, jeder spielt seine Rolle, so gut er kann.
Das Grinsen. Ich hasse es. Überall Grinsen. Die jungen, die alten Schüler, die Mädchen, die Jungen. Ich fühle Machtlosigkeit und schwebe ein paar Schritte weiter, um all dem zu entkommen. Gehe noch weiter, doch es ändert sich nichts. Die Heuchelei spritzt mir wie siedender Eiter aus dem Gesicht jedes einzelnen grinsenden Maskenträgers entgegen.
„Stephan?“
Zeigefinger heben sich krumm zu mir, gefolgt von klirrendem Lachen. Ich werde zornig – so kann es nicht weitergehen. Ich hasse sie, die Grinser. Ich will etwas reißen. Ich will aus mir heraushüpfen. Sie zerschlagen, die Heuchelei aufsprengen, ihnen das falsche Grinsen aus dem Gesicht wischen.
Ich balle meine Fäuste.
„Stephan, sag mal, was ist denn mit dir los?“
Langsam lichten sich die Nebelschleier. Wie durch ein Erdloch hindurch steige ich hinauf in die helle, reale Welt. Die Körnung schwindet, alles wird schärfer. Ich werde mir wieder bewusst. Ich weiß nicht, wer mich anspricht. Meine Fäuste entspannen sich.
Und ganz plötzlich muss ich grinsen.