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Die Grinser

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12.05.2003
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Die Grinser

Auf dem Schulhof versinke ich für eine Sekunde in mir und alles um mich herum läuft ab wie in Zeitlupe. Ich bleibe stehen und betrachte die Menschen. Ich genieße diesen Augenblick, ich analysiere. Zunächst sämig, dann immer schneller fließt die Erkenntnis an meine Seele und zeigt mir ein wenig erhellter auf, was ich oft schon spürte.
Ich höre das tausendfache Lachen der mich umringenden Gestalten. Es hallt dämonisch in meinem Ohr. Ich sehe, wie sie hantieren, mit Händen und Füßen sprechen, springen, an sich herumreißen. Sehe die Grüppchen, sehe die Gruppen. Von überall grinst es zu mir herüber. Ich schaue zu einigen jungen Menschen aus den niedrigen Klassen, die herumtollen, aber nicht mehr so oft wie früher. Meist stehen sie nur da und tratschen. Einige liegen auf dem Boden rum, ihre Rucksäcke neben sich geschleudert. „Sie wollen etwas besonderes sein“, hörte ich vor ein paar Tagen jemanden sagen, „sie lungern nur auf dem Boden rum, weil das sonst keiner auf dem Schulhof tut.“

„Stephan.“

Ich schaue weiter. Eine Schülerin zieht sich eine Mezzomix aus dem uralten Automat und will sie gerade öffnen, doch sie lässt die Flasche fallen. Schallendes Lachen springt mir entgegen, überall Klatschen, grienende Gesichter glaren mit sensationssüchtigen Augen auf die Scherben, als wären sie die Splitter des Heiligen Grals. Die Schülerin lacht natürlich mit, muss sie ja. Ich klatsche nicht und lache nicht, ich schaue tiefer. Mein Zustand ist wie in Trance, aber gleichsam durch einen sfumatoesquen Schleier sehe ich alles. Meine ich alles zu sehen.

„Stephan!“

Ich sehe die Heuchelei. Rieche sie. Ich fühle sie bei allem, was sich hier abspielt, hautnah. Es sticht. Mit einem mal surrt mir ein Liedtext durch den Kopf. „Unfortunately blinded like a mole, plays everyone his artificial role.“ Vielleicht summe ich dazu. Es ist nichts natürlich, jeder spielt seine Rolle, so gut er kann.
Das Grinsen. Ich hasse es. Überall Grinsen. Die jungen, die alten Schüler, die Mädchen, die Jungen. Ich fühle Machtlosigkeit und schwebe ein paar Schritte weiter, um all dem zu entkommen. Gehe noch weiter, doch es ändert sich nichts. Die Heuchelei spritzt mir wie siedender Eiter aus dem Gesicht jedes einzelnen grinsenden Maskenträgers entgegen.

„Stephan?“

Zeigefinger heben sich krumm zu mir, gefolgt von klirrendem Lachen. Ich werde zornig – so kann es nicht weitergehen. Ich hasse sie, die Grinser. Ich will etwas reißen. Ich will aus mir heraushüpfen. Sie zerschlagen, die Heuchelei aufsprengen, ihnen das falsche Grinsen aus dem Gesicht wischen.
Ich balle meine Fäuste.

„Stephan, sag mal, was ist denn mit dir los?“

Langsam lichten sich die Nebelschleier. Wie durch ein Erdloch hindurch steige ich hinauf in die helle, reale Welt. Die Körnung schwindet, alles wird schärfer. Ich werde mir wieder bewusst. Ich weiß nicht, wer mich anspricht. Meine Fäuste entspannen sich.

Und ganz plötzlich muss ich grinsen.

 

Auf Wunsch des Autors aus Alltag nach Gesellschaft verschoben

 

Hi tobbi,

du schreibst ja momentan im Akkord. ;)
Diese Geschichte ist dir im Aufbau recht rund gelungen. Sie beschreibt kein großes Ereignis, sondern lediglich eine kleine Episode. Dieses in sich selbst versinken kennt sicherlich jeder, ich zumindest kenne es von mir. Die Umwelt wahrnehmen, wie durch einen Schleier, als ob meine Augen dabei auch wegrutschen würden. Da kann das Grinsen und Lachen schon mal hässlich und laut werden, da es in der Verinnerlichung je aie ein Störkörper wirkt, für den die Maskenträger gar nichts können.
Du verwendest einen reichen Wortschatz, und obwohl viele Fremdwörter eine Geschichte nciht zwangsläufig besser machen, passen sie für mein Gefühl in diese Story.
Lediglich für deinen Schluss hätte ich noch eine Anmerkung. Mir würde es besser gefallen, wenn die wiederholten Ansprachen an Stephan personifiziert wären, wenn ein Freund oder seine Freundin versuchen würde, ihn in seiner Trance zu erreichen, und er beim Erwachen diese Person auch wahrnimmt und sie freudig angrinst.

Das ist aber auch schon alles.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim,

stimmt, momentan habe ich eine kleine Vielschreibphase.

Ich möchte mit dem Ende weniger ausdrücken, dass der Prot schlicht aus seiner inneren Versenkung entkommt, sondern dass er selber in das verfällt, was er hasst: Abseits von seiner Innenwelt, in die er nur für Sekundenbruchstücke entgleist, ist er selbst ein Grinser. Er kann der Heuchelei nicht entkommen.

Danke für deine Meinung zur Geschichte!

Lieber Gruß,
tobbi

 

Hi tobbi,

dass Stephan am Ende in sein verhasstes Grinsen fällt, habe ich als KOntrast schon so verstanden. Vielleicht empfinde ich das eine oder andere Grinsen doch zu wenig als Maske, um deinem Prot dabei auch gleich der Heuchelei zu bezichtigen. Ich würde es viel trauriger finden, wenn er gar nicht mehr grinsen könnte.
Auch einige der Beispiele in deiner Geschichte sind ja nicht wirklich Heuchelei hinter der Maske sondern recht unverhohlene Schadenfreude (etwa wenn die Flasche Mezzo Mix auf den Boden fällt).

Einer von "ihnen" oder einer von vielen zu sein hat sowohl positive, wie auch negatove Aspekte.
Die Person, die ihn durch das Rufen seines Namens aus der Trance weckt, steht in einer "sich sorgenden" Beziehung zu ihm. Das liest sich für mich positiv. Durchaus ein Grund zu lächeln oder auch verlegen zu grinsen.

Du siehst, deine Geschichte lässt schönen Empfindungsspielraum und kann so zu Diskussionen einladen. :)

Lieben Gruß, sim

 

@sim: Möglicherweise wäre es möglich (hach was ein Satzanfang) oder sogar besser, meinem Protagonisten die Fähigkeit, zu grinsen, abzusprechen und somit deutlich zu machen, dass er etwas ganz anderes ist als die Heuchler - im negativen Sinne, das andere Extrem sozusagen. Wäre tatsächlich eine Überlegung wert. Aber dann fehlt mir wieder das Unvermögen, der allgegenwärtig vorhandenen "Hinterfotzigkeit" (die zugegebenermaßen mit nicht allzu prallen Beispielen nur im Ansatz rüberkommt) zu entkommen.
Danke nochmal!

@filechecker:
Stimmt, der Satz mit sämig ist möglicherweise etwas sämig zu lesen. Und ja - "in" die Seele macht mehr Sinn. In das Wort "sfumatoesque" habe ich mich ein bissl verliebt. Es bedeutet ja soviel wie rauchig, neblige, verdunkelt, schleierhaft - das passt, finde, recht gut an dieser Stelle.
Danke für dein Lob!

Lieben Gruß,
tobbi

 

Hallo tobbi,

mir hat die Geschichte in ihrer Essenz recht gut gefallen, möchte aber hier anmerken:
Daß du dich in das Wort "sfumatoesque" szsgn. verliebt hast, mag ja wohl sein; aber filechecker hat schon recht, daß man das nachschlagen muß. Ich konnte mich zwar bisher eines recht großen Fremdwörterschatzes rühmen, aber das war mir jetzt echt neu. Und es liest sich wie ein Tippfehler -"sf" ist keine gängige Konsonantenfolge im Deutschen. :)

greetz, Oile

 

Ich freue mich, euren Wortschatz um das Wörtlein "sfumatoesque" erweitert zu haben. In Zukunft aber sollte ich mich glaube ich in der Beziehung verbal ein bissl zügeln :)

@Illu: Danke für dein Lob! Du solltest mal über unseren Pausenhof laufen, das ist beinah nicht auszuhalten.

 

sfumantoesque- wohl eines der seltsamsten Wörter unseres leidgeschüttelten Jahrhunderts.
Mein Deutschlehrer wird recht gehabt haben, als er mit die 5 aufs Auge drückte, kannte ich Quasi-Analphabet doch nicht mal dieses Wort!
Allerdings: Immerhin kennt es das Internet auch nicht, und das weiß doch mit Sicherheit mehr als ich.
Immerhin hilft mir die Dudenbande weiter, wo mein Kunstlehrer (netter Kerl, trotzdem) versagte :

sfumanto (ital)
= [Kunst] duftig, mit verschwimmenden Umrissen gemalt

Fragt sich, ob es clever ist, Worte zu verwenden, deren Verständnis beim unbedarften Leser man mit Sicherheit ausschließen kann.

 

Hallo tobbi

Prima erzählt, wie sich Stephan in sich hineinverzogen hat und sich nur auf die gedankliche Verarbeitung seiner Wahrnehmung der Umgebung konzentriert.

Was du mit deinem Text mMn auch schön aufzeigst, ist die Gedankenfülle, welche sich in den wenigen Sekunden zwischen den drei Ansprechversuchen ansammelt.

Das Auftauchen zurück in die Realität ist dir ebenfalls gut gelungen.

Der Anmerkung meiner VorrednerInnen zum Gebrauch von Fremdworten kann ich nur beipflichten.

Lieben Gruss
.\robi

 

@Paranova:
Ich gebe mich geschlagen!
*auf Fremdwortreduktion schalt*

@dotslash:
Danke für deine lobende Einschätzung meiner Geschichte. Das Darstellen, wie schnell sich Gedanken intensivieren und potenzieren können, war auch eine Absicht von mir.

Lieber Gruß,
tobbi

 

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