Die graue Wohnung
Eine Stimme meldete sich. Sie nannte eine Zeit, meine Adresse und legte sofort auf. Ich dachte nur kurz nach, senkte langsam den Hörer und schaute nach draussen. Böen hinterliessen ein Rauschen der orangen Blätter im fernen Wald.
Es war kein einfacher Tag heute. Weder während noch nach der Arbeit fiel ein Satz, der mich zum Lächeln hätte bringen können.
Ich wandte mich wieder um, schaute in den leeren grauen Flur, auf dessen Wänden sich Abdrücke einstiger Bilder befanden. Einzelne Regentropfen klatschen im Minutentakt gegen das grosse Fenster im Wohnzimmer. Doch ich beachtete sie kaum, schlenderte ein weiteres Mal durch die leeren Gänge. Links und rechts Zimmer, allesamt leer. Mit kalten Händen berührte ich zum letzten Mal die Türrahmen der jeweiligen Zimmer. Einige waren noch fast neu, andere wiederum waren mit Strichen, Farben und Gekritzel übersäht.
Das Klatschen der Tropfen auf den Scheiben wurde immer lauter. Man hörte es durch den leeren Flur bis hin zum letzten Zimmer, wo die Türe noch als einzige verschlossen war. Den Schlüssel holte ich zusammen mit einer Taschenuhr aus der rechten Tasche meines Jacketts. Die Uhr war alt und zerkratzt, begleitete mich jedoch schon seit einiger Zeit, sodass ich sie nicht mehr missen wollte.
Ich schloss die Tür auf, betrat den Raum in aller Stille. Das dunkelbraune Bettgestell mit seiner Matratze, der Kleiderschrank und der Spiegel, alles war noch da. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, als ich den kleinen weissen Zettel, der auf meiner Seite des Bettes lag in die Hand nahm. Er fühlte sich weich an. Als hätte man ihn Dutzende Male gefaltet und wieder geöffnet.
Weitere Tropfen zierten nun auch das kleine Fenster des Zimmers, in dem ich stand.
Vorsichtig öffnete ich den kleinen Zettel, um ihn wieder zu lesen. Doch er fiel mir aus der Hand, landete auf dem matten Holzboden, quer im Zimmer. Ich hob ihn auf, steckte ihn jedoch ohne zu lesen in die Jackentasche. Ich zog meine Lederschuhe mit der abgenutzten Stelle an der linken Spitze aus, stellte sie vor dem Bett hin und legte mich auf die kalte Matratze. Die Heizung, an der kleine Farbbrocken hingen, war auf die kleinste Stufe gestellt. Ich schaute zur Decke. Die Decke war weiss, die Decke war leer. Sie war langweilig. Ich schloss meine Augen. Und schon nach wenigen Sekunden erschien ein Bild in meinem Kopf. Meine kleine Tochter. Ihre kurzen, blonden Haare über den Schultern, die von einem lila Pullover verdeckt waren. Sie lächelte. Kleine weisse Zähne kamen hinter ihren schmalen Lippen zum Vorschein. Eine Träne lief mir die Wange hinunter. Meine Tochter lächelte jedoch weiter. Sie sass auf einer grünen Schaukel, die an einem Baum mit orangen Blättern hing und blickte zu mir. Zuerst mit einem Lächeln, dann mit ernster Mimik. Ich erschrak. Dann zeigte sich ein Grinsen in ihrem Gesicht. Ich musste lachen. Eine zweite Träne lief mir die Wange hinunter. Wieder betrachtete ich die leere Decke, dann der wandernde Blick zum Fenster. Die Sonne senkte sich langsam bis zum bewaldeten Horizont. Kein Tropfen war auf der Scheibe mehr zu sehen. Ein feuerroter Himmel spendete meinem Zimmer Farbe. Das Grau der Wände verschwand für einige Minuten. Ich betrachtete mit tiefer Atmung den Wechsel.
Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, öffnete sich plötzlich die knarrende Wohnungstür. Zwei Personen betraten das Entree. An den Schritten hörte man, dass es eine grosse und eine kleinere Person sein mussten. Beide blieben stehen. Alles war ruhig. Dann näherten sich die kleinen Schritte dem letzten Zimmer, in dem ich noch immer auf dem Bett lag. Die Türe wurde aufgestossen. Blonde Haare, blaue Augen und weisse, kleine Zähne waren zu sehen. Ich richtete mich auf, blieb aber noch immer auf dem Bett. Ohne ein Wort zu sagen, warf sie sich in meine Arme. Sie war warm. Es kribbelte in meinem Bauch und ein merkwürdiger Druck machte sich in meiner Brust bemerkbar. Nun hörte man wieder die grossen Schritte, die sich langsam durch den Flur meinem Zimmer näherten. Wieder öffnete sich die Tür. Rote Haare, grüne Augen, Sommersprossen zeigten sich. „Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass du noch hier bist. Soll ich wieder gehen?“. „Musst du nicht“, meinte ich mit weicher, warmer Stimme. „Es dauert nicht lange, ich wollte eigentlich nur noch die letzten Schachteln holen kommen.“ „Vielleicht können wir ja noch zusammen zu Abend essen“, schlug nun die Kleine in meinen Armen vor. Die roten Haare schmunzelten jetzt. Ich drückte meine Tochter noch einmal, stand auf und lief auf dem kalten Holzboden zur Küche. Beide folgten mir. „Du weisst, dass ich dich nicht sehen will“, betonte ich, während sich die Kaffeemaschine aufwärmte. Die Stimmung war seltsam. Graue Wände, brauner Boden, weisse Decke. Draussen schwarz. Nur die zwei Personen, die mir am Küchentisch gegenübersassen, zeigten Farbe. Die eine liebte ich, der anderen konnte ich nicht mehr in die Augen schauen.
Die Kleine erzählte von ihrem Tag, während ich und ihre Mutter ihr ununterbrochen zuhörten. Es wurde spät. Die Kleine wurde immer müder und unsere Augen immer kleiner. Wir assen Brot mit Käse. Dazu ein Glas Wein. So kam es, dass sich die Kleine irgendwann auf der Matratze im letzten Zimmer schlafen legte. Nun sassen nur noch wir zwei am Tisch. Die Gläser leer. „Sie vermisst dich.“ „Ich weiss, aber lass uns von etwas Schönem reden.“
Wir unterhielten uns über die Zeit seit der Trennung und sprachen von unserer Arbeit. Von Zeit zu Zeit erkannte ich die Person wieder, in die ich mich vor Jahren verliebt hatte. Als hätte sich eine dunkle Maske von ihrem Gesicht gelöst. Wir vergassen die Uhr und sassen da, hörten uns zu, bis schliesslich die weisse Kerze in der Mitte des Tisches erlosch. Es war dunkel. Nur der Mond beleuchtete die Umrisse der Möbel in der Küche. Wir sahen uns wieder an, ohne etwas zu sagen. Es war seit Monaten der erste Moment, in dem ich wieder kurz glücklich war. Doch woran lag es? Am Wein? An der flüchtigen Situation oder vielleicht doch an der Person gegenüber?
Ich zerbrach mir einmal mehr den Kopf darüber, wie ich fortfahren sollte. Gleichzeitig genoss ich aber die Ruhe und die Tatsache, dass meine Tochter bei mir im Bett schläft und sich wohl fühlt. Sollte ich einer Person, die mir täglich ein schlechtes Gewissen bereitet, wirklich nocheinmal eine Chance geben? Ich beschloss, die Stille zu unterbrechen.
„Lass uns die Bilder im Flur wieder aufhängen“