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Die graublaue Stunde der Nackten
Sie war schön, traurig und pleite.
Und die Letzte, die mit mir geschlafen hatte.
Vor zwei Jahren.
Vielleicht auch vor drei.
So genau wußte ich das nicht mehr.
Einfach noch eine verschwommen versoffene Erinnerung. Und meinem Kopf war es mittlerweile egal. Nur mein Körper rebellierte allmählich und begann sich zurück zu ziehen. Nach seinem letzten, verzweifelt erfolglosen Versuch, durch maximale Ausdehnung noch einmal auf sich aufmerksam zu machen.
Also einigte ich mit ihm. Und gemeinsam zogen wir uns nach und nach aus den Kneipenrauchwolkenbetten zurück und zogen an die frische Luft der Straßen.
Noch nicht wirklich, mehr so kopfherzig. Sonst hätte sie ja nicht, trotzt der Anderen, noch ein paar schmerz- und entspannungsvolle Gesichtsausdrücke, schwitzend, die restlichen Sommertage mal nackt oder ganz nackt neben, auf und unter, vor und hinter mir gelegen. Wir wechselten uns da fair ab.
Und vielleicht hatte ich die Sophienstraße auch schöner in Erinnerung, als sie es jetzt gerade war. Ende November. Weit, weit weg vom nächsten Frühling. Voll in der Kälte dampfender Komposthaufen.
Wir gingen dann in eine italienische Rauchschlauchbar in der Residenzstraße. Da gab es angeblich auch noch den „echten Klassiker“. Einen Negroni. Für faire 8,50 Euro.
*
Mit unserer Wahrnehmung war das so eine Sache geworden.
Ein, zwei Wochen vorher waren wir noch in einer anderen Stadt in eine Galerie gestiefet. Völlig überzeugt davon, dass dort vor zwei Monaten die großartigen Photos von Rebecca Partridge gehangen hatten. Aber die nette Dame am Empfang schwor Steif und Bein, dass diese Galerie niemals Photographien ausgestellt habe. Und schon gar nicht innerhalb des von uns genannten Zeitraums.
Aber wir insistierten so lange, bis sie schließlich eine Kollegin dazu rief, die im Prinzip aber genau das Selbe sagte, bis wir ihr nochmal detailliert beschrieben, wann und was wir auf diesen Bildern gesehen hatten.
„Elisabeth, oder Vanessa, hieß die Künstlerin. Mit englisch klingendem Nachnamen.“, versuchten wir uns genauer zu erinnern.
„Rebecca! Rebecca Partridge!“, rief die Galeristin, und mehr zu sich selbst, „Aber das war vor fast drei Jahren!“
Und dann fiel ihr Blick auf den Schaufenstermonitor.
„Könnten Sie es vielleicht da gesehen haben!?“, fragte sie uns.
Und auch wir guckten nun zum Monitor. Und dann sahen wir es auch: Wie wir vor vier Wochen draußen auf der Straße standen. Völlig gebannt auf dieses Gerät starrend, in dem sich Bild um Bild, Ausschnitt um Ausschnitt, Schatten um Schatten und Licht um Licht zu einem Gebirge von überwältigender Überforderung nach und nach in uns zusammen setzte.
„Fotorealistisch,“ gab die Galeristin uns noch mit auf den Weg, “Das nennt sich Fotorealismus.“
Es war nicht so, als ob wir das nicht gewusst hätten, aber wir wollten weiter freundlich zu ihr bleiben. Sie war es ja auch. Und tatsächlich schenkte sie uns noch den alten Ausstellungskatalog, um sich dann wieder auf die Jagd nach neuen, unverbrauchten Talenten zu machen, die bestimmt mehr Geld rein brachten, als ein wohlwollendes Gedicht von uns.
Wir guckten uns noch eine Weile die großartigen, bunten Bücherblätterbewegungsbaumscheiben von François R. du Plessis -die hingen nun doch real und sehr teuer an der Wand- an, und verließen schließlich diese freundliche Galerie mit dem festen Vorsatz da irgendwann was zu kaufen.
Die Straße aufwärts hätten wir direkt in’s Hotel Atlantic gehen können, aber das entscheidende Zimmer war schon besetzt. Von diesem Ichmachmeindingtypen. Also bogen wir in die Alsterwiete ab. Vorbei an den herrlich verfallenen Häusern, neben den noch verfalleren „Atlantik Garagen“. Hoch zu Sankt Georg.
Nach einer kaputten Malwiederdenscheißfernsehernichtaus-gemachtnacht und ohne Schlaf mit einem Pott Polespresso nach draußen in die neblige Kälte, um unsere diffusen, schlaflosen Gedanken zu sortieren, als gegenüber die erste Nackerte im Fenster erschien. Und so ging es die ganze Zeit weiter. Wie bei einem defekten Adventskalender, bei dem sich alle Türen gleichzeitig öffnen und wieder schließen. Öffnen und wieder schließen.
Mein Körper -der da noch gar nicht wusste, dass er jetzt auch schon paraphil war- fand es ein, für ihn, eher zynisches Schauspiel, aber ich erklärte ihm, dass es doch auch lustig sein könne, wenn eine der Damen nachher in einer Bäckerei stehen würde, wo wir unseren Frühstückslatte kaufen gingen. Und wir ihr beim Bezahlen noch herzliche Grüße an ihren Freund ausrichten könnten, den wir, ebenfalls nackert, nachdem er vom Joggen kommend, dass Treppenhaus hoch in den vierten Stock trabend, nach einer kurzen, heißen Dusche, auf seinem Balkon, noch kurz versunken, eine Zigarette rauchend, gesehen hatten.
Wobei, vielleicht genoss sie sogar die kurze Pause und Trägheit in ihrer neuen Hektik. Und das Binchwatchen. Und „Stranger Things“. Und meine Küsse. Und resignierende Melancholie.
Bevor sie endgültig ging, beschenkte sie mich noch mit allem Möglichen -sie hatte mir wohl doch zugehört- und wir, mein Körper und ich, dachten spontan, dass sie eventuell ein schlechtes Gewissen habe, wegen ihres kalten Abgangs vor Monaten. Aber was soll's, dachten wir, so isses eben, sagten wir uns. Mein Körper und ich. Und kochten ein paar Wochen lang alles lustvoll mit geschenktem Wildgewürz vom Weihnachtsmarkt. Und ich schrieb ihr noch zwei wunderweirdschöne Gedichte. „ABSCHIED“ und „VENEZUELA. DEIN KÖRPER. UND ICH.“
* H *