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Die grüne Fee trifft den Mann mit dem Koks
"Es ist kalt, aber so richtig. Die Mittagssonne strahlt, aber er spürt nichts davon, bei ihm kommt nichts davon an, von den wärmenden Strahlen. Kalter, dünner, feiner, pulvriger, klebriger, weißer Schnee umgibt ihn. Und Eis! Eiskaltes Eis. Nichts anderes. Er fühlt sich immer schlechter..."
“Verdammt! Heute klappt nichts. Aber auch gar nichts! Alles Mist! Ich finde keinen Rhythmus, keinen Fluss, habe keine Ideen. Im Text viel zu viele Adjektive.” Simon lässt sich gegen die hohe Rückenlehne seines Bürostuhls zurück fallen, seufzt leise. Seit Stunden versucht er, seiner Mount Everest-Geschichte, die er bereits seit Wochen in seinem Herzen getragen und in seinem Kopf bis ins kleinste Detail ausgearbeitet hat, Kontur zu verleihen. Nichts will gelingen, vor allem nicht, sich in die Geschichte hinein zu versetzen. Nichts will fließen außer der Flüssigkeit, mit der er immer wieder sein Glas füllt, Tröpfchen für Tröpfchen mit Wasser und Zucker versetzt, die einzige Art, Absinth wie einst die Großmeister zu genießen. So wie es bereits Rimbaud, Charles Baudelaire und Oscar Wilde getan und dabei der Nachwelt wunderbare Werke hinterlassen hatten.
"Müsste mir doch eigentlich auch gelingen! Aber was kann man schon erwarten, wenn hier drin so eine verdammte Hitze ist. Wie kann ich eine Geschichte über den kältesten Ort der Welt schreiben, wenn es hier drinnen heiß ist wie am Hochofen?" nuschelt Simon undeutlich. Der Stuhl kracht gegen die Schrankwand, als er ihn beim Aufstehen mit einem Ruck nach hinten stößt, um zum Fenster zu schwanken und beide Flügel bis zum Anschlag aufzureißen. Simons Körper bewegt sich bedenklich auf der Stelle vor und zurück, dann wankt er durch den Flur der Wohnungstür entgegen. Als er in alter Gewohnheit nie versiegender Neugierde durch den Türspion spähen will, schrillt die über dem Rahmen hängende Klingel in einem Ton, der ihm durch Mark und Bein fährt und ihn zusammenzucken lässt. Die milchig-grüne Flüssigkeit, die er zärtlich ma feé verte nennt, schwappt im Glas, ein Schwall des klebrigen Inhalts läuft über seine Hand.
“Ja?” Simons Augen benötigen ein paar Augenblicke, bis sie die Gestalt vor seiner Tür erkennen können. Frau Daum, die alte Dame, die seit Jahren seine Nachbarin ist, hat nicht den Lichtschalter im Treppenhaus betätigt, um zu seiner Tür zu gelangen, so dass ihr Gesicht nur spärlich vom Licht beleuchtet wird, das durch den Spalt der Wohnungstür zum Treppenabsatz dringt.
"Herr Simon, ich hätte da eine Frage" sagt sie zu ihm, der sich mit einer Hand am Türrahmen festhält und in das Glas starrt, in dem sich nur noch eine Pfütze befindet.
"Ach, schon wieder leer" murmelt er geistesabwesend.
"Genau das ist es ja, mein Keller ist leer und hier oben habe ich auch fast nichts mehr. Deswegen habe ich die Lieferung ja auch bestellt" erklärt die alte Dame.
Simon scheint nicht richtig zu verstehen, bringt nur gelangweilt "Ach, so ist das" heraus.
"Der Koks, junger Mann" sagt seine Nachbarin nun langsam und lauter, als wäre er schwerhörig. "Der Mann mit dem Koks kommt heute und ich wollte Sie nur fragen, ob Sie auch etwas kaufen möchten."
“Oh, das ist nett. Koks, sagen Sie? Ja, kann ich gut gebrauchen. Ich nehme einfach soviel wie Sie, dann komme ich schon klar. Das Geld gebe ich Ihnen morgen. Legen Sie bitte noch einen Fünfer dazu, als Trinkgeld für den Mann mit dem Koks.”
“Sind Sie denn nicht hier?” fragt Frau Daum, doch Simon hat sich bereits umgedreht und ist gerade dabei, die Tür hinter sich zu schließen.
“Nee, ich muss dringend noch mal weg. Etwas Wichtiges besorgen. Etwas ganz Wichtiges”. Die letzten Worte spricht er mehr zu sich, in Gedanken ist er bereits in seinem Stammlokal auf der Suche nach dem Mann mit dem besten Koks, das er jemals in seinem Leben probiert hat.
Stunden später.
Beim Verlassen des Lokals bläst ihm eisiger Wind entgegen. Mit einer Hand zieht er die Wolljacke zusammen, die andere Hand steckt in seiner Hosentasche. Fest umkrampft sie die kleinen, silbernen Briefchen. Bloß nicht verlieren! Haben wie immer ein Vermögen gekostet. Dann lieber frieren, soweit ist es ja nicht mehr nach Hause. Mit vorgebeugtem Oberkörper kämpft er gegen den Wind an, der um Hausecken tobt und Schneeflocken in der Luft verwirbelt.
Zu Hause angekommen achtet er nicht darauf, dass die Fensterflügel in seinem Arbeitszimmer offen stehen und eiskalte Luft sich im Raum breit gemacht hat. Der Kaminofen ist ausgegangen, nur Reste erkaltender Glut leuchten durch das Schauglas. Er fühlt eine innere Hitze, wirft Jacke und Pullover in die Ecke und setzt sich im T-Shirt an den Schreibtisch. “Mein Koks ist nicht schwarz, mein Koks ist weiß, aber es wärmt besser alles andere” kichert er und denkt einen flüchtigen Augenblick an Frau Daum, dankbar für den Tipp mit dem Koks. Tief zieht er mit der Nase an dem hastig zusammengerollten Zwanziger, durch den das weiße Pulver bis in die hintersten Verästelungen seines Gehirns jagt.
Von Außen wehen eisige Böen in das Zimmer, die kälteste Nacht seit Jahren hat mit wildem Schneegestöber begonnen, dessen Flocken bis zu seinem Schreibtisch direkt am Fenster vordringen. Simon bemerkt nichts von alledem, unablässig hämmert er in die Tasten.
Endlich: Es fließt! Die Gedanken sind schneller als seine zunehmend kälter werdenden Finger. In dieser Nacht will er sie zu Ende bringen, die Geschichte vom einsamen Bergsteiger auf dem Mount Everest, der erfrierend auf seine Retter wartet. Wie im Rausch tippt Simon, Seite um Seite, Stunde um Stunde, immer wieder befeuert von einer weiteren Ladung des weißen Goldes, das seine Fantasie in ungeahnte Höhen treibt.
Schneeflocken, zu einem hauchfeinen, aber undurchsichtigen Schleier formiert, nehmen den wärmenden Strahlen der Mittagssonne die Wirkung. Kein Laut dringt in diese isolierte Welt vor, in der wie in einer durchsichtigen Gefriertruhe nichts existiert außer festem Eis in klirrender Kälte. Die gute Welt, die Welt der Wärme, Behaglichkeit und Geborgenheit: unerreichbar.