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Die grüne Brille
von M. Glass
_BRILLENSCHLANGE_
Ausgelacht zu werden ist schrecklich. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, unerträglich. Doch die Tatsache keine Menschen zu kennen und keine Freunde zu haben, zwang mich an den Strick.
Obwohl die Nacht fahl und finster war, leuchtete mein Zimmer heller als am Tag. Mein Computerbildschirm flimmerte und aus meinen Boxen sang Mick Jagger. Meine Eltern würden mich finden, sie würden sich Vorwürfe machen, sie würden im Gegensatz zu mir weinen. Seltsam nüchtern bestieg ich meinen Drehstuhl. Ich wartete. Wartete auf Mutter. Wartete auf Vater. Wartete auf Freunde. Wartete auf ein Zeichen. Wartete auf göttliche Bestimmung. Nichts...
Der Stuhl knarrte unter meinem Gewicht, drängte mich ungeduldig, endlich zu handeln. Ich fixierte den selbst gemachten Galgen, wie es im Internet beschrieben wurde. Im Erdgeschoss hörte ich eine Tür knallen. Es folgten beleidigende Schimpfwörter. Bei dem Gedanken an meine bevorstehende Beerdigung entwich mir ein Schluchzer. Ich zwinkerte, war kurz unaufmerksam und da setzte sich der Stuhl in Bewegung, mein linker Fuß glitt ab und ich fiel in den sicheren Halt meines Gürtels. Der Laut, der so schmerzlich klang, hallt noch heute in meinen Ohren.
Meine Brille ging klirrend zugrunde, mein Blick verschwamm und ich wurde hinfort getragen.
_BLINDER FUCHS_
Tatsächlich konnte ich besser sehen wie zuvor. Ich fühlte mich erstaunlich leicht und weil es schaurig kalt war, stieg ich die Treppen hinab, um ins warme Wohnzimmer zu gelangen. Die Stufen waren weder weich noch hart. Verlässlich führten sie mich zur Wohnzimmertür. Diese jedoch blieb geschlossen. Ich wollte das Gespräch nicht stören und so lauschte ich. Es roch nach Streit und nach Whiskey. Mutter schien schweigsam die Flucht zu suchen, doch Vater wurde handgreiflich. Ein dumpfes Geräusch ließ den Boden vibrieren, ein verzogenes Grölen beendete die Auseinadersetzung.
Mutters zierlicher Leib lag in sehr respektloser Pose vor der Heizung. Mit einem Ausdruck von Kälte starrte Vater auf Mutters Brustkorb, der sich nach wie vor hob und senkte. Ein rotbläulicher Fleck zierte ihr sonst makelloses Gesicht.
Vorsichtig schlich ich auf Vater zu, berührte ihn sanft und blickte ihn aufrichtig, aber nicht vorwurfsvoll, in die Augen, die nach wie vor auf Mutter gerichtet waren. Abwesend zuckte er zusammen, rieb sich, als wäre ihm kalt geworden, als hätte sein Alkohol im Blut ihn einen vernünftigen Gedanken denken lassen. Angestrengt wandte er seinen Blick von ihr ab, warf seinen Blick durch mich, starrte in mich, als wäre ich aus Glas. Tatsächlich fühlte ich mich hohl und leer, aber vor allem zerbrechlich.
Vater öffnete die Wohnzimmertür und begann in mein Zimmer zu gehen. Ich folgte ihm ohne einen weiteren Gedanken an Mutter zu verlieren. Seltsamerweise klopfte er mehrmals an meiner Zimmertür. Aufgrund des Lichts und der Musik musste er wohl angenommen haben, dass ich mich in meinem Zimmer befand. Dass ich ihn schon seit geraumer Zeit Gesellschaft leistete, musste ihm wohl entfallen sein. Nach kurzem Murren öffnete er auch diese Tür.
Was will Vater? Was erhofft er sich von diesem Besuch? Sucht er irgendetwas?
_BEGEGNUNG_
Wir fanden das Zimmer unverändert vor. Die Rolling Stones beschallten den sperrigen Raum, der Bildschirm flackerte und das grelle Licht spiegelte sich in meiner Iris. Vater stürzte und vor ihm baumelte ein Junge in meinem Alter an der Zimmerdecke. Um seinen Hals war ein Gürtel gebunden. Die Stellen rund um den Gürtel waren blutunterlaufen. Als sich der leblose Körper zu uns drehte, blickte mir mein Spiegelbild ins Gesicht. Es war ich.
Mir wurde warm und ich zerfloss in jener Hitze.
Meine Eltern sprach ich nie wieder.