Die Gräfin und der Wanderer
Was würden Sie tun, wenn Sie einem echten Geist gegenüberstehen würden?
Als ich aus dem belebten und hektischen München hier nach Spiegelau am Rande des Nationalparks „Bayerischer Wald“ zog, suchte ich in erster Linie nach Ruhe und Abstand zu dem Alltag und den Menschen welche, wie ich, das Großstadtleben verkörperten. Geister gab es nicht in der Stadt – vielleicht vertrugen sich Menschen und Geister dort nicht so gut miteinander. Dem Anschein nach waren Geister so wie ich in diesem Moment – sie haben ihr Leben verlebt und suchten nun auch nach Ruhe und Abstand zu den Lebenden.
Dort, in der Großstadt verbrachten meine Frau und ich glücklich unser Dasein – inmitten von Freunden und Familie lebten wir in die Tage hinein und kümmerten uns nicht um die Zukunft. Doch nachdem meine Frau vor einem Jahr bei einem Autounfall gestorben war, zerbrach diese Idylle und so ertrug ich die Großstadt nicht mehr. Manche meinen, dass in solchen Situationen Ablenkung gut täte und meine Freunde haben auch alles versucht, um mich wieder in das vermeintlich „normale“ Leben zurückzuholen. Doch ich war nicht bereit dazu. Es könnte auch sein, dass ich es in meinem Inneren zuvor schon nicht wollte: diesen sinnlosen Alltag voller Eitelkeiten und Suche nach Anerkennung in einer Gesellschaft, welche für Menschen wie mich sowieso kein Vorwärtskommen und keine Erfüllung bereithielt.
Zudem vermisste ich meine Frau so furchtbar, dass es fast wehtat – und nur mit ihr war dieses Leben lebenswert. Alles dort erinnerte mich an sie: unsere Wohnung, das Frühstücksgeschirr, das Geräusch der Kaffeemaschine, der Geruch der Bettwäsche waren erfüllt von ihr. Nur sie würde nie wieder zurückkommen, um es alles wieder mit mir zu teilen….
Und so entschloss ich mich final dazu, alles hinter mir zu lassen, verkaufte oder verschenkte all den Plunder, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte und glaubte, mich auf diese Weise auch von den schmerzlichen Erinnerungen zu trennen. Ich war kein reicher Mann und so machte ich mich auf die Suche nach günstigen Wohnungen. Und da erinnerte ich mich an den Bayerischen Wald, in dem meine Frau ich einige schöne Urlaube verbracht haben und fand dort auch recht schnell eine kleine Wohnung – eben in Spiegelau, einem ehemaligen Glasproduktionsstandort, welcher nun versuchte, mit Tourismus in der anliegenden Nationalparkregion seine Kassen zu füllen. Die Wohnung war wunderschön und gemütlich, in einer Ferienwohnanlage auf einer Anhöhe gelegen, mit Blick auf die Berge „Rachel“ und „Lusen“, sowie den beide verbindenden, bewaldeten Bergrücken, gerichtet.
So dachte ich, abends am Balkon sitzend und auf die Berge und den Ort blickend, endlich meinen Abstand zu der Welt da draußen gefunden zu haben. Es musste wieder Ruhe in meinem Kopf einkehren, sodass ich wieder mein Leben normal leben konnte. Auf der Hangfläche des Lusen glitzerte der Ort „Waldhäuser“ in der Ferne mit den Lichtern der Häuser und Straßenlaternen wie ein Lager von einem weit entfernten Heer, welches dort seine Zelte aufgeschlagen hatte. Der von Baumkronen überwucherte Bergrücken wirkte wiederum dunkel und unheimlich – fast bedrohlich.
Manchmal, nach Sommergewittern, stiegen von dort aus Dampfsäulen auf. Wie gespenstische Gestalten zogen sie dann, den Wald überfliegend, alle in die gleiche Richtung, bis sie in den nebelumhüllten Gipfeln der Berge verschwanden. Wahrscheinlich waren es genau diese Bilder: der dunkle, schier endlose Wald, die klaren aber braungefärbten Bergbäche, die Nebelschwaden, die Abgeschiedenheit mancher Ortschaften und auch die Überlieferung des Volksmundes, welche über Jahrhunderte eine endlose Zahl an, für diese Gegend typischen, Spukgeschichten entstehen ließ.
Eine Geschichte hatte mich besonders gefesselt: die von der „weißen Frau“ oder der „Wecklin“, wie sie hier in der Gegend genannt wurde; ursprünglich der Gräfin Weickel (oder in der, für zu der damalige Lebenszeit der Gräfin modernen Französischen Schreibweise „Vequel“, woraus dann im Volksmund auch die „Wecklin“ entstand), welche angeblich an den Rachelsee, der knapp unterhalb des Rachel-Gipfels liegt, verbannt wurde. Und so soll sie in der Gegend zwischen den beiden Bergen Rachel und Lusen ihr gespenstisches Unwesen treiben. Da diese Gegend des Nationalparks auch touristisch gut erschlossen war, gab es natürlich auch viele angebliche Augenzeugenberichte von Wanderern aber auch Einheimischen, welche alle Sichtungen der „weißen Frau“ beteuerten.
Maria Maximiliana Drexel – so hieß die Gräfin in Wirklichkeit – lebte in der Mitte des 18. Jahrhunderts hier in der Nähe auf dem Schloss „Ramelsberg“. Als ihr Vater, als alter Mann im Alter von 85 Jahren verstarb, gingen – mangels männlicher Nachfolger – das Schloss sowie die Gutsverwaltung auf Maria über. Schnell fand sich – typisch für diese Zeit auch ein Ehemann: ein Obristlieutenant namens „Weickel“, welcher sich jedoch nur wenig um die Belange der Bevölkerung kümmerte und all die Verantwortung für die Gesamtorganisation der jungen und noch unerfahrenen Maria übergab. Wie erwartet, klappten viele Dinge nicht und so entstanden Gerüchte und Anschuldigungen gegenüber der Gräfin, dass sie absichtlich und aus reiner Boshaftigkeit gegen ihre Untergebenen handeln würde.
Als Maria dann an einer Blutvergiftung verstarb, verfluchten sie das Volk und die Kirche. Und so wurde sie – damit ihr Geist nicht mehr auf dem Schloss herumspukte - an den einsamen Rachelsee am Fuße des Berges verbannt und musste dort nun als einsame und gequälte Seele ihr Dasein fristen.
Doch die Person der Gräfin aus den Geschichten faszinierte mich auf eine seltsame Art und Weise und so empfand ich immer wieder eine starke Ungerechtigkeit, wenn sie darin als eine geizige und bösartige Frau beschrieben wurde.
<<Auch wenn sie es mal war – in den vielen Jahrhunderten der Verbannung hat sie mehr als genug für ihre Sünden gebüßt. Ihre Bediensteten und auch andere Menschen, welchen sie in der Vergangenheit etwas angetan haben sollte, waren auch schon längst nicht mehr auf dieser Welt – ihnen hätte es wirklich egal sein müssen, ob ihre Herrin auch über ihren Tod hinaus immer noch bestraft wird….>> dachte ich mir dazu immer.
Persönlich war ich nie sonderlich interessiert an Übernatürlichem, erinnerte mich aber daran, dass meine Großmutter oft ähnliche Geschichten erzählte, von Aberglaube und Zeichen von Verstorbenen, Ritualen der Geistervertreibung, welche ihr, ihren Bekannten oder sonstigen Personen aus der Verwandtschaft passiert sind. Vielleicht hatten die Alten ja wirklich noch mehr Bezug zu diesen Dingen – es schien mir zumindest oft so, als wäre es für sie normal gewesen, dass ihre verstorbene Mutter ihr manchmal in Träumen erschien und auch, dass sie die Schritte von meinem Großvater nachts im Flur hörte, nachdem dieser auch verstarb. Ich fand es damals einfach nur unheimlich und wollte mich auch nicht weiter mit diesem Thema auseinandersetzen – als Erwachsener war es in der von Logik und Technik dominierten Welt dann schlussendlich auch nicht nötig.
Eines Tages unternahm ich, wie so oft, eine Wanderung zum Gipfel des Rachel. Dafür, dass es bereits Oktober war, herrschten noch sommerliche Temperaturen und ich beeilte mich nicht, da ich die Strecke gut kannte. Wie immer, hatte ich einige Wege-Bier dabei und so erreichte ich am frühen Nachmittag den in der Sonne funkelnden Rachelsee und machte an seinem Ufer Pause. Für Touristen standen Bänke bereit und so trank ich meine Wege-Bier aus und legte mich auf eine der Bänke, um mit geschlossenen Augen die letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres zu genießen. Wahrscheinlich bin ich so eingeschlafen, denn als ich aufwachte, fand ich ein anderes, unbarmherzigeres Bild dieser wunderschönen Landschaft wieder: Wolken und dichter Nebel sind in der voranschreitenden Dämmerung aufgezogen und kalter Wind durchdrang meinen Körper. Ich sah auf die Uhr und mir wurde sofort angst und bange, denn es war schon fast halb 6, womit ich ungefähr noch eine halbe Stunde Zeit für den Abstieg hätte, bis die Sonne gänzlich hinter dem Horizont verschwinden würde. Der dichte Nebel und das instabile Wetter würden den Abstieg auch nicht zwingend leichter machen – aber was soll's – ich wollte da oben auch nicht unbedingt übernachten.
So machte ich mich auf den Weg zurück, mit Taschenlampe ausgestattet sah ich nur einen kleinen Streifen Licht vor mir. Als Stadtmensch vergisst man schnell, wie dunkel die Dunkelheit sein kann: denn ohne die Lichter der Häuser und der Straßenlaternen, umhüllt in Nebel, war der Wald tiefschwarz. Und ohne die uns Menschen vertrauten Geräusche der Zivilisation, wie Autolärm oder Töne aus dem Fernseher, erscheint das Pfeifen des Windes im Wald sehr laut und fast bedrohlich. So, nur dem Wind und den eigenen Schritten lauschend, ging ich meinen Weg weiter. Ein Schaudern saß mir im Nacken – denn es war sicherlich keine normale Situation für mich und alles um mich rum schien irgendwie gegen mich zu sein und im Schatten des Waldes, so kam es mir vor und ich fühlte es auch, war etwas, was mich beobachtete und mir zu folgen schien. Ich ging instinktiv schneller, was noch mehr zu meiner Verzweiflung beitrug – ich wusste, dass es nur mein Gefühl war, jedoch war alles so real und zerrte dermaßen an meinen Kräften, dass ich mir nicht mehr sicher war, ob ich den Abstieg, welcher sich noch über einige Kilometer gezogen hätte, auch schaffen würde.
Und dann, kurz bevor meine Verzweiflung in Panik kippte, lichtete sich der Nebel und der Wind hörte auf zu blasen, sodass der ganze Wald in eine unheimliche, jedoch angenehme Stille gehüllt wurde. Plötzlich verschwand meine Panik und ich fühlte, wie etwas Warmes mein Herz umhüllte – ein Gefühl, als ob mich jemand an der Hand genommen hätte und mir ins Ohr flüstern würde << Keine Angst, es wird alles gut…>>. Und so bin ich auch nicht richtig erschrocken, als ich am Wegesrand Umrisse einer sitzenden Person erkannte. Als ich näherkam, stellte ich fest, dass es sich um eine Frau handelte. Untypischerweise – dies ist mir jedoch erst später eingefallen, trug sie keine Wandersachen, wie man es in dieser Umgebung erwartet hätte, sondern ein schlichtes, knielanges weißes (oder hat es gar leicht geleuchtet?) Kleid und war barfuß unterwegs. Sie hob ihren Kopf, sah mir in die Augen und lächelte mich an. Ihr Blick jagte einen schmerzlichen Dolch in mein, inzwischen fast verheiltes Herz. Denn trotz des Lächelns sah ich in ihren Augen einen endlosen Schmerz, der aus Einsamkeit, Trauer und Verzweiflung bestand und die Leere der Nacht zu erfüllen schien. Es war jedoch kein hasserfüllter Schmerz – nein, wer auch immer sie war, sie wollte mir nichts Böses antun. Zudem erkannte ich, dass die Frau sehr schön war – ihr Alter war schwer einzuschätzen, jedoch hatte sie lange dunkle Haare, ein makelloses Gesicht und eine zierliche, fast mädchenhafte Figur. Im Nachhinein hätte ich sie fast nicht als „schön“ sondern eher als einfach nur „sympathisch“ oder gar “niedlich“ bezeichnet.
In meinem Inneren war mir klar, dass es kein Mensch hätte sein können – es hätte in dieser Situation für jemanden auch wenig Sinn ergeben, im weißen Kleidchen nachts durch den Wald zu laufen. Auch die Aura, welche diese Frau umgab sagte mir, dass es sie sein musste: die „weiße Frau“ aus den Horrorgeschichten. So brachte ich ihr entgegen nur ein vorsichtiges und zaghaftes <<H-h-ha-ha-lo>> heraus. Irgendwie erschrak ich zugleich vor dem Klang meiner eigenen Stimme, stolperte vor Schreck über eine Wurzel und fiel, wie ein umgesägter Baum, auf den Boden. Dazu machte ich, so kommt es mir jetzt vor, ein ziemlich dummes Gesicht. Als ich wieder den Kopf hob, sah mich die Frau zuerst überrascht und fragend an und brachte dann in Gelächter aus. Es war das schönste Lachen, was ich seit langem gehört hatte und es klang zudem auch – vielleicht am besten zu beschreiben mit dem Wort „ehrlich“. So musste ich, trotz dieser – fast verrückten Situation – auch lachen. So lachten wir beide zusammen einige Minuten lang, in dieser Oktobernacht, in der Dunkelheit und Stille des Waldes – welche mir gar nicht mehr unheimlich vorkamen, ohne genau zu wissen, worüber eigentlich. Als wir uns beide beruhigt hatten, erwiderte sie meine Begrüßung auch mit einem herzlichen <<Hallo!>>. Ihre Stimme klang wundervoll, jedoch irgendwie stumpf und doch allgegenwärtig, fast, als würde sie aus einem Lautsprecher kommen.
<<Ich heiße Marie. Wie ist Ihr Name?>>
<<Maria…>> korrigierte ich sie unterbewusst. <<Ein schöner Name.>> Ich erinnerte mich daran, die Geschichte über die „weiße Frau“ gelesen zu haben und meinte, dass die „weiße Frau“, Maria hieß. Gleich danach hätte ich vor Scham im Boden versinken können – natürlich korrigiert man nicht den Namen von jemanden, der sich gerade selbst vorstellt… <<Entschuldigen Sie bitte – es war gerade dumm… eeeh… unhöflich von mir!>>
Wieder muss ich ein ziemlich dämliches Gesicht gemacht haben, denn die Gräfin lachte erneut.
<<Nein, nein, es ist schon in Ordnung.>> sagte sie. <<Sie scheinen zu wissen, wer ich bin. Dies ist an meiner Erscheinung auch nicht schwer zu erraten. Aber Marie klingt doch so schön Französisch…>>
Da war wieder diese Schwermut in ihren Augen…
<<Entschuldigen Sie bitte – aber es ist alles gerade etwas zu viel für mich.>> Das war ungelogen vor mir. Ich fragte mich zudem auch, ob Geister auch Gedanken lesen können? Vielleicht weiß sie schon alles über mich und spielt nur ein seltsames Spiel mit mir. <<Ich habe nicht damit gerechnet, hier noch jemanden zu treffen. Ich bin – wie Sie sehen – spät dran und versuche, hier vom Berg in die Ortschaft zu kommen. Nun bin ich Ihnen begegnet und weiß nicht so recht, was gerade passiert… Was machen Sie hier?>>
Ich versuchte gedanklich die rhetorische Antwort ihrerseits - „herumspuken“ - zu unterdrücken, um den Geist der Gräfin nicht zu verärgern.
<<Man könnte sagen, ich lebe hier.>> entgegnete sie. <<Sie wissen ja sicher, dass man mich „die weiße Frau“ nennt. Ich bin – sozusagen, der „Hausgeist“ dieser Gegend. Und viele Menschen, die mich sehen, halten mich für einen Fremdkörper in dieser Welt. Sie laufen von mir weg, verfluchen mich, versuchen mich gar „auszutreiben“. Dabei ist das hier schon seit Jahrhunderten mein Zuhause und ich bin…>>
Fing sie etwas an zu weinen? Ihre Augen wurden trüb und ihre Stimme klang auf einmal viel höher als zuvor…
<<…bin doch nicht eine „weiße Frau“! Ich bin Marie… Marie, die schon seit langem mit keinem Menschen mehr gesprochen hat und sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder mit jemandem zu reden, jemanden zu berühren… Etwas, was mich an früher erinnert….>>
Sie weinte tatsächlich… Einen Geist hatte ich noch nie gesehen aber von einem weinenden Geist habe ich bisher noch nie etwas auch nur ansatzweise gehört gehabt. Ich war so erstaunt, dass ich für einen Augenblick vergessen hatte, wer oder was gerade vor mir saß. Ich schritt zu ihr, umarmte sie instinktiv und drückte sie an mich, denn sie schien mir in diesem Augenblick sehr menschlich zu sein – teilweise menschlicher, als all die Gestalten, welche mich die letzten Jahre umgaben.
<<Hey, kein Grund zu weinen… Wir reden doch gerade miteinander, oder?>> Diese arme Frau tat mir Leid. Alle Welt hatte Angst vor ihr. Ja, diese Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte der Einsamkeit und der Trauer. Ich war wahrscheinlich der einzige Mensch, mit welchem sie nach einer langen, langen Zeit wieder reden konnte. Irgendwie dachte ich in diesem Augenblick auch daran, dass wir – diese Geisterfrau und ich, der einsame Wanderer, mehr gemeinsam hatten, als wir dachten. Einsamkeit und Trauer – diese Gefühle waren mir leider auch zu bekannt….
<<Marie… Möchtest Du mich vielleicht ein Stück begleiten?>>
Noch in Tränen hob sie ihren Kopf und nickte unentschlossen. So gingen wir zusammen den Weg entlang. Ich kann mich nicht mehr gut an den Weg selbst erinnern – doch alle Ängste und Sorgen waren wie weggeblasen und ich spürte einen Anfall von Freude im Inneren. So als ob ich etwas sehr wertvolles gefunden hätte. Wir sprachen über viele Dinge und doch über belangloses Zeug. Es lag eine schöne Anspannung in der Luft und Marie erzählte mir viel aus ihrem alten Leben als Gräfin, den Fluch, der von einer geliebten ihres Gatten, des Grafen über sie gesprochen wurde, die Lügen, ihren Tod und darüber, wie der Volksmund sie, zu Unrecht, über Jahrhunderte verteufelte, wie alleine sie sich die ganzen Jahre über gefühlt hatte… Ich erzählte auch von mir: von meinem früheren Leben in der Stadt, vom Unfall meiner Frau (welcher in mir wieder diese längst vergessene Trauer wieder aufleuchten ließ) und von meinem damaligen Leben. Bei ihr hatte ich auch das erste Mal wieder das Gefühl, dass sie mir zuhörte – und ich meine nicht dieses einfache zuhören, bei dem man nickt und versucht, schlaue Ratschläge zu geben. Nein, es war das Zuhören, bei dem sich das Gegenüber in die eigene Haut hineinversetze und mit einem das Geschehene durchlebte. Es fühlte sich gut an…
Plötzlich blieb Marie stehen.
<<Entschuldige, aber weiter kann ich dich nicht begleiten.>>
Mir wäre fast entgangen, dass wir schon fast unten angekommen waren und nun vor dem Ortschild standen.
<<Es ist mir nicht erlaubt… Nein, besser gesagt, kann ich den Wald nicht verlassen. So müssen sich unsere Wege trennen…>>
<<Warum kommst du nicht einfach mit? Du konntest doch auch bis hierher gehen?>>
<<Es ist wie eine unsichtbare Wand, die mich von dem Ort fernhält. Es ist die Verbannung meiner Seele hierher, weit weg von den Menschen, welche mich hier festhält. Sie lässt mich nicht unter den Lebenden weilen. Deshalb bin ich hier... Entschuldige…>>
<<Du musst dich nicht entschuldigen! Es ist doch nicht deine Schuld?! Und es gibt keine Möglichkeit, die Verbannung wieder rückgängig zu machen?>>
<<Nein, leider nicht. Du solltest wissen, dass Worte wie Ketten sind – sie halten die Menschen zusammen – aber einmal auferlegt, fesseln sie auch den Geist, egal ob bei lebenden oder toten… So mach es gut, mein lieber Wanderer – es hat mir große Freude bereitet, dich getroffen und wenigstens, für ein kleines Stück, begleitet zu haben… Vielleicht sehen wir uns ja wieder und denke bitte nichts Böses von mir…>>
Sie lächelte und ihre Hand berühre zaghaft und zärtlich meine. Sie fühlte sich warm an und ich konnte ein leichtes Zittern in ihren Fingerspitzen erkennen.
<<Gibt es wirklich keinen Weg für dich, mich weiter zu begleiten? Weißt du… unsere Unterhaltung – sie hat mir sehr gefallen und ich würde dich, wenn es irgendwie geht, auch gerne wieder treffen….>>
Es war nicht gelogen vor mir, denn sie war seit Jahren wieder die erste Person, mit der ich mich gerne ehrlich unterhalten habe. Außerdem gingen von ihr diese unglaubliche Wärme und Verletzlichkeit aus, sodass ich das Gefühl hatte, bei ihr bleiben zu müssen, um das, was ich spürte, zu beschützen oder zumindest wieder spüren zu können.
<<Ich möchte dir nicht zur Last fallen… Du weißt ja – ich bin nur ein Geist, also etwas, was nicht in diese Welt gehört. Und die Welt der Lebenden darf ich nicht betreten, also wäre es unnormal, wenn wir uns wiedersehen würden… Es ist auch in Ordnung so – ich bin es gewohnt, alleine zu sein…>>
Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass sie auch nur eine Minute länger alleine sein muss. All die Jahre waren genug gewesen. Was war auf einmal nur los mit mir? Jeder andere Mensch wäre längst davongelaufen – aber ich fühlte in diesem Augenblick keine Angst oder Unsicherheit. Sie war für mich etwas Besonderes. Etwas, was ich nicht sofort loslassen wollte und nun war mir klar, dass ich doch in meinem Inneren eine Angst verspürte: es war aber eine andere Art von Angst. Ich erkannte, dass meine Angst war, Marie nie wieder treffen zu können.
<<Ich komme jederzeit wieder zu dir! Versprochen!>> schrie ich heraus. <<Du wirst nie wieder alleine sein müssen!>>
Marie schenkte mir daraufhin ein zaghaftes Lächeln, als ob sie es nicht glauben wollen würde und mir doch dankbar für den Versuch wäre. Sie zog an meiner Hand und unsere Wangen berührten sich. Wieder spürte ich ihre Wärme und wünschte mir, dass dieser Augenblick nie vorbeigehen würde. Sie gab mir einen Kuss auf die Wange, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit des Waldes. Später meinte ich noch, ein leises „Danke“ vernommen zu haben.
Zuhause angekommen, trank ich viel Alkohol, um alles Erlebte zu verarbeiten. Und wieder war es nicht die Angst, die mich umtrieb. Es war dieses warme Gefühl auf der Haut, die ehrlichen Worte und das Gefühl, einer endlosen Sehnsucht, welche dieses Mädchen in mir hinterlassen hatten. Ich musste mir selbst eingestehen, dass ich mich in dieser Nacht in die Gräfin verliebt hatte…
Und so trafen wir uns in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren immer und immer wieder am Wanderweg – natürlich immer sobald die Dämmerung einsetzte oder sich die Nacht über den Nationalpark legte. Wir liebten uns – doch es schien für uns weder eine gemeinsame Gegenwart noch eine gemeinsame Zukunft zu geben. Die Menschen fingen an, mich zu meiden, da ich auch keinerlei Interesse mehr an „normalen“ sozialen Kontakten im Ort mehr hatte. Andere Gestalten um mich rum halfen mir nur zu existieren. Marie: das war alles, was für mich zählte und aus dieser Existenz ein richtiges und vor allem ein glückliches Leben machte.
Sicher versuchte ich alles, was sie von ihrem Fluch hätte befreien können: ich ging in Bibliotheken und las eine Menge esoterischer und religiöser Literatur, ich konsultiere Seher und angebliche Zauberer oder abtrünnige Geistliche, welche allesamt an der Aufgabe scheiterten, die Gräfin von ihrem Ort der Verdammnis zu lösen.
So vergingen Jahre und, um unsere Entfernung zu verkürzen, zog ich nach „Guglöd“, einen Ort, der das letzte Refugium des Menschen innerhalb des Waldgebietes des Nationalparks darstellte. Uns trennte also nun noch das Ortschild – aber selbst dieser eine Metallpfosten war eine unüberwindbare Barriere für unsere Liebe. So übernachtete ich oft im Wald – in den Armen meiner längst toten Geliebten.
Tagsüber konnte ich Marie nicht sehen – sie mich aber schon. Irgendwie spürte ich stets ihre Nähe – ich war jedoch nicht in der Lage, sie zu berühren oder mit ihr zu sprechen. Wie ein Fluch, welcher nun auf mir lastete, wurde unsere Liebe vernichten, noch bevor ich es schaffte, Marie in mein Leben zu holen. Doch nachts brach unsere Zeit an. Wie bei einem Ritual ging ich, bei jedem Wetter hinaus in den Wald, wo Marie auf mich wartete. Wir sprachen miteinander und unsere gegenseitige Wärme gab dem Gegenüber genug Kraft, um den bevorstehenden Tag zu überstehen – bis unsere gemeinsame Zeit wieder anbrach.
Unsere Gedanken, Gefühle, Gespräche und all das, was wir miteinander erlebten, schrieb ich in ein Tagebuch. Die Welt sollte irgendwann erfahren, dass Marie kein bösartiger Dämon war, sondern sehr menschlich und liebevoll und es die Menschen selbst waren, die aus ihr für sich selbst ein dunkles und unheimliches Wesen kreiert hatten. Das hatte sie verletzt – sehnte sie sich doch nur nach etwas Zuneigung und Nähe. Und so konnte mit der Zeit auch ich, diese ignoranten und boshaften lebenden Gestalten um mich herum immer weniger leiden…
Weitere Jahrzehnte vergingen, die trockene Hitze der Sommertage wich den windigen und verregneten Herbstabenden und so schliefen der Wald und die Berge um mich herum immer wieder unter einer kalten weißen Schneedecke ein, um erneut von der Wärme der ersten Frühlingssonne geweckt zu werden. Doch egal, wie viel Zeit auch verstrich - es gelang mir nicht, einen Weg zu finden, meine Gräfin von ihrem Fluch zu befreien. Meine Gesundheit schwand zusammen mit meiner verbleibenden Lebenszeit, sodass es für mich nicht mehr so einfach war, unsere nächtlichen Treffen wahrzunehmen.
Marie und auch ich wussten, was mit uns geschah, doch wir sprachen nicht darüber. Manchmal kommentierte sie mein angestrengtes Schnaufen bei unseren Spaziergängen maliziös mit Kommentaren wie <<…graue Haare stehen dir nicht…>> oder <<…überanstrenge dich nicht, alter Mann!>>.
Innerlich schmunzelte ich dann immer, war sie doch eindeutig die ältere von uns beiden gewesen…
Und so lachten wir die dunklen Vorahnungen unserer gemeinsamen Zukunft einfach weg, wohlwissend, dass sie bereits begonnen hatte, uns gnadenlos und unaufhaltsam zu verfolgen. So betete ich nur, dass uns wenigstens noch einige Jahre bleiben würden, bis sie uns schlussendlich einholen sollte.
<<Nur noch etwas Zeit, noch ein bisschen länger…>>
Doch eines Tages war ich nicht mehr in der Lage, aus dem Haus herauszugehen, um meine Marie zu besuchen… Ich wusste, dass sie dort auf mich wartete – an jenem Platz, zu jener Zeit, zu der wir uns damals zum ersten Mal trafen. Ja, sie war dort, sitzend am Wegesrand und vor Ungeduld im weichen Waldboden mit dem Füßen stampfend. Sie hatte sich seit unserer ersten Begegnung kein Bisschen verändert: sie immer noch so, wie sie damals war – wunderschön und jung. Ich wiederum war inzwischen alt und grau geworden – und nun auch nicht mehr in der Lage, mein Bett zu verlassen.
Dieser darauffolgende Winter war besonders hart. Mit leerem Blick starrte ich die leere Decke des kalten Zimmers an und dachte nur an sie – das ein und alles, was ich hatte: Marie. Eine Träne lief an meiner Wange herunter, denn meine letzte Wanderung musste ich ohne sie antreten…
…
Als der alte Kauz starb, fühlte sich das ganze Dorf irgendwie erleichtert. Viele behaupteten ja, er wäre den Dämonen des Waldes verfallen und hätte sich sowieso nicht viel für diese Welt interessiert. Warum führte er kein normales Leben wie all die anderen? Warum lief er, bis einige Tage, bevor er verstarb, aus letzter Kraft abends in den Wald? War er so sehr von den Stimmen verzaubert, dass sie ihr bis zu seinem Tod lenkten?
Nein, für das seltsame Verhalten des Einsiedlers gab es bis zum Schluss keine logische Erklärung – er schien wie besessen von etwas zu sein. So, als würde er hier mit den Lebenden nur seine Zeit absitzen, um jeden Abend irgendwo andershin nach Hause zurückzukehren…. Auch in seiner Hütte gab es nicht viel zu holen - bis auf einige alte Töpfe, Pfannen und einen alten Wanderstock fand man keine weiteren persönlichen Gegenstände – so schien der Mann auch keine Erinnerungen an sich und sein Leben hinterlassen haben zu wollen.
Nach dem Tod des alten Mannes häuften sich plötzlich auch wieder die Sichtungen der Gräfin in der Gestalt der „weißen Frau“. Wanderer und auch Einheimische erblickten sie oft dort, am Fuße des Rachel, in der Abenddämmerung am Wegesrand hinunter nach Spiegelau, sitzend – so, als würde sie auf jemanden warten. Manche glaubten zudem ein Buch in den Händen der Frau gesehen zu haben, in dessen Zeilen sie gespannt hineinblickte und dabei zu lächeln schien.
Etwas hatte sich jedoch verändert: die Menschen empfanden bei diesen Begegnungen seltsamerweise keine Angst – vielmehr ließen diese in ihren Herzen oft ein warmes Gefühlt der Sehnsucht und Melancholie zurück. Manche sagen auch, dass sie die Gestalt der Gräfin sahen, wie sie langsam zu einem weißen Licht wurde, welches um die Bäume schwebte und – so behaupten andere - ein anderes Licht umkreiste sie, wie in einem Tanz zweier, sich für die Ewigkeit versprochener Liebenden….