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- Anmerkungen zum Text
Der Herbst des Jahres 1302 in der Nordmark; ein Regenjahr.
Die Gnade der Götter
Als das Dorf brannte, hielt Sepp eine Predigt.
»D’rum schenkte uns der Vater Himmel Gerechtigkeit; alles auf dieser Welt, so sprach er, soll geschehen, wie es Recht ist.« Die Worte waren wie süßer Wein auf seinen Lippen und beschwipsten ihn. Auch die Zuhörer nahmen einen Schluck.
»Nicht alles mag uns gerecht erscheinen«, rief der Pastor, »doch der Vater weiß, was er tut und er gibt seinen Kindern, was sie verdienen. Also nehmet sein Urteil, wie es komme.«
Stille. Auf dem Altar flackerten Kerzen in einem dreiarmigen Kandelaber neben kleinen Holzfiguren des Vaters und der Mutter. Die Männer, Frauen und Kinder saßen zusammengedrängt auf einfachen Bänken und hielten je eine kleine Kerze in der Hand, wie es Brauch war. Die Decke war niedrig und es stank nach Schweiß, die Bauern waren gerade von der Ernte heimgekehrt. Eine klägliche Ernte — schon wieder; Sepps Herde litt Hunger, niemand hier trug mehr Fett auf den Rippen.
»Pah!«, rief da Ernst, der Schäfer, ein spillriger Mann ohne Haare, der einen dicken Schafspelz trug und von der Herde nur geduldet wurde. Er erschien selten zu den Predigten. »’n schlechter Vadder, der seine Kinners hungern lässt, sach ick.«
»Nu halt ma’ den Rand, Ziegenficker«, rief Opa Wilfried, doch Sepp beruhigte ihn mit einer Geste. »Ich verstehe deine Zweifel«, sagte er, »doch sieh es so: Der Vater sieht nicht dich, er sieht das Ganze. Auch du würdest ein Schaf opfern, um die Herde zu schützen, oder nicht?« Seit er sich vor einem Jahr in Clenze niedergelassen hatte, versuchte Sepp, dem Schäfer die Wärme des Glaubens zu bringen. Bis jetzt ohne Erfolg.
»Ick hüte meine Schafe für Wolle und Fleisch. Was kriegt der Vadder von uns, he?«
Sepp überlegte, dann antwortete er: »Liebe. Lasst uns also beten.«
Er wandte sich gerade zum Altar, da wurde die Kapellentür aufgestoßen. Ein Mann stürzte herein, fiel schnaufend zu Boden und krächzte: »Es brennt! Mainar brennt!«
Unruhe ergoss sich wie eine Flut über die Menschen. Sepp musste ihr Anker sein, doch auch er spürte die Angst an seiner Kehle zerren.
»Wie schlimm ist es?«, fragte er. Mainar war das nächste Dorf, etwa zwei Meilen entfernt. Wenn es dort brannte, mussten sie zur Hilfe eilen.
»Schlimm! Reiter, aus’m Norden. Ick bin gerannt wie schnell ick konnte.«
Die Menschen wurden blass. Die kleine Monika suchte im Schoß ihrer Mutter Schutz und Sepp im Schoß der Götter: Er lobte den Mann aus Mainar, dann nahm er den Kandelaber vom Altar, legte die rechte Hand auf die Brust und murmelte: »Oh Vater, schütze deine Herde.« Für zwei Lidschläge senkte er den Kopf, dann stellte er die Kerzen wieder ab; die Menschen drängten sich bereits aus der Kapelle.
Noch hier in Clenze konnte Sepp das verbrannte Holz riechen und das Feuer sehen; das Land war platt, so, als hätten die Götter es mit einer Walze geformt.
»Sind alle da?«, fragte er und stapfte, als niemand etwas erwiderte, durch den Muttersgarten voran — hier in Clenze waren das nicht mehr als ein Büschel Gras und ein paar Blumen, die um die Kapelle herum wuchsen, doch Silde und Marla pflegten den Garten liebevoll.
Etwa zwanzig Männer, Frauen und Kinder folgten ihm. Sie alle trugen schlichte Kleider, die von der Arbeit dreckig waren — blaue oder weiße Leinenkittel, darüber Mäntel und an Ledergürteln hängend leere Geldkatzen oder Beutel und Messer. Die Männer trugen Kapuzen, Hüte oder beides und die Frauen flochten ihre Haare und bedeckten sie mit Tüchern; nur die Haare der Jungfrauen waren offen. Einige der Menschen wollten Sachen aus ihren Häusern holen, doch Sepp verbot es.
Marla schloss zu ihm auf und fragte: »Wo soll’n’wa hin?« Ihr Körper bebte und sie drückte ihre Tochter Monika fest an sich. Das Mädchen war gerade acht geworden und schaute sich verwirrt um.
»Flachau«, beschloss der Pastor. »Der Baron wird uns schützen.«
»’n Scheißdreck wird der Baron«, knurrte Ernst und ging ebenfalls neben Sepp her. »Der fackelt doch selber Mainar ab.« Er spuckte auf den Boden.
Sepp schüttelte den Kopf. »Unsinn, der Baron schützt seine Leute und tötet sie nicht. Das waren Heiden aus dem Norden.« Und wenn wir hierbleiben werden sie auch uns töten.
Der Schäfer schüttelte den Kopf, erwiderte aber nichts. Schweigend marschierten sie weiter in Richtung Norden, durch Felder, auf denen bereits Wintergetreide ausgesät worden war und solche, die noch auf Samen warteten oder schon abgeerntet waren: Steckrüben, Zwiebeln und Salat und anderes Gemüse lag in Säcken am Wegesrand; von den Bäumen, die jetzt ihr buntes Herbstkleid trugen, hatte man Äpfel, Nüsse und Birnen gepflückt und in Fässern gesammelt. Die Fässer waren nur zur Hälfte gefüllt, die Säcke waren dünn und den Früchten und dem Gemüse wuchsen dicke, schwarze Warzen, die faulig stanken.
Schweigend folgten die Menschen Sepp, den Blick immer wieder zu der Rauchwolke wandernd, die sich wie ein schwarzes Omen am Himmel auftürmte. Sie mussten sich beeilen.
Bald kam eine zweite Wolke dazu, näher als die andere. Die Menschen schrien wütend auf, heulten und schimpften: Sie sahen dort ihre Häuser brennen, ihr Hab und Gut, die wenigen Vorräte, die sie für den Winter gesammelt hatten: die geschlachteten Schweine, das Getreide, den Reis und die Stickereien von Oma Hildegard, die Puppen, die einst ein fahrender Händler ins Dorf gebracht hatte; Monika und der kleine Heinrich schrien, denn sie waren noch nie so weit von zu Hause fort gewesen. Auch Sepp wurde schummrig bei dem Anblick, doch er war erleichtert, denn seine Herde hatte überlebt. Er dankte den Göttern und bat den Vater um seine Gnade, dann trieb er die Menschen weiter.
Sie flohen schweigend.
»Die Götter werden uns helfen«, rief Sepp irgendwann in die Stille hinein und hob die Hand zum Himmel. »Die Götter und der gute Baron. Wir haben niemandem etwas getan, das Recht des Vaters ist auf unserer Seite!«
Dieses eine Mal erwiderte der Schäfer nichts und dafür war Sepp dankbar.
In Flachau wurden sie mit einem mürrischen Blick begrüßt und fortgeschickt.
Die Burg des Barons war klein und umgeben von einer Kapelle und einem Dutzend Hofstätten mit weiten Feldern. Bauern schleppten Säcke mit Getreide, Obst und Gemüse durch das Burgtor und ein Fleischer schlachtete ein Schwein. Zwei Soldaten schrien Befehle, andere packten mit an. Im Süden hingen die Rauchwolken am Himmel.
»Was is los?«, fragte Monika, die Sepps Hand hielt und mit ihm voranging.
»Der Baron hat keinen Platz mehr für uns«, erklärte Sepp und versuchte, seine Verzweiflung zu verbergen. »Aber in Singbostel werden wir Hilfe finden.« Aber bis Singbostel ist es noch viel zu weit, dachte er noch, doch das musste Monika nicht wissen. Es würde bald Nacht werden und die Menschen waren erschöpft, Oma Hildegard konnte kaum noch gehen. Sie weinte und verstand nicht, denn das Alter hatte ihren Geist vernebelt. »Zuhause«, murmelte sie immer wieder und »Ick will nich so weit von zu Hause sterb’n, bitte.« Aber es half nichts, den Baron verfluchend folgten sie dem Verlauf der Regge flussaufwärts. Die Regenzeit hatte den Strom gut genährt: Bäume und Erde wurden von ihm mitgerissen und Richtung Meer getragen, das andere Ufer lag in weiter Ferne.
Es regnete aus Kübeln. Die Bauern und Jäger, Fischer, Müller, Köhler und anderen Flüchtlinge, die sie auf ihrem Weg trafen, warnten sie; einige schlossen sich ihnen an, andere zogen nach Flachau oder in andere Dörfer. Sepp machte sich Sorgen, denn mit jedem weiteren Flüchtling wurden sie langsamer und auffälliger und er fürchtete Diebe und sonstige Taugenichtse. Doch trotzdem geboten die Götter ihm, jeden in Not aufzunehmen.
Die Sonne ging gerade unter, als sie das Feuer sahen. Sepp brachte die ängstliche Menge dazu, still zu bleiben und führte sie zu einem kleinen Waldstück, wo sie den Brand abwarten wollten. Doch er konnte das unmöglich still mit ansehen, also suchte er sich zwei kräftige Männer, der starke Klaus und Ekardt — gute Männer, alle beide — und wollte sich auf den Weg zum Dorf machen; vielleicht könnten sie zumindest noch ein paar Menschen retten. Überraschend wollte auch Ernst mitkommen. Etwas in Sepp sträubte sich dagegen, doch er nickte und führte die Gruppe gen Osten, wo der Himmel brannte.
Singbostel, einst ein recht großer Ort mit einer starken Holzpalisade, vielleicht einhundert Bewohnern und einem Rittergut, um das Dorf herum Felder, Weiden und Obsthaine, war auf einen rauchenden Holzhaufen reduziert worden. Hier und da brannte und glühte es noch, Leichen lagen in den Straßen; Krähen und Geier kreisten über dem Ort. Sepp gebot Ekardt, Klaus und Ernst, sich aufzuteilen und nach Überlebenden zu suchen.
Sie fanden niemanden. Nichts als Leichen und brennenden Häusern. Sepp wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
»Na, wo passt das in den Plan deiner Götter, he?«, fragte Ernst, der sich unauffällig von hinten angenähert hatte. Sepp wusste nicht, was er sagen sollte, also liefen die beiden nur schweigend nebeneinander her. Bei jeder Leiche zuckte Sepp zusammen und suchte verzweifelt nach einem Lebenszeichen, wurde aber immer enttäuscht. Ernst hatte bereits aufgegeben und ging an den Toten vorbei, ohne sie zu beachten.
»Ich weiß es nicht«, sagte Sepp schließlich, Tränen in den Augen. »Und es ist schwer für mich zu glauben, dass es einen Sinn für all das hier gibt.«
Ernst sagte nichts.
Warum musste ich ihn nur mitnehmen?, fragte er sich und sagte: »Nur die Götter kennen den Grund für so viel Leid. Vielleicht war es eine Strafe. Unser Dorf hat überlebt, dieses nicht. Es muss eine Strafe für Singbostel gewesen sein. Etwas haben diese Menschen falsch gemacht.« Das ergab Sinn, es musste die Wahrheit sein.
»Für welchen Scheiß soll das ne angemess’ne Strafe sein?«, forderte er und kniete sich neben die Leiche eines Kindes, vielleicht sieben Jahre alt. Vorsichtig drehte er dessen Gesicht, sodass Sepp es sehen konnte. »Was soll’n der Lütte gemacht haben, dass er sone Strafe verdient, he?«
Eingefroren und wortlos stand Sepp da, dann kniete er neben dem Kind nieder, legte es sorgsam auf den Rücken, faltete die Hände auf dem Bauch und sprach: »Möge der Heilige Vater weise über dich richten.«
Der Schäfer schnaubte, stand auf und ging davon. Sepp blieb noch eine Weile mit geschlossenen Augen da und dachte nach, dann hörte er Klaus rufen: »Sepp! Wir ham wen gefunden!«
Den Göttern dankend sprang er auf, warf einen letzten Blick auf den Jungen und rannte zu den anderen, die sich um einen liegenden Greis versammelt hatten. Der Mann war noch am Leben, doch sein Bein war gebrochen, das sah man deutlich. Mit zitternden Lippen blickte er zu ihnen, stützte sich ab und richtete seinen Oberkörper auf, doch sagte kein Wort, verlor in den Armen alle Kraft und stürzte wieder zu Boden. Verzweifelt versuchte er, sich wieder aufzurappeln, schien etwas sagen zu wollen, doch seine Lippen zitterten nur und brachten kein Wort heraus. Sein Körper war dreckig vom Matsch der Straße, ein Teil seiner Kleidung verbrannt und sein Gesicht feucht von Tränen und Schweiß.
»Beruhig dich, guter Mann. Wir wollen dir nichts Böses, wir kommen, um zu helfen.«
Schweigen war die Antwort.
»Helft ihm auf, wir bringen ihn zu den Anderen«, bat Sepp und die Männer packten den Greis bei den Schultern.
Der Weg zurück dauerte lange, weil sie den stummen Mann stützen mussten. Im Lager herrschte Unruhe, man glaubte, Pferde gehört zu haben. Sorgsam blickte Sepp sich um — ein Angriff und sie wären verloren.
Da fluchte der Greis aus Singbostel plötzlich: »Scheißdreck!«, und das waren seine letzten Worte. Ein Pfeil ragte ihm aus dem Hals und er stürzte zu Boden.
Der Rest war ein Massaker. Als es vorbei war, hockte Sepp im Unterholz und konnte sich nicht entsinnen, wie er dort hingekommen war. In der Ferne ertönten Kriegshörner und die Reiter preschten davon, die grauen Fetzen, die sie als Banner trugen, wehten im Wind. Auf dem Boden lag Sepps Herde tot oder schreiend und blutend, halb tot kriechend, sich in den eigenen Eingeweiden windend, röchelnd, keuchend, nach Luft schnappend, hechelnd und heulend. Er übergab sich.
Aus dem Gebüsch kamen die gestürzt, die sich hatten verstecken können.
Sie entzündeten ein Lagerfeuer und verbrachten fast die ganze Nacht damit, die Verwundeten zu versorgen und die Toten zu segnen. Oma Hildegard und Opa Wilfried waren darunter, die gute Sanni und Monika. Bei ihr kniete Sepp am längsten. Auch Lana und Ulrych waren gestorben. Sie hatten vor drei Jahren geheiratet und Lana war gerade das erste Mal schwanger geworden; so sehr hatten die beiden sich gefreut. Nur Ekardt und Marla konnten sie retten, der Rest der Verletzten starb. Als die Sonne sich am Horizont zeigte, legte der Pastor sich erschöpft ins Gras, den Blick in den Himmel gerichtet und hatte keinen Gedanken für den Heiligen Vater übrig.
Einige Stunden später versammelten sich die wenigen Überlebenden neben den Gefallenen, wo Sepp mit einem brennenden Ast stand und gen Himmel blickte. Die Menschen starrten nur mit leerem Blick auf den Leichenberg. Ernst stand abseits, Ekardt auf einen Ast gestützt, Marla war nicht gekommen, doch ihre Heulkrämpfe waren zu hören. Monika war ihre Tochter gewesen.
Mit lauter Stimme begann Sepp zu sprechen: »Gute Menschen! Die Götter haben uns mit Zorn gestraft, wir haben es alle gespürt! Verluste haben wir gemacht, schwere Verluste. Warum machen die Götter so etwas? Warum, frage ich euch!« Er blickte zum Himmel, als würde er zum Heiligen Vater selbst rufen. »Ich habe lange selbst mit dieser Frage gehadert.« Kurz wartete er, dann fuhr er fort: »Jene, die uns hier angegriffen haben, sind die Männer des Nordens, die Heiden, die Ketzer, die Ungläubigen! Sie sind es, gegen die wir kämpfen, während die Götter jene Dämonen besiegen, an die sie glauben.«
»Aber fürchtet euch nicht«, durchbrach Sepp die Stille, die er wieder hatte aufkommen lassen. »Habt keine Angst, denn die Götter sind stärker. Sie haben schon jene Reiter von uns geschickt, die uns heute angriffen, sie haben euch alle, die ihr hier steht, verschont. Nun schaffen wir es unter dem Schutz der Götter alle bis nach Feldede, wo der gute Graf uns helfen wird. Die Götter sind mit uns, nichts kann ihre Macht aufhalten. Ein Hoch auf die Götter!«, beendete Sepp seine Rede. Niemand glaubte ihm, merkte er. Warum nicht?, fragte er sich, dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er sich selbst noch glauben konnte.
Stille. Sepp schaute zu den Leichen und wandte den Blick wieder ab, dann warf er den brennenden Stock fort und versuchte mit aller Kraft, die Tränen fortzuwischen. Ich muss ihr Anker sein, sagte er sich, sie dürfen das nicht sehen.
Er fing an, ein altes Kapellenlied zu singen, das von Hoffnung erzählte. Zurückhaltend fingen auch die Überlebenden an zu singen, sogar Ernst fiel mit ein.
Jetzt, hoffte Sepp, können sie uns nicht mehr im Stich lassen.
Bald sahen sie das nächste Dorf brennen, doch diesmal suchten sie nicht nach Überlebenden. Sepp wollte, doch sie hatten dafür weder Zeit noch Kraft. Widerwillig setzte er den Marsch nach Feldede fort.
Als sie das brennende Dorf schon eine ganze Weile hinter sich gelassen hatten, schloss der Schäfer zu ihm auf. Der Mann sagte nichts, sondern schaute nur betrübt zu Boden.
»Die Götter …«, begann der Pastor, beinahe aus Gewohnheit.
»Ach, fick doch deine verdammten Götter du Hornochse. Ick hatt’ Schafe die war’n nich so blöde wie du. Siehst’e nicht die Feuer um uns rum? Siehst’e nicht die ganze ‘dammte Welt brennen? Deine Götter gib’s nicht und Basta.«
Sepp schwieg.
Eine lange Zeit liefen sie über Stoppelfelder an einigen verlassenen Höfen vorbei, bis sie an eine Mühle kamen, die von drei Hütten und einer Scheune umgeben war.
Sie kamen über die Felder geritten, man sah ihre grauen Banner schon aus der Ferne. Sepp und seine Herde wollten fliehen, doch sie kamen nicht weit und auf den Stoppelfeldern gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Der Pastor drückte sich platt auf den Boden und schmeckte die Erde. Um ihn herum hörte er die Schreie der Sterbenden, die Schwerter und Pferde und die Stimmen der Angreifer, doch er war machtlos. Oh Götter, betete er, Mutter, Vater, helfet uns. Doch weder Mutter noch Vater eilten zur Hilfe.
Ein schwerer Körper fiel auf Sepp und presste ruckartig die Luft aus seinen Lungen. Er schmeckte Blut.
Stille. Sich entfernende Pferde, deren Hufe dumpf durch den Boden hallten. Er blickte auf: Die Mühle brannte, ein Balken krachte ein. Es stank nach Qualm.
Er fand nicht die Kraft, um aufzustehen, also blieb er liegen und schlief ein; die Leiche drückte noch immer auf ihn.
Heftige Schläge weckten ihn, er schlug um sich, wehrte sich, doch da war niemand. Nicht die Heiden schlugen auf ihn ein, sondern der Himmel selbst. Es hagelte.
Sepp schob die Leiche fort und stand auf — es war Ekardt gewesen, der da auf ihm gelegen hatte; seine Beine schrien und bebten vor Schmerz, doch er schleppte sich vorwärts.
Die Mühle war ausgebrannt, die Hütten und die Scheune nur Ruinen. Um ihn herum lagen Leichen. All jene, die noch heute Morgen mit ihm gepredigt hatten, all die guten, gläubigen Menschen, abgeschlachtet von Heiden. Warum?, fragte er sich.
Es hagelte noch immer. Wie wildgewordene Pferde trommelte der Himmel auf ihn ein. Es war ihm egal, so verdammt egal. Edel und gerecht sollte der Vater sein, sanft die Mutter. Er weinte. »Warum, Vater?«, fragte er den Himmel, »Warum, Mutter?«, fragte er die Erde.
Er sackte auf die Knie, stürzte mit dem Bauch auf den Boden. Die Getreidestoppeln stachen schmerzhaft, der Hagel schlug ihn. Er vergrub den Kopf im Matsch, der nach Blut schmeckte, und ließ den Hagel auf seinen Rücken einschlagen. Es schmerzte, doch der Schmerz tat gut. Er spürte die Wut des Vaters in diesem Hagel und wusste, dass es keine guten Götter geben konnte
Als der Hagel vorbei war, fand er die Leiche des Schäfers, doch er hatte weder die Zeit noch die Kraft für Trauer. Er setzte seinen Weg nach Feldede fort. Um sein Leben ging es ihm nicht, doch er wollte in der Kapelle mit den Göttern sprechen, er musste es versuchen. Und wenn sie nicht antworten würden, nicht einmal in ihrem eigenen Haus, dann würde er sein Leben beenden, denn welchen Sinn hatte es dann noch?
Alleine war der Weg schnell zurückgelegt. Bald schon kam er an die ersten Dörfer und Gehöfte, die sich um die kleine Stadt herum gebildet hatten. Auch hier war alles verlassen und die Felder geleert, doch nicht von den Heiden, vermutete er. Hier rüstete man sich für eine Belagerung.
Als er schließlich vor der Stadt stand, wurde es gerade Abend. Feldede war nicht sonderlich groß, doch es war von einer steinernen Mauer mit kräftigen Wehrtürmen geschützt. Die Stadttore waren geschlossen und gut bewacht, vor den Toren erneuerten Arbeiter den Burggraben und ein Teil der Mauer war mit einem Gerüst versehen. Auch dort schufteten Arbeiter, während von Thyrsen und Ochsen gezogene Wägen Material zu der Baustelle schafften. Das Sägen und Hämmern, die Schreie der Vorarbeiter und der wohlige Geruch von Erbseneintopf, der an die Arbeiter ausgegeben wurde, drang an ihn heran.
In der Stadt ertränke man in Flüchtlingen, für ihn sei hier kein Platz mehr, hörte Sepp von den beiden Wachen am Tor. Es waren Asen mit kupferner Haut, pechschwarzem Haar und violetten Augen, die nicht viel für Menschen übrig hatten. Erst als er ihnen seine Berufung nannte, ließen sie ihn passieren. Einem Pastor durfte niemand Unterkunft verwehren.
Drinnen stank es nach Vieh, Menschen und Urin. Sepp kannte den Gestank, er war in Sprinklingen in den Berglanden aufgewachsen. Und die Asenwachen hatten Recht gehabt: Hier war kein Platz mehr für ihn. Die Flüchtlinge füllten jede Gaststätte, schliefen im Matsch der Straßen oder klopften an Türen und baten um Unterkunft. Die Hurenhäuser, das Bankhaus, das Kontor des Eisernen Bundes, die Lagerhäuser im Hafen, nirgends war mehr Platz. Soldaten standen an jeder Ecke, meckerten und schrien Befehle.
Doch Sepp hatte ein Ziel: die Kapelle. Natürlich gewehrte der dortige Pastor seinem Berufsgenossen Unterschlupf, doch ein Bett fand sich für ihn nicht. Aber das brauchte er auch nicht. Morgen würde er zu den Göttern sprechen, doch heute musste er ruhen. Der Steinboden der Kapelle war hart und inmitten der anderen Menschen, die unaufhörlich husteten, schrien und weinten, konnte man kaum Ruhe finden, doch irgendwie gelang es ihm, einzuschlafen.
»Sie sind inna Stadt! RENNT!«
»Ruhe! Bitte! Bewahrt Ruhe!«
»Sie sind inna Stadt, sie bringen alle um!«
Der lang gezogene, grausige Schrei einer Frau.
»Sie töten alle! Was sollen wir tun, Pastor?«
»Die Götter schützen uns.«
Um Sepp herum rannten Menschen umher. Niemand schien zu wissen, wohin, doch jeder rannte irgendwo hin. Sepp war noch nicht einmal richtig wach geworden, da stampfte der Erste über ihn, dann der Zweite. Der Pastor rappelte sich auf und sah sich um. Flüchtlinge drängten sich aneinander, eine Mutter suchte ihr Kind.
»Sie sind da! Sie sind da!«
Das Tor der Kapelle bebte. Sepp drängte sich durch die Menschen hindurch zu einem der großen, farbigen Fenster und schaute hinaus.
Draußen war es Nacht, die Straßen von brennenden Häusern erhellt. Reiter galoppierten durch die Straßen, Fußsoldaten folgten. Sie ritten die Menschen der Stadt nieder, säten mit Schwert und Bogen Tod.
Eine Kavalkade kam aus der anderen Richtung, mit Eisenrüstungen und dem Wappen von Feldede. Die Reiter riefen etwas und galoppierten mit gesenkten Speeren auf die Angreifer hin, doch es dauerte kaum einen Augenblick, da waren die Verteidiger umzingelt und niedergemetzelt.
Und wieder wandten sich die Angreifer ihrer eigentlichen Aufgabe zu: dem Schlachten. Die Straßen der Stadt wurden zum Schlachthaus. Die Nordmänner lachten und brüllten. Was sind das für Monster?, fragte sich Sepp, Für Dämonen?
Die Glocken der Kapelle läuteten.
Und wieder bebte das Tor.
Oh ihr Götter, wo bleibt nun Eure Gnade? Sepps Hände zitterten, sein Herz schlug wild gegen die Brust, sein Kopf drehte sich. Das ist das Ende. Es gibt keine Götter, die mich beschützen. Der Schäfer hatte Recht.
Das Tor bebte. Die Glocken läuteten. Die Menschen schrien.
Auf der Straße kam ein Mann aus einem Haus gestürmt, rannte zu einem nahen Soldaten, der tot auf dem Boden lag, nahm sich dessen Schwert und rannte zurück in sein Haus. Einer der Heiden, der gerade kein Vieh zum Schlachten hatte, beobachtete ihn. Als der Mann wieder im Haus verschwunden war, versteckte der Nordmann sich rechts neben der Eingangstür.
Der Mann lugte hervor und schob ein kleines Mädchen an sich vorbei. Der Heide grinste. Es folgte ein Junge und dann eine Frau. Hinterher schlich der Mann selbst, wachsam um sich blickend, nur nicht hinter sich.
Dort stand der Schlachter. Und er lachte.
Und er lachte laut.
Sepp übergab sich.
Das Tor bebte, die Glocken läuteten.
Oh Ihr verfluchten Götter, wie sehr ich Euch hasse. Doch die Götter gab es nicht. Es konnte sie nicht geben. Diese ganze Zeit hatte der Schäfer recht gehabt. Sepp weinte.
Das Tor erbebte, die Glocken läuteten.
Er blickte sich in der kleinen Kapelle um, sah, wie die Menschen noch immer in Todesangst umherliefen, bahnte sich einen Weg durch die Menge nach hinten zum Altar, der mit Kerzen übersät war, nahm eine davon.
Eine Chance will ich euch noch geben, ihr Götter.
Tief holte er Luft und brüllte dann: »Die Götter sind auf unserer Seite! Das sind Heiden da draußen! Verdammte Heiden, sie können uns nichts. Macht den Weg frei für die Götter.«
Es dauerte, das Tor bebte, die Glocken läuteten, doch schließlich bildeten die Menschen einen Gang zwischen Tor und Altar. Sepp ging vor, stellte sich in die Mitte und hielt die Kerze vor sich. Plötzlich spürte er den warmen Atem des Vaters in seinem Blut.
Das Tor konnte sich nicht mehr in den Angeln halten. Splitter flogen in alle Richtungen, die Menschen schrien auf. Dann wurde es still. Sepp blickte in die Menge. War das Hoffnung in den Gesichtern?
Er hob die Kerze. »Ihr Gestalten der Dunkelheit! Weichet mir! Weichet den Göttern! Dem Vater und der Mutter!«
Niemand schoss. Stille.
Die Menschen schauten zwischen dem leeren Tor und Sepp hin und her.
»Die Götter siegen, oh Dämonen der Finsternis!«, schrie er. Es funktioniert, dachte er triumphierend und lächelte, es funktioniert tatsächlich. Er hob die Kerze höher.
»Oh ihr Dämo…«
Ein Pfeil steckte ihm in der Kehle. Er hörte das Lachen der Nordmänner, ihre Schritte, die Schreie der Menschen. Dann sah er den Boden auf sich zu fliegen.