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Die Gleise
Er schaute hinaus auf die Gleise.
Die Schienen, dachte, er, die Schienen sind wie wir. Sie laufen nebeneinander her, unzählige Stunden, endlose Kilometer, ohne sich je zu berühren. Wie ich und Margaret, wir leben ohne Nähe, aber auch ohne Distanz. Sogar zwei Betten hatten sie mittlerweile, obwohl sie noch im selben Zimmer schliefen.
Er war sich ihrer Anwesenheit bewusst. Wie sie da in ihrem Pyjamakleid, welches er nicht mochte, saß und ein Buch las. Einen Liebesroman, was für eine Ironie! Und sie bemerkte diese nicht einmal, bemerkte ihre aufdringliche Präsenz ebenso nicht wie seine Annäherungsversuche. Dabei hatte er sich wirklich Mühe gegeben. Hatte ihr Blumen gekauft und auf den Schrank im Wohnzimmer gestellt, doch sie war so vertieft in ihre Büche, dass sie diese noch nicht einmal bemerkte.
Aufgebracht zog er an seiner Zigarette.
Dabei hatte es so perfekt angefangen und ihr Kennenlernen auf der Hochzeit ihres Freundes Tom war traumhaft gewesen. Sie hatten stundenlang geredet und viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Es schien, als wäre ihr Treffen das Schicksal zweier Seelengefährten gewesen. Diese Faszination, die er ihr gegenüber verspürte, war nie ganz verschwunden. Auch wenn er sich nicht sicher war, ob es ihr umgekehrt genauso erging. Wann hatte sie ihn das letzte Mal angelächelt?
Er versuchte, eine positive Bilanz aus seinen letzten Ehejahren zu ziehen. Scheiterte. Es herrschte Funkstille. Schweigen, so laut wie das Rattern der Züge auf den Schienen. So ohrenbetäubend laut. Doch einen Scheidungsgrund sah er nicht, sie waren zu alt und außerdem mochte er sie ja immer noch. Und welche Ehe ist schon perfekt? Tom hatte sich mittlerweile schon wieder geschieden. Angeblich weil seine Frau sich zu stark verändert habe. Als ob das ein Grund wäre, sich scheiden zu lassen! Überflüssig zu sagen, dass er seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm hatte.
Doch plötzlich roch er es. Den Geruch von Tod und Verwesung. Langsam wurde der Geruch stärker, schlängelte sich aus der Kommode und stieg in seine Nase. Erstaunt erkannte er den Grund, den einzig möglichen Grund: seinen Wellensittich. Seine einzige Freude, sein einziges Glück. Wieso war ihm das fehlende Gezwitscher nicht schon eher aufgefallen? Sein Blick zuckte zu dem leeren Käfig, der förmlich nach Aufmerksamkeit schrie. Überall Federn, der Fressnapf war auch umgeworfen worden.
Langsam drehte er sich zu Margaret um. Erkannte die brutale eifersüchtige Wahrheit an ihrer entspannten Haltung, ihrem leicht lächelnden Gesichtsausdruck, der Position des Sessels, der die Schubladen der Kommode blockierte. Und fasste eine Entscheidung.
„Bist du nicht durstig, Margaret? Soll ich dir nicht etwas Wasser bringen?“ fragte er.
Gelöst lächelnd sah sie ihn an, ihre versteckte Genugtuung sprang ihm förmlich ins Gesicht. Wartete nur darauf, offen gezeigt werden zu dürfen.
„Danke, das ist sehr lieb von dir.“, antwortete sie.
Gerne brachte er ihr ein Glas. Lies die leere Kapsel achtlos auf dem Tisch liegen.
Beim Trinken bemerkte sie nichts.
Wie immer.