Die gleiche Strecke
Frank J. Meier, 41 Jahre lang bei der Deutschen Bahn gearbeitet, sein letzter Tag vor der Rente.
Abdul Merat, Flüchtling aus dem Irak, seit 3 Jahren Mitglied der Mafia.
Es war der 4. Mai. Ab morgen würde Frank fertig sein. Fertig mit Arbeit, fertig mit dem Teil des Lebens, der die meiste Zeit dauert, dem Erwachsen sein, der Zeit in der sich herauskristallisiert, ob der Mensch erfolgreich wird. Für Frank endete sein Leben. Er lebte alleine, er hatte nie geheiratet, ein uneheliches Kind, von dem er nur den Namen kannte, auf einer Reise im nahen Osten gezeugt, und nie wirklich Freunde gehabt.
Er stand wie jeden Morgen, um halb 5 auf, und machte sich auf dem Weg zum Bahnhof. Er ging immer zu Fuß, weil er es hasste mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Es sei denn, er hatte seinen Platz für sich. Er lief zu seinem Kiosk des Vertrauens, kaufte sich die neue „Bild“ und einen Kaffee. „Schwarz wie die Seele“, sagte er beim Bestellen. In gewisser Weise stimmte, diese zwanghaft humorvolle Aussage, die dem gegenüber (dem Kioskbesitzer) suggerieren sollte, dass das Gegenteil der Fall sei. Die Bild schrieb wieder über diesen Internet-Menschen, der gesagt hat, dass er uns, die Bahnmitarbeiter, ins KZ fährt. Volksverhetzung. Frank war es egal. Er machte sich auf dem Weg zu seinem Zug, machte es sich in seinem Stuhl gemütlich und fuhr die Strecke, die er immer fuhr.
Abdul war fertig. Sein beschissenes Leben, war lange genug beschissen. Unbekannte Eltern, hungern, stehlen...Dann die Flucht nach Deutschland, weil hier dann alles besser wird. Das gleiche dann wieder von vorne. Ohne Hungern, mit mehr Morden. Er hatte viele Schulden, zu viele, als dass er sie je bezahlen könnte. Es hatte keinen Sinn mehr. Ein Zugfahrer der Deutschen Bahn, der ihm panisch in die Augen guckte, war das letzte was er sehen wollte. „Abi nimmt mich zu sich.“ Er fuhr raus aus der Stadt, an eine Stelle, wo niemand nachschaut ob da jemand auf den Gleisen ist. Er parkte sein Auto und ging zu den Gleisen. Er breitete eine Decke aus, machte es sich so bequem wie möglich auf den Gleisen. Abdul setzte sich im Schneidersitz hin, schaute der Sonne beim Aufgehen zu. Die Sonnenstrahlen kletterten über die Bergkuppen, und griffen blitzschnell nach seiner Umgebung und ihm selbst. Er ließ sein Leben an sich vorbeiziehen, während er aufstand, sich seiner Waffe und Messer entledigte, und sich schlussendlich komplett entkleidete. Er setze sich wieder auf sein Sterbebett, und beobachtete weiter das Licht.
Frank wurde nun doch etwas sentimental. Als ihm bewusst wurde, dass er diese Strecke, seine Strecke, nie wieder fahren würde, liefen einzelne Tränen über sein Gesicht. Aus ihm sprach die Trauer, die er jahrelang zurückgehalten hatte. Frank fühlte sich so alleine wie nie zuvor.
Ein wenig Angst kam in Abdul auf, als er in weiter Ferne, das Geräusch eines Zuges hörte. Doch er beruhigte sich selber, und begann zu beten. Er überlegte kurz ob er die Augen schließen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Oft genug hatte er nicht hingesehen, wenn Menschen Qualen erlitten. Er hätte sich auch einfach erschießen können, aber das wollte er nicht. Er wollte nicht, dann man ihn nach seinem Tod erkennen konnte. Wenig später sah man den Zug. Abdul wurde sich bewusst, dass sein Leben höchstens noch 20-30 Sekunden dauern würde.
Frank sah ihn sofort. Den dreckigen Hurensohn der sich umbringen wollte und dabei das Leben von anderen Menschen mit zerstörte. Frank musste fast schon darüber lachen, dass ihm das noch an seinem letzten Arbeitstag passieren musste. Es waren nur noch wenige Meter. Frank blickte ihm mitten ins Gesicht. „Drecksasylant“ dachte er sich. Als Franks tonnenschwerer bester Freund den jungen Mann samt seinem schönem Bett mit sich nahm und Knochen und Fleisch zu einem einzigen Brei vermischte, merkte Frank, wie etwas in ihm zerbrach.
Der Zug brauchte noch ein ganzes Stück bis er zum Anhalten kam. Frank stieg aus, und ging alleine zurück zu dem Ort wo der Suizid stattfand. Auf dem Weg lief er an einzelnen Körperteilen vorbei.
Als er an der Stelle ankam, sah er nur noch die Fetzen der weißen Decke, und die Kleidung des Selbstmörders. Er suchte in der Jacke des Mannes, fand eine Pistole, 2 Messer und ein Portemonnaie.
Er öffnete das Portemonnaie und schaute nach, wen er da grade überfahren hatte. Er nahm die Information auf. Legte alles dahin, wo es vorher gewesen war. Ging 3-4 Schritte in Richtung seines Zuges und brach dann zusammen. Er kroch, unter Tränen und Wimmern, zurück zu dem Mann und nahm sich seine Pistole. Er schoss sich ohne ein weiteres Wort in den Kopf.