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Die Glasscheibe
Die junge „Nähe“ war traurig. Immer und immer wieder hatte sie versucht, ihrem Freund dem „Frieden“ näher zu kommen, aber immer und immer wieder prallte sie ab vor einer unsichtbaren Wand. So, als hätte jemand eine riesige Glaswand zwischen sie beide gestellt. Sie konnten sich sehen, anlächeln und sich durch einen klitzekleinen Spalt an den Händen berühren und sich ein Küsschen geben – aber mehr war nicht drin. Sehr, sehr schade, denn die „Nähe“ brauchte mehr. Sie brauchte nicht nur einen Teil des anderen, sondern den ganzen Teil. Sie wollte endlich wieder ihren Freund komplett umarmen und mit ihm eins werden, Herz an Herz, so wie früher.
Doch irgendetwas stand im Weg. Ach ja, diese dumme Glaswand. Wer zum Donnerwetter hatte die das bloß hingestellt. Früher war dieser Weg immer frei gewesen, aber jetzt. Man konnte sehr gut durchsehen und den anderen auf der anderen Seite erkennen. Aber das war schon fast alles. Zudem stellte die „Nähe“ fest, dass die Scheibe mittlerweile an einigen Stellen bereits milchige Flecken bekommen hatte, sodass das Gegenüber zwischendurch „fratzenähnliche“ Züge annahm. Natürlich war der Freund „Frieden“ keine Fratze. Er war außergewöhnlich gutaussehend´, liebevoll und immer hilfsbereit. Doch durch diese milchigen Flecken verlor er an Schönheit und bekam hässliche Stellen, so zumindest sah es die „Nähe“, wenn sie auf der anderen Seite stand.
Dem „Frieden“ auf der anderen Seite ging es übrigens genauso, auch er sah seine Freundin, die „Nähe“ durch die Scheibe hindurch mit hässlichen Flecken bedeckt. Doch trotz dieser Tatsache wollten beide zusammen sein. Immer wieder berührten sie sich an den Händen durch diesen kleinen Spalt. Doch immer wieder erschraken sie auch, wenn sie durch die milchige Scheibe sahen.
Die Jahre vergingen und die Glasscheibe wurde immer dicker und verblasste immer mehr. Es gab nur noch wenige Stellen, durch die man klar hindurchblicken konnte. „Nähe“ und „Frieden“ mussten sich manchmal ganz schön strecken, wenn sie ein klares Bild vom anderen bekommen wollten. Das machte beide sehr traurig und verzweifelt. Doch sie wussten sich keinen anderen Rat und ließen es willenlos geschehen.
„Warum macht ihr das?“ piepste es plötzlich vom Boden. Weinend schaute „Nähe“ nach unten. Dort saß eine kleine, freche Maus und beobachtete neugierig das Geschehen. „Wieso berührt ihr euch nur an den Händen und warum seid ihre beide so traurig?“
„Ach Maus“ die „Nähe“ seufzte, „was weißt du schon von Liebe. „Frieden“ und ich sind eigentlich ein Paar, aber plötzlich – fast über Nacht – stand da auf einmal diese Glaswand und lässt uns nicht mehr zueinanderkommen.
„Wer hat die denn da hingestellt?“ Die Maus stellte wirklich freche Fragen.
„Keine Ahnung Maus, wie gesagt, die war auf einmal da!“
„Glaub ich nicht!“
„Wie, glaubst du nicht?“
„Ich glaube nicht, dass die von ganz alleine dorthin gekommen ist. Aber letztendlich ist es auch völlig egal. Es spielt keine Rolle, denn es war gestern. Ihr beide braucht doch jetzt eine Lösung, wie ihr wieder dadurch kommt, oder nicht?“ Die Maus schaute „Nähe“ außergewöhnlich keck von unten an, so, als hätte sie etwas Wichtiges zu erzählen.
„Du bist schon frech Maus, das weißt du, oder?“
Die Maus nickte und grinste über ihr ganzes Mäusegesicht, sodass die feinen Barthaare wackelten. Ihre kleinen, dunklen Mäuseaugen blitzten vor Vergnügen und sie zappelte unruhig hin und her, denn sie wollte unbedingt das Geheimnis preisgeben.
„Hör mal“ sagte die „Nähe“, „du zappelst, als hättest du Flöhe. Was ist los mit dir?“
„Ich muss dir unbedingt etwas erzählen, ein Geheimnis!“ Die Maus flüsterte fast.
„So, so, ein Geheimnis. Hm, Geheimnisse heißen so, weil sie geheim bleiben sollen, oder ist dieses Geheimnis für mich bestimmt?“
„Jupp, genau für dich und „Friede“.“ Die Maus tanzte jetzt, drehte sich im Kreis und sang wirres Zeug.
„Du bist schon ein bisschen durchgeknallt, oder?“
„Jupp, stimmt.“ Sie drehte sich immer schneller.
„Sag mal, bist du besoffen?“
„Nee, ich trinke keinen Alkohol, Mäuse vertragen so ‘n Zeug nicht. Aber“ - sie machte ein Kunstpause um die Überraschung nicht zu vermasseln – „ich bin eine Geheimnisträgerin. Vor Jahren kam eine riesengroße, weise Katze zu mir. Erst hatte ich ja Angst, aber sie beruhigte mich und sagte, dass sie bereits gegessen hätte und ich mir keine Sorgen machen soll. Zuerst glaubte ich ihr nicht, doch ihre grünen Augen schauten unendlich liebevoll, sodass ich mir einen Ruck gab und sie fragte, was sie denn von mir wolle, wenn schon nicht fressen. Die Katze fand das sehr amüsant und lobte meinen Mut. Sie sagte zu mir, dass sie dabei ist, die Welt ein wenig friedvoller zu machen, dafür aber Helfer benötigte. Und dann machte sie mich zu einer Geheimnisträgerin. Zuerst kriegte ich mein Maul nicht zu und meine Zähne klapperten, aber dann spürte ich, dass die Katze es wirklich ernst meinte. Sie sagte mir, dass ich irgendwann jemanden treffen würde, der genau dieses Geheimnis hören müsste.
Auf die Frage, wer es denn sein würde, antwortete sie, dass ich es schon genau spüren würde, wenn es soweit ist.“
„Hm“, „Nähe“ wurde sehr nachdenklich. „Und du glaubst, dass es jetzt soweit ist? Wie lautet denn dein Geheimnis, das du schon so lange mit dir herumträgst?“
Die Maus stellte sich auf ihre Hinterbeine um etwas größer und würdevoller zu wirken und sagte mit theatralischer Stimme: „Das Geheimnis lautet: denke nicht an die Fehler von gestern, sondern vergib. Vergib deinem Gegenüber all seine Taten, befreie ihn von den Fesseln der Schuld, denn er wusste nicht, was er tat. Dann vergib dir selbst, denn auch du machtest in der Vergangenheit Fehler, weil du es nicht besser wusstest. Und dann – ja dann öffne dein Herz sperrangelweit. Du bist geliebt und wirst beschützt von den himmlischen Wesen. Öffne dein Herz und lass dein Gegenüber wieder zu dir herein, damit ihr miteinander verschmelzen könnt.“
„Nähe“ wurde sehr still und noch nachdenklicher. Erkannte sie doch, wie Recht die Maus hatte. Ja, es stimmte, trotz ihres Namens konnte sie keine „Nähe“ mehr zulassen. Sie hielt alles und jeden auf Abstand, aus Angst, wieder verletzt zu werden. Aber dieser Abstand war unerträglich. Sie fasste einen Entschluss: ich werde mein Leben ändern und meine Herzenstür wieder öffnen. Fehler passieren, aber sie können korrigiert werden. Ich gehe dieses Risiko ein.
Sie schaute auf den Boden und wollte der Maus danken, aber die war bereits verschwunden. Fröhlich und auch ein wenig aufgeregt, ging „Nähe“ zur Glasscheibe, hinter der ihr geliebter Freund, der „Frieden“ stand. Sie legte beide Hände auf das Glas und spürte plötzlich, wie das Glas nachgab und sie mit ihren Händen auf die andere Seite gelangte. „Frieden“ sah überrascht, dass das möglich war und legte seinerseits ebenfalls die Hände auf die Glasscheibe. Plötzlich berührten sich ihre Hände wieder. Das Glas wurde dünner, so, als würde es schmelzen. „Frieden“ strahlte. Er hielt immer noch die Hände seiner großen Liebe, der „Nähe“, und wollte sie nie wieder loslassen. Mit einem großen Knall zerbrach die Scheibe, die mittlerweile auf Millimeter zusammengeschrumpft war, und gab den Weg frei.
„Frieden“ zog „Nähe“ zu sich heran, sie umarmten und küssten sich und spürten zum ersten Mal wieder seit langer Zeit die tiefe Verbundenheit zwischen ihnen beiden. Sie erkannten, dass sie es selbst gewesen waren, die diese Glasscheibe hatten entstehen lassen. Mit jedem Fehler, den sie im anderen sahen, mit jeder Schuldzuweisung, war diese Scheibe immer dicker und undurchsichtiger geworden. Das würden sie in Zukunft ändern. Beide nahmen sich fest vor, ihrem EGO den Laufpass zu geben und sich nur noch für die Liebe entscheiden.