Die Gestalt im Nebel
Wenn man den Ort, den ich meine Heimat nenne, hinter sich lässt und der Straße einige Kilometer in Richtung Westen folgt, wird diese immer holpriger und die Vegetation umso üppiger; schließlich verliert sich die Straße in einem überwucherten Pfad, der von hohen Bäumen gesäumt wird, welche sich in ihren Wipfeln zu umarmen scheinen. Die Strahlen der Sonne dringen nur selten durch das dichte Blätterdach, sodass der elegische Schatten sich nur vereinzelt vom Lichte besiegt findet. Den Pfad durchquert, blickt man in das Antlitz eines uralten Waldes. Die knorrigen Bäume ragen schief aus dem von weichem Moos bedeckten Boden und sehen wie die hölzernen Abbilder von buckligen, knöchernen Menschen aus. Dann durchschreitet man den Schatten zwischen den Myriaden von Bäumen - denn das Blätterdach ist hier ebenso lückenlos - und findet sich schließlich bei einem stygischen Moor wieder.
Einst pflegte ich jeden Tag, sobald sich mir die Zeit bot, zu diesem Moor zu wandern und dort an einem Baum gelehnt, den Tag mit Träumereien zu verbringen. Nur in der mystischen Atmosphäre dieses Ortes konnten die phantastischen Welten meiner Imagination die Realität besiegen und dessen Platz einnehmen. Oft fragte ich mich, ob das Moor nicht selbst nur ein Produkt meiner Imagination war, denn nie sah ich ein anderes menschliches Wesen - nicht einmal die unübersehbaren Spuren der Zerstörung, die sie hinterlassen.
An einem Tag, der mich besonders erschöpft hatte, kam ich erst abends, jedoch mit größter Sehnsucht zum Moor. Welch wundersames Bild sich mir dort erbot! Es schien zwar die Sonne, doch alles war in seichten Nebelschleiern verhüllt. So sah es aus, als würden die Bäume nicht mehr aus dem Boden emporwachsen, sondern aus einem Meer aus Dunst. Gleichzeitig tauchte die untergehende Sonne alles in einen seraphischen Glanz, der die Bäume wie Säulen aus Licht aussehen ließ. Zwischen den Bäumen, dessen Wipfel langsam hin und her tanzten, obwohl ich nicht den Hauch eines Windes spürte, lag das Moor, still wie ein silberner Spiegel. Nicht das Singen eines Vogels, nicht das Zirpen einer Grille, auch nicht das Quaken einer Kröte, kein Geräusch durchbrach die endlose Stille.
Unbewusst musste ich eingeschlafen sein, denn als sich meine Augen öffneten, blickte ich in den dunkelblauen Sternenhimmel. Zunächst war mein Verstand von den Wolken der Verwirrung benebelt, doch diese lichteten sich bald, als ich mich erinnern konnte, wo ich war. Ich war froh über mein Einschlafen, denn ich war nie zuvor nachts beim Moor gewesen. Nun waren die latenten Träume und Begierden der Nacht Wirklichkeit.
Der Nebel hatte sich enorm verdichtet; im Licht des Vollmondes, der im Zenit über mir schwebte, konnte ich nur die Bäume in meiner unmittelbaren Umgebung erkennen. Die, die weiter entfernt standen, waren lediglich schwarze Andeutungen, die vage durch die Nebelwand schimmerten und mich an dürre Riesen, die mich regungslos umzingelten, erinnerten. Der Anblick war unheimlich, doch war er nicht der Grund für mein Unbehagen. In einiger Entfernung stand ein ungefähr zwei Meter hoher Baumstumpf, den, soweit ich es durch den Nebel erkennen konnte, kein einziger Ast und kein einziges Blatt zierten. Obwohl er mir direkt gegenüberstand, war er mir vorher nicht aufgefallen. Hätte ich dieses unnatürliche Gebilde nicht bemerken müssen, als es noch hell war?
Langsam brannte sich die grausige Erkenntnis in mein Gehirn, dass dieses Objekt nicht da war als ich einschlief. Als ich dies dachte, wurde meine schlimmste Vermutung bestätigt: Das Ding was dort vor mir stand hob seinen Kopf und schaute direkt in meine Richtung! Das Wesen war mit einer Art schwarzem Umhang bekleidet, der bis zum Boden reichte, doch konnte ich diesen nur an den Umrissen erkennen, denn die Gestalt war komplett schwarz; sie sah aus wie die Inkarnation eines Schattens. Niemals könnte ich die Angst, die ich empfand, während es bewegungslos vor mir stand und mich stumm beobachtete, beschreiben. Ich war erstarrt. Am liebsten wäre ich weggelaufen, doch mein Körper gehorchte mir nicht mehr und die Sinne drohten mir zu entgleiten. Ich erwartete, dass die Gestalt auf mich zugehen würde - an das was sie dann wohl tun würde, wagte ich nicht zu denken. Doch wie erstaunt war ich, als sie sich langsam umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung fortging, dem Herzen des Waldes entgegen.
Bald wich mein Entsetzen der Neugierde. Es erschien mir unmöglich, dass das Wesen ein Produkt der Realität war, doch mein Zweifel war nicht erstickt. Um mich zu vergewissern, ob meine Sinne mir etwas vortäuschten, beschloss ich meinem Besucher zu folgen. Widerwillig erhob ich mich und ging mit zögernden Schritten in die Richtung, in die auch die Gestalt gegangen war. Sie schlenderte langsam und elegant zwischen den Bäumen hindurch und drehte sich nicht zu mir um. Zeichen der Feindseligkeit konnte ich nicht erkennen, dennoch beunruhigte sie mich zutiefst. Ich fragte die Gestalt, wer sie sei und was sie wolle, jedoch schien sie keinerlei Notiz von mir zu nehmen.
Immer weiter und weiter führte mich der stumme Besucher in den Wald hinein. Das Unterholz wurde immer dichter und ich hatte beträchtliche Mühe meinen Weg zu folgen. Wie mein Führer so mühelos und zügig vorankam, war mir ein Rätsel. Bald bildete ich mir ein, dass er einfach das Gestrüpp durchschwebte, ganz so als sei er nicht stofflich. Zu diesem Zeitpunkt war ich überzeugt, dass es sich um eine Halluzination handelt, und war im Inbegriff umzukehren, doch dann erblickte ich eine Lichtung, die in einiger Entfernung vor mir lag.
Niemals zuvor war ich so weit in das Innere des Waldes vorgedrungen. Der Nebel hatte sich gelichtet, sodass der fahle Mondschein die baumlose Ebene vor mir in silbriges Licht tauchte. Überwucherte Ruinen von Grabsteinen ragten in blasphemischen Winkeln aus der Erde, so wie Leichenteile aus einem zu hastig geschaufelten Grab zu ragen pflegen. Die mysteriöse Gestalt (oder meine Halluzination - die Wahrheit bleibt wohl auf alle Zeit verborgen) stand nun regungslos neben einem größeren Grabmal in der Mitte des Friedhofes. Ich spürte vage Assoziationen in mir aufsteigen. Es waren die Dünste längst vergessener Erinnerungen, die aus der trüben Sphäre des Unterbewusstseins an die Oberfläche stiegen und sich dort in Luft auflösten. Ich wusste, dass ich nie zuvor an diesem Ort gewesen sein konnte, doch ich fühlte, dass dies nicht stimmte. Während ich mich dem Grab näherte, versuchte ich im Vorbeigehen die Inschriften der anderen Steine zu lesen, konnte jedoch nichts entziffern. Als ich meinen Blick wieder dem nächtlichen Besucher zuwenden wollte, musste ich verblüfft feststellen, dass dieser verschwunden war. Vergeblich suchten meine Augen die Umgebung ab, denn er war weg.
Allein, mit bebendem Herzen und düsterer Vorahnung stand ich nun vor dem Grabmal in der Mitte der Lichtung. Es war, ebenso wie die anderen, mit einer Schicht Moos und Gestrüpp bedeckt. Das entsetzliche Pochen meines Herzens wurde immer schneller und lauter, während ich die Pflanzen entfernte. Endlich konnte ich die Inschrift lesen! Eine monströse Flut aus Erinnerungen ließ meine Gedanken ertrinken und meinen Körper erlähmen, als ich dort im Mondlicht meinen eigenen Namen auf der rissigen Oberfläche des uralten Grabsteines las.
Verdammt, um auf ewig zu wandern; gefangen ohne jemals erlöst zu werden, durchschreitet meine Existenz die unendlichen Trancen, die sich einst Leben nannten.