- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
Die Geschichte zweier Tauben
In seiner linken Hand trug er einen Koffer, der nicht seiner war, während die andere Hand auf dem warmen, schwarzen Handlauf der Rolltreppe ruhte. Er stand neben ihr, sah sie an und sie lächelte aufmunternd zurück und so fuhren beide hinab zum Gleis, ohne ein Wort zu sagen. Kräftige Sonnenstrahlen brachen durch die schlierigen Scheiben der gewölbten Dachkonstruktion aus Stahl und tauchten die Bahngleishalle in ein warmes Licht. Helle Reflexionen glitzerten auf Metall und jeder Luftzug trug eine angenehme, wohlige Wärme mit sich. Hoch über dem Bahnsteig, auf dem die Menschen gingen und standen, thronten dicht nebeneinander zwei graue Tauben auf einem rostigen Stahlträger, scheinbar unbeeindruckt vom Treiben unter ihnen. Am Gleis angekommen, stellte er den Koffer neben sie und so standen sie dicht voreinander zwischen den Menschen, die sich unterhielten und lachten und sich eine gute Reise wünschten. Und die versprachen, sich bald wiederzusehen. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn.
„Ich mag es, wie du mich küsst“, sagte sie grinsend und während er ihre Hand hielt, wischte sie ihm mit der anderen die rote Farbe von den Lippen.
Er hatte sie vor kaum vier Monaten kennengelernt. Eine Freundin stellte beide einander vor und sie waren ins Gespräch gekommen – über Musik, Filme und über Pläne die sie hatten und was sie vom Leben erwarteten. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden und daraufhin viel Zeit miteinander verbracht. Sie hatten geredet und gelacht und diese Zeit genossen. Dann war eine Nacht genug gewesen, um zu zeigen, dass beiden die Freundschaft nicht ausgereiche. Eine Nacht, in der sie getrunken, getanzt, gesprochen und gefühlt hatten. Und so hatten die Getränke die Zungen gelockert, die Berührungen beim Tanzen die Sinne erregt, die gesprochenen Worte die Seele berührt und die aufgehende Sonne auf dem Heimweg das Gefühl bekräftigt, genau am richtigen Ort zu sein, mit genau der richtigen Person.
Das warme Licht und das metallische Glitzern verschwanden aus der Bahngleishalle, als sich graue Wolken am Himmel breit machten und das Spiel der Sonnenstrahlen unterbanden. Die zwei Tauben auf dem Stahlträger flatterten aufgeregt, als sähen sie ein herannahendes Unwetter voraus. Während die Menschen geschäftig an ihnen vorbeieilten, standen sich die beiden noch immer auf dem Bahnsteig gegenüber.
„Ich werde dich vermissen“, sagte er, obwohl ihm nicht danach zumute war, überhaupt irgendetwas zu sagen. Was er wirklich empfand, nämlich, dass er nicht wollte, dass sie ging, dass er wollte, dass sie bei ihm blieb, konnte er ihr nicht sagen. Es hätte auch nichts geändert. Und so küsste er sie, um sich in ihr und nicht in derartigen Gedanken zu verlieren und hielt ihre Hände, aus Angst, sie würde in den wartenden Zug steigen, sollte er sie jetzt loslassen.
Bereits als sie sich kennengelernt hatten, hatte sie ihm erzählt, dass sie plane, für ein Jahr ins Ausland zu gehen. Er war davon begeistert gewesen, von ihrem Mut, die Heimat, Freunde und Familie hinter sich zu lassen, wenn auch nur für eine bestimmte Zeit, und in ein kleines Abenteuer aufzubrechen. Doch umso näher die Abreise gerückt war, desto geringer wurde seine Begeisterung für ihr Vorhaben. Gesagt hatte er ihr das selbstverständlich nie. Sie hatten einfach immer weniger darüber gesprochen.
„Ich wünschte, du könntest mitkommen“, hatte sie manchmal zu ihm gesagt. Doch sie hatte gewusst, dass das nicht ging und er, dass sie das auch gar nicht wirklich wollte. Das war ihr Abenteuer, nicht seins.
Dicke Tropfen prasselten aus nun dunklen, schweren Wolken auf die dreckigen Scheiben des Daches der Bahngleishalle. Hoch oben auf dem rostigen Stahlträger begab sich eine der Tauben flügelschwingend in die Luft, um die Halle durch eine Öffnung knapp unterhalb eines gegenüberliegenden Trägers zu verlassen und die andere Taube allein an ihrem Platz zurückzulassen. Vom Regen überraschte Menschen strömten auf den Bahnsteig und verschwanden sogleich durch die Türen ins Innere des bereitstehenden Zuges. Sie nahm ihren Koffer, legte eine Hand in seinen Nacken und küsste ihn. Sie seufzte, als sie in seine Augen schaute, welche die Traurigkeit nicht verbergen konnten.
„Wir sehen uns bald wieder. Du kommst mich besuchen“, sagte sie, als wollte sie ihn trösten. Dass das nicht passieren und er sie nun an diesem Bahngleis das letzte Mal sehen würde, sie das letzte Mal küssen und das letzte Mal ihre Hand in seiner spüren würde, konnte er noch nicht wissen. Er ahnte es, er hatte dieses Gefühl des endgültigen Abschieds, aber wissen konnte er es damals noch nicht.
Später, als der Kontakt zu ihr langsam weniger wurde und dann abrupt abbrach, da sie nicht mal mehr auf seine Nachrichten antwortete, erst da wusste er es. Und er fragte sich danach oft, ob in dieser einen Nacht, in der sie tranken, tanzten und sprachen, nur er es war, der auch fühlte. Und nicht nur in dieser Nacht, auch an jedem Tag danach. Ob er nicht mehr gewesen war, als eine willkommene Ablenkung für eine zweifelnde Abenteurerin.
Eine verzerrte Stimme aus einem Lautsprecher kündigte die Abfahrt des Zuges an. Ihre Lippen lösten sich zögernd voneinander und er ließ ihre Hand aus seiner gleiten.
„Bis bald!“, rief sie, als sie sich halb in der geöffneten Tür des Zuges stehend noch einmal umdrehte und winkte.
„Mach’s gut“, sagte er leise. Der Zug verließ pünktlich den Bahnhof. Erst als der letzte Waggon außer Sicht war, ging er langsam in Richtung Rolltreppe. Seine rechte Hand ruhte auf dem nun kalten und feuchten Handlauf, als er sich noch einmal zum Gleis umdrehte und die einsame, graue Taube hoch oben auf ihrem rostigen Stahlträger erblickte, wie sie sich in ihrem aufgeplusterten Gefieder zurückzog und Schutz suchte.