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Die Geschichte von dem Polizisten, der sich an eine Wurst erinnert
Die Geschichte von dem Polizisten, der sich an eine Wurst erinnert
"Vor zwanzig Jahren", meinte der alte Mann, während er seine Arme auf den Tisch stützte, und sich nach vorne lehnte, so als ob er mir etwas streng Vertrauliches sagen wollte. "Vor zwanzig Jahren gab es einmal einen Versand, bei dem Ehepaare, die keine Kinder bekamen, Schimpansen bestellen konnten. Den Schimpansen zogen sie dann kleine Kleidchen mit Rüschen an und gaben ihnen Spielsachen. So, wie echten Kindern."
Der alte Mann zog seine Augenbrauen nach oben und lehnte sich noch näher zu mir.
"Das Ganze war natürlich verboten, aber lange Zeit flog es nicht auf. Weißt du, warum es schließlich aufflog?"
"Nein, warum flog es schließlich auf?"
"Es flog auf, weil eines dieser Ehepaare ihren Schimpansen bei einem Kindergarten anmelden wollte!"
Er lehnte sich zurück und lachte.
"Stell dir das doch mal vor! Ein Ehepaar will einen Schimpansen als ihr Kind bei einem Kindergarten anmelden! Harr! Das ist einfach zu komisch!"
"Na, das ist ja echt mal was!", meinte ich und erkünstelte ein Lächeln, während ich quasi-ungläubig den Kopf schüttelte. Der alte Mann schüttelte auch den Kopf, seufzte tief und blickte dann einen Moment leer auf die Tischplatte.
Schließlich hob er wieder seinen Kopf und fragte mich mit ernster Miene: "Sag mal, Ben, habe ich dir eigentlich schon einmal die Geschichte von dem Polizisten, der sich an eine Wurst erinnert, erzählt?"
"Kann mich nicht entsinnen, die Geschichte je gehört zu haben", antwortete ich und tat so, als wäre ich interessiert.
"Hehe", er grinste breit und genüsslich, holte seinen Tabak aus der Innentasche seiner gelben Regenjacke und begann sich eine neue Zigarette zu drehen. "Die Geschichte habe ich einmal in der Zeitung gelesen. Also echt. Zum Schießen, wirklich. Da bleibt kein Auge trocken."
"Hm", meinte ich während ich etwas abwesend aus dem Fenster starrte, ohne dem alten Mann wirklich zuzuhören. Auf dem Parkplatz vor unserem Café stiegen zwei Männer in Lederjacken aus einem Auto aus.
"Also in dieser Geschichte", setzte er wieder an. "In dieser Geschichte geht es um einen Polizisten, der sich bei einem Einsatz an eine Wurst erinnert. Er geht dann sogar drauf, deshalb!"
Er tat dazu so, als schneide er mit seinem Daumen seine Kehle durch.
"Hops, über den Jordan. Einfach so. Es trifft ihn wie der Blitz! Von einem Moment auf den nächsten."
Plötzlich zögerte der alte Mann, als ob ihm gerade etwas anderes eingefallen wäre.
"Da fällt mir gerade etwas anderes ein", meinte er. "Wo wir gerade beim Blitz wären: Vor längerer Zeit gab es einmal einen Blues-Gitarristen in Mississippi. Louis-Charles "Hot-Dog" (der alte Mann winkte mir, als er "Hot-Dog" sagte, mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände zu) Wilson. So hieß er. Eigentlich hieß er Louis-Charles "Blind-Dog" Wilson, und davor hieß er Louis-Charles "T-Dog" Wilson, aber seit seinem Tod wird er Louis-Charles "Hot-Dog" Wilson genannt."
Der alte Mann zündete sich seine Zigarette an, nahm einen kräftigen Zug und bekam prompt einen Hustenanfall. Unterdessen betraten die beiden Männer in Lederjacken das Café und setzten sich an einen Tisch.
Als der alte Mann sich wieder erholt hatte, meinte er: "Du fragst dich jetzt bestimmt, warum er nach seinem Tod einen neuen Namen bekam", und fuhr fort: "Also, das ist so: Als der alte Louis-Charles noch jung und noch nicht blind war, hatte er eine absolut bildhübsche Frau. Aber eines nasskalten Tages verließ seine Frau ihn für einen Barbesitzer aus Kansas City. Einfach so, fuhr sie in seinem weißen Pontiac mit und davon, und ließ den alten Louis-Charles im Regen stehen. Louis-Charles war danach ein veränderter Mann. Er legte sich mit vielen Leuten an, kam öfters in den Knast und verfiel ganz dem Alkohol. Schließlich wurde er davon blind, gab den Alkohol wieder auf und entdeckte noch einmal den Blues. Er schrieb ein Lied für seine verlorene Liebe und gab es, immer wenn es regnete, mit Verstärker und Mikrofon vor einem Herrenfrisörladen in Hattiesburg zum Besten."
Auf einmal bekam der alte Mann eine ernste Miene, und lehnte sich wieder nach vorne.
"Schließlich gelang es dem guten alten Louis-Charles, durch seinen Blues einiges an Bekanntheit zu erreichen, und er trat auch mehrmals im Radio auf. Eines Tages meinte einer der Leute vom Radio zu ihm: ‚Hey, Blind-Dog! Warum spielst du eigentlich noch auf diesem alten Ding‘, und zeigte auf Louis-Charles’ Gitarre. ‚Hol dir mal lieber eine neue, elektrische Gitarre.‘ Der Mann vom Radio gab ihm sogar das Geld dafür, und er kaufte sich eine nigelnagelneue Gibson ES-150."
Jetzt wurde die Miene des alten Mannes noch ernster.
"Am nächsten Tag regnete es und wie gewohnt stellte Louis-Charles "Blind-Dog" Wilson sich vor den gleichen Herrenfrisörladen um seinen Blues zu singen. Das ging auch eine Weile gut so, aber auf einmal fing der alte Louis Charles ganz stark zu wackeln an, bis er tot zusammensackte."
Der alte Mann grinste. "Und? Jetzt rate mal, was passiert ist."
"Er hat einen Stromschlag bekommen?"
"Haha! Genau so war es!", lachte er. "Und seitdem wird Louis-Charles nicht mehr "Blind-Dog" sondern "Hot-Dog" genannt! Ist das nicht irre?"
"Na sowas", ich tat ganz überrascht. "Das ist ja wirklich irre!"
"Aber jetzt fragst du dich sicher noch etwas anderes ..."
Ich überlegte ein wenig.
"Keine Ahnung. Was frage ich mich denn?"
"Na warum der alte Louis-Charles nicht schon vorher einen Stromschlag bekam, wenn er doch schon immer mit Verstärker und Mikrofon im Regen spielte."
Der alte Mann blickte mich fragend an. Ich starrte ihn auch fragend an, bis ich bemerkte, dass er wollte, dass ich ihm eine Frage stelle.
"Also warum bekam er keinen Stromschlag?", fragte ich ihn.
"Das waren eben noch wirklich alte Zeiten", meinte der alte Mann, "und im Süden gab es sogar in den Dreißigern oft noch keine Stromleitungen. Deshalb verwendeten viele Blues-Gitarristen im Delta noch diese ganz seltenen Gitarren einer Firma aus Biloxi. Die Spezialität dieser Firma waren Benzingitarren!"
Er brach in schallendes Gelächter aus. Ich drehte mich etwas verlegen um. Die beiden Männer in Lederjacke sahen zu unserem Tisch hinüber.
"Ach, ja", seufzte der alte Mann, nachdem er wieder einigermaßen zur Beruhigung gekommen war. "Das ist schon eine verrückte Welt, in der wir leben. Das sag ich dir. Aber wollte ich dir nicht noch etwas ganz anderes erzählen?"
"Die Geschichte von dem Polizisten, der sich an eine Wurst erinnert?"
"Ja, genau", meinte er, doch bevor er noch mit der Geschichte loslegen konnte, kam die Bedienung an unseren Tisch, und brachte uns unsere Sandwiches und Kaffee. Der alte Mann griff zum Heinz-Tomatenketchup, welches auf dem Tisch stand, und mühte sich ab, etwas von der roten Soße auf seinen Teller zu bekommen, indem er mit seiner Handfläche vehement auf die Unterseite der Flasche schlug (wobei ihm mehrmals ein "verdammtesstückscheißenochmal" zwischen den Zähnen hindurchzischte). Danach goss er fast den halben Zuckerbehälter in seinen Kaffee.
"Heiß wie die Hölle, und süß wie die Liebe. So muss er sein", sagte der alte Mann und nahm gleich darauf drei riesige Bisse aus seinem Sandwich. Dabei fasste er das Sandwich so kräftig an, dass die Tomatenscheiben und Essiggurken in zerquetschter Form auf dem Teller landeten. Während er kaute, dachte er über etwas nach und als er seine Bissen hinuntergewürgt hatte, begann er wieder zu sprechen: "Ich kenne übrigens noch eine Geschichte über Elektroschocks. Eine richtig schockierende Geschichte!"
Der alte Mann lachte wieder genüsslich, biss nochmals von seinem Sandwich ab und spülte es mit seinem Kaffee hinunter.
"Dem Neffen eines Bekannten ist diese Geschichte passiert, als er in seine neue Wohnung in Chicago zog. Er hatte gerade alles eingerichtet, da dachte er: ‚Geh ich doch mal die Toilette ausprobieren.‘ Stellt er sich also nichtsahnend vor die Kloschüssel und fängt an zu pissen. Und kaum hat sein Pissestrahl das Wasser erreicht, wird sein Unterleib von einem so gewaltigen Schlag getroffen, dass es ihn direkt umwirft und er sich die Hosen vollmacht."
Der alte Mann lehnte sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck wieder zurück und trank etwas Kaffe.
"Am nächsten Tag lässt er also den Klempner kommen. Dieser vermutet natürlich, dass irgendwo ein undichtes Kabel mit dem Rohr der Toilette Kontakt hatte und meint, dass er eigentlich einen Elektriker hätte rufen sollen, aber der Neffe meines Bekannten überredet ihn dann doch nachzusehen ob sich im Rohr etwas befindet. Der Klempner lässt dann so ein langes Kabel mit einem Greifarm am Ende in die Toilette, und stößt tatsächlich schon bald auf Widerstand. Er greift zu, und zieht das Kabel wieder aus dem Klo. Und jetzt rate einmal was sie am anderen Ende gefunden haben?"
"Keine Ahnung", sagte ich, nachdem ich einen Schluck Kaffee genommen hatte.
"Du wirst es kaum für möglich halten, aber am anderen Ende befand sich ein Zitteraal!"
"Also einer dieser Fische, die elektrische Spannungen absondern?", fragte ich.
"Ganz genau so ist es!", meinte der alte Mann, und überlegte dann anscheinend, wie er die Geschichte weiter erzählen sollte. Unterdessen stand ein Typ von einem anderen Tisch auf, und ging zu den Toiletten. Kurz darauf, folgten ihm die zwei Männer in den Lederjacken. "Seltsam ...", dachte ich, aber da fing der alte Mann auch schon wieder zu reden an: "Jetzt bleibt natürlich die Frage offen, wie kam der Zitteraal in das Rohr? Zitteraale leben ja eigentlich nur in südamerikanischen Süßwassern, also war es so gut wie unmöglich, dass er vom Michigan-See aus in das Rohr geschwommen war. Wahrscheinlicher war es, dass der vorherige Mieter sich den Aal als Haustier gehalten hatte, vor dem Umzug nicht mehr wusste, wie er ihn loswerden sollte und kurzum versuchte, ihn im Klo hinunterzuspülen. Der Neffe meines Bekannten entschloss sich also, der Sache auf den Grund zu gehen und rief den ausgezogenen Bewohner an. Jetzt kommt aber die Überraschung: Dieser war ganz froh darüber, dass der Aal gefunden wurde, und wollte ihn unbedingt wieder zurückhaben. Er erklärte dann auch, wie der Fisch überhaupt in die Toilette gekommen war. Eines Tages hatte der Vormieter eine Ratte in dem Klo verschwinden gesehen. Um die Ratte zu töten spülte er sofort mehrere Flaschen Chlorkalk in die Toilette, aber schon am nächsten Tag entdecke er, wie das lästige Nagetier erneut in die Kloschüssel kletterte und sich in die Tiefen des Rohrs flüchtete. In seiner Panik beschloss er dann kurzerhand seinen Zitteraal hinterher zu schicken, um die Ratte kalt zu machen. Anscheinend funktionierte das auch, nur war der Aal — auch nicht mit verlockenden Ködern — wieder aus der Toilette zu bekommen. Mit der Rattengefahr noch frisch im Gedächtnis und ohne eine brauchbare Toilette, beschloss der vorherige Mieter dann letztendlich auszuziehen."
Der alte Mann lachte wieder heftig und schüttelte seinen Kopf.
"Wahminns Ngehichte!", sagte ich mit vollem Mund, ein Stück Sandwich kauend.
"Ja, da siehst du mal, was man so alles zu hören bekommt, wenn man so alt wie ich wird."
Er streichelte seinen Bart und machte ein angestrengtes Gesicht, als ob er etwas hätte sagen wollen, ihm der Gedanke aber wieder entflogen war. Schließlich zuckte er mit den Schultern, aß sein letztes Stück Sandwich und trank seinen Kaffee aus.
"Irgendetwas wollte ich dir ja noch erzählen", meinte der alte Mann dann. "Aber egal. Ich muss jetzt ohnehin los. Ich erzähl es dir eben beim nächsten Mal, Ben."
Er stand auf und zog sich seinen Schal und seine Handschuhe an.
"Zahl du heute für mich. Ich hab gerade kein Geld bei mir."
Mit diesen Worten ging er, mir noch einmal zuzwinkernd, aus dem Café und ließ mich mit einem nagenden Gefühl der Unvollständigkeit zurück. Ich blickte ihm noch einmal aus dem Fenster nach, wie er, breitbeinig wie ein Matrose, den Parkplatz hinunter latschte und hinter der nächsten Kreuzung verschwand – so wie eine gute Idee in dem Moment, in dem man sie aufzuschreiben gedenkt.
Plötzlich schlug die Tür zu den Toiletten ruckartig auf, die beiden Männer in Lederjacken stolperten hinaus und rannten fluchtartig und ohne zu bezahlen an der Theke vorbei und aus dem Café. Draußen stiegen sie so schnell wie möglich in ihr Auto und fuhren quietschend davon.
"Was wollte mir der alte Mann eigentlich nochmal erzählen ...", überlegte ich, aber es fiel mir einfach nicht ein. Ich trank meinen letzten Schluck Kaffee und starrte noch eine Weile gedankenverloren auf die Sauerei auf seinem Teller. Im Café wurde es auf einmal ganz hektisch. Ich hörte wie jemand schrie. Türen schlugen auf und zu, die Bedienungen rannten hin und her, redeten wirres Zeug und die Köche kamen aus der Küche. Das alles ging mir unheimlich auf die Nerven, denn ich konnte mich überhaupt nicht mehr konzentrieren und an das erinnern, was mir der alte Mann hatte erzählen wollen. Eigentlich waren seine Geschichten gar nicht mal so interessant, aber das unangenehme Gefühl des Unwissens machte mich einfach bedrückt. Dinge nur ansatzweise zu wissen, ist meist schlimmer, als sie gar nicht zu wissen. Schließlich legte ich das Geld auf den Tisch und ging hinaus.
Vor dem Café stiegen gerade mehrere Polizisten mit Walkie-Talkies aus einem Streifenwagen und augenblicklich fiel mir wieder ein, was mir der alte Mann hatte erzählen wollen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht ging ich die Straße hinunter, und verschwand hinter der nächsten Kreuzung, nicht ahnend, dass ich ihn nie wieder treffen würde.