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Die Geschichte vom Riesentausendefüßler
Da war es wieder, dieses Geräusch, welches ich schon gestern Abend gehört hatte. Mir wurde unheimlich zumute und ich bekam eine Gänsehaut.
Es war ein warmer Sommerabend. Ich saß in unserer alten Holz-Gartenlaube, die auf dem Grundstück meiner Eltern ganz hinten am Ende des großen Gartens stand. Im Sommer durfte ich sogar manchmal auch nachts dort bleiben. Ich musste meinen Eltern nur versprechen, die Laubentür gut zu verschließen. Gerade machte ich es mir auf dem alten großen hellblauen Sessel gemütlich, lutschte saure Drops und blätterte in meinem Käptn-Blaubär-Heft als ich plötzlich wieder dieses Geräusch tripp, trapp, trippeltrapp, tripp, trapp, trippeltrapp hörte. Ich zuckte zusammen und ließ vor Schreck meine Dropsrolle fallen, die genau in die Richtung rollte, woher das Geräusch gekommen war. Da ich mich nicht traute, sie wieder aufzuheben, pfiff ich ein Lied und ging eilig in der Gartenlaube hin und her. Nach einer Weile lauschte ich, ob das Geräusch noch da wäre, aber es war verschwunden. Mein Comic war jetzt nicht mehr interessant und ich wollte auch nicht länger allein in der Laube bleiben.
Gerade nahm ich meine Tasche, da hörte ich wieder dieses tripp, trapp, trippeltrapp, tripp, trapp, trippeltrapp. Schnell schlug ich die Tür zur Laube zu und rannte durch den Garten zum Haus.
An diesem Abend konnte ich nicht einschlafen. Ich dachte immerzu an das merkwürdige Geräusch in der Laube. Vielleicht war es ein schreckliches Gespenst, welches kleine Kinder entführte oder es war ein böser Zauberer, der mich in ein Tier verwandeln wollte.
Meiner Mutter erzählte ich nichts davon, denn irgendwie schämte ich mich vor ihr. Ich war ja schließlich ein Junge von acht Jahren und ging schon in die dritte Klasse. Immer noch grübelte ich und grübelte. Nur im Märchen gibt es Ungeheuer und Gespenster, dachte ich. Also kann nur ein Tier das Geräusch gemacht haben. Aber was für ein Tier sollte das gewesen sein? Ich hatte kein Tier gesehen. Merkwürdig war auch, dass sich das Geräusch so angehört hatte, als ob viele Beine über den Boden liefen.
Als Feigling wollte ich vor meinen Eltern nicht dastehen. Deshalb nahm ich mir vor, die Sache selbst aufzuklären. Mit diesem Entschluss schlief ich ein.
Am nächsten Tag war ich sehr unaufmerksam in der Schule. Der Spuk in unserer Gartenlaube ließ mir keine Ruhe.
Kaum war die Schule beendet, lief ich in den Garten. Ich jätete Unkraut, goss die Pflanzen und harkte alle Wege. Dafür lobte mich mein Vater. In Wahrheit wartete ich auf die Dämmerung, denn ich wollte nun endlich herausfinden, was in unserer Gartenlaube vor sich ging.
Als es begann, dunkel zu werden, setzte ich mich auf den Sessel und tat so, als würde ich lesen. Ich wartete und wartete, aber nichts geschah.
Eingeschlafen sein musste ich wohl, denn durch ein Geräusch aufgeschreckt, sprang ich auf. Gleichzeitig erhielt ich einen Schlag auf den Kopf. Ein ohrenbetäubender Lärm setzte ein und ich stürzte ins Freie.
Ohne mich umzudrehen, rannte ich so schnell ich konnte ins Haus. Beinahe wäre ich hingefallen, aber meine Mutter fing mich gerade noch auf, als ich am Türeingang ankam. Sie schmunzelte und sagte "Was ist denn passiert? Du siehst aus, als wenn Du mit einem Bären gekämpft hättest?". Und wirklich, auf dem Kopf hatte ich eine Beule und im Gesicht mehrere Schrammen. Keuchend erzählte ich alles, was bisher in der Laube vorgefallen war.
Mein Vater kam dazu und anfangs schaute er meine Mutter ungläubig an, die mich nicht so recht verstanden hatte, denn in meiner Aufregung hatte ich alles durcheinander erzählt.
Dann aber sagte mein Vater: "Weißt Du, der Schlag auf Deinem Kopf und der Krach, das war unsere alte Gießkanne, die von der Wand heruntergefallen sein muss, und Du läufst davon als wären tausend Teufel hinter Dir her. Morgen Abend gehe ich mit Dir in den Garten. Wir werden mal sehen, was in unserer Laube umherspukt."
Am nächsten Abend saßen mein Vater und ich schon eine Weile lauschend in der Laube. Wir wollten schon wieder gehen, als wieder dieses geheimnisvolle tripp, trapp, trippeltrapp, tripp, trapp, trippeltrapp ertönte. Wir schauten in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Was war denn das? Wir erblickten eine Schlange von etwa 50 cm Länge. Sie hatte einen Kopf und vielleicht 20 bis 30 Beine. So etwas hatte ich noch nie gesehen. "War das vielleicht ein Reisentausendfüßler?", fragte ich ganz leise meinen Vater. Er gab keine Antwort, sondern zuckte nur erstaunt mit den Schultern. Dieser Riesentausendfüßler kam schon wieder. Sahen wir richtig oder irrten wir uns, weil es schon dunkel wurde? Der Riesentausendfüßler hatte zwei Schwänze! Vor Staunen blieb mein Mund offen. Mein Vater sprang auf, um den Riesentausendfüßler zu fangen. Aber vergeblich, er war spurlos verschwunden.
Vater war ziemlich ratlos, als ich ihn fragte, was das denn für ein Tier gewesen sei. "Weißt Du, morgen fragst Du am besten Frau Neumann, Deine Lehrerin, die muss es ja schließlich wissen".
Als ich mich am nächsten Tag meldete und Frau Neumann fragte, "Gibt es bei uns eigentlich Riesentausendfüßler, die so einen halben Meter lang sind?", lachten mich die anderen Schüler aus. Ich erzählte allen, was in den letzten Tagen in unserer Gartenlaube passiert war. Meine Klassenkameraden grinsten, weil sie mir nicht glaubten.
Frau Neumann jedoch sagte: "Ich kann mir schon denken, was es ist. Ich will es aber erst einmal selbst anschauen, dann berichte ich euch morgen darüber."
"Ach können Sie uns heute nicht schon erzählen, was es ist. Das ist so spannend", riefen einige Kinder. Aber Frau Neumann ließ sich nicht darauf ein. So blieb uns nichts anderes übrig, als auf den nächsten Tag zu warten.
Frau Neumann und ich warteten am Abend schon ungeduldig auf den Riesentausendfüßler. Und wirklich, bald war es wieder da dieses tripp, trapp, trippeltrapp, tripp, trapp, trippeltrapp.
Er war auch schon zu sehen. "Das habe ich mir doch gleich gedacht, das sind ja Gartenspitzmäuse", sagte Frau Neumann. "Guck doch mal, wie niedlich das aussieht. Vorn marschiert die Mäusemutter und dahinter die sechs Mäusekinder. Dabei bilden die kleinen Mäuschen Ketten, indem sie sich gegenseitig am Schwanz festbeißen, aber nicht am Ende, sondern am Anfang des Schwanzes, am Schwanzwurzelfell. Daher dachtest Du, es sei ein Riesentausendfüßler".
"Wie kommt es dann, dass ich einen Riesentausendfüßler mit zwei Schwänzen gesehen habe?", flüsterte ich.
"Manchmal kommt es vor, dass die Mäuschen Doppelketten bilden. Dann marschiert die Mäusemutter voran und die Mäusekinder in zwei Reihen hinterher, sich gegenseitig am Schwanz festbeißend. Das sieht natürlich so aus, als ob der Riesentausendfüßler zwei Schwänze hätte. Komm, wir gehen, wir wollen die Mäuschen in Ruhe lassen", sagte Frau Neumann leise.
In der folgenden Unterrichtsstunde berichtete Frau Neumann über unser Erlebnis mit den Gartenspitzmäusen. Meine Klassenkameraden staunten, dass es so etwas gibt und beneideten mich darum, dass ich diese Mäuseketten gesehen hatte.
Danach musste unsere Lehrerin viele Fragen beantworten.
"Warum halten sich die Gartenspitzmäuse gegenseitig am Schwanz fest?“, fragte Katrin. "Weil sie in den ersten Tagen nach ihrer Geburt sehr schlecht sehen können".
"Was fressen die Gartenspitzmäuse?", fragte Ines. "Sie fressen besonders gern Insekten". "Also dann sind sie meistens nützlich", entgegnete Ines. "Ja, das stimmt, das hast Du richtig erkannt", sagte Frau Neumann.
Ralf sprach: "Wir sprechen über alles mögliche, aber wie die Gartenspitzmaus aussieht, welche Farbe ihr Fell hat, das wissen wir noch nicht.". "Ihr Rücken ist braungrau und ihr Bauch sieht hellgrau oder gelblich aus".
"Wie viele Junge bekommt eine Mäusemutter?", wollte Elias wissen. "So fünf oder sechs, manchmal können es auch neun sein. Ihr könnt euch ja dann selbst vorstellen, wie lang solch ein Riesentausendfüßler sein würde." Meine Klassenkameraden lachten und auch ich musste laut lachen, aber weniger über unsere Lehrerin, sondern über mich. Ich war vielleicht ein Angsthase gewesen, dachte ich bei mir.