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Die Geschichte vom Mann in den Wolken
Wolken sind große, majestätische Gebilde und als Zeichen ihrer Würde haben sie einen besonderen Platz in der Welt. Sie allein bedecken den Himmel. Wie Berge ragen sie am Himmel empor, so unendlich weit weg und doch so nah, daß man manchmal glauben mag, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um eine von ihnen fassen zu können.
Der Mann in den Wolken war immer da gewesen. Als Kind schon hatte er in den Wolken gelebt. Er rutschte die Wolkenberge hinab in tiefe Wolkentäler, wanderte über und durch die verschiedensten Wolkenkontinente, fiel in Regenwolken und wurde naß und ließ sich von der Sonne wieder trocknen. Der Wind trieb seine Wolken durch die ganze Welt und die Wolken waren sein Zuhause.
Aber eines Tages saß der Mann in den Wolken da und wurde furchtbar traurig und er wußte nicht warum. Eine dicke Krokodilsträne rann über seine runden Wangen, plumpste auf seinen Kugelbauch und verlor sich im Nebel der Wolke unter ihm.
Es dauerte lange, bis der Mann in den Wolken merkte, was ihn so traurig machte. Er schaute nach oben, nach links und nach rechts und sah nichts, was ihn hätte so traurig machen können, denn da waren nur die Wolken. Aber da war auch nichts, was ihn im Augenblick hätte glücklich machen können. Der Mann in den Wolken merkte, daß er hier ganz alleine war und fühlte sich plötzlich schrecklich einsam.
In der Nacht saß er da und dachte nach, was er denn nun tun sollte. Also rief er laut.
Niemand antwortete. Dann schrie er den Mond an, er solle mit ihm reden. Der Mond blickte auf den Mann in den Wolken hinab und sprach kein Wort.
Der Mann schrie und schrie, bis ihm die Stimme vollends versagte. Der Mond antwortete nicht. Er wollte oder konnte nicht zum Mann in den Wolken sprechen.
Am Morgen rief er zur Sonne. Auch sie schwieg. Dann brüllte er sie an. Sie, die sie ihn doch nun so lange kannte, ihm Licht und Wärme gab, sie mußte doch wenigstens mit ihm sprechen! Aber er hörte keine Antwort. Nachdem er die Sonne angeschrien hatte, sank der Mann in sich zusammen und weinte bitterlich.
Dann hörte er ein leises Rufen, ganz hell und unendlich leise.
Der Mann hob den Kopf. „Hallo, du Mann in den Wolken.“ sang eine helle Stimme.
„Hallo!“ antwortete der Mann und zuckte zusammen, weil doch seine Stimme, obwohl er flüsterte, so unendlich laut war, verglichen mit der sanften Stimme, die zu ihm sprach.
„Wo bist du denn?“ fragte er und schaute sich um.
„Über dir.“
Er blickte nach oben, doch da war nur die Sonne.
„Tut mir leid, ich kann dich nicht sehen, denn die Sonne blendet mich so.“
„Ich bin die Sonne, mein Freund.“
Der Mann hob die Augenbrauen und staunte: „Du sprichst ja doch zu mir...?“
„Mann in den Wolken. Du mußt gut zuhören, wenn du auf eine Antwort wartest und darfst nicht immer nur schreien, denn dann überhörst du so viel.“
„Entschuldige bitte, liebe... Sonne?!“
„Ja, ich bin die Sonne und ich werde dir helfen. Du suchst jemanden? Einen Freund?“
„Ich bin allein. Ganz furchtbar schrecklich allein und...“
„Schau her, ich werde dir zeigen, wie du Freunde findest.“
Der Mann wartete auf ein Zeichen der Sonne, aber es passierte nichts.
„Sonne! Nun zeig mir bitte neue Freunde.“
„Ich zeige sie dir die ganze Zeit. Denk nach, Mann in den Wolken, was habe ich,
womit ich dir etwas zeigen kann...?“
Da fiel es dem Mann wie Schuppen von den Augen. Die Sonnenstrahlen! Er suchte sich einen Sonnenstrahl und folgte ihm, bis er zu dem Punkt kam, an dem der Sonnenstrahl in den Wolken verschwand. Da konnte er doch nicht auch verschwinden! Oder doch? Er nahm all seinen Mut zusammen und tauchte in die Wolken, so tief, wie er noch nie gewesen war. Aber da war doch nichts, das waren doch nur die Wolken. Und plötzlich fiel er fast aus der Wolke heraus, hielt sich gerade noch so am letzten Wolkenzipfel fest und blickte geradewegs in ein Meer von Farben, daß er noch nie gesehen hatte. Unten war alles... so bunt. Der Mann sah zum ersten Mal grüne Wiesen und Blumen, Bäume und Sträucher. Er schluckte. „Sonne, Sonne, was ist das denn?“
„Schau es dir an mein lieber. Auch das ist die Welt. Die Welt unter den Wolken.“
Der Mann staunte und guckte und guckte und staunte. Da war schon immer eine Welt voller Leben gewesen und er hatte sie einfach nicht gesehen. Er hatte sie übersehen.
Unten auf einer Wiese lief plötzlich ein Hirsch über eine Waldlichtung. Als er das sah, da bekam der Mann in den Wolken so große Angst, er würde gefressen werden, daß er schnell wieder durch die Wolken nach oben rannte. Er zitterte wie Espenlaub, saß einfach da und wartete bis es Nacht wurde. Plötzlich lachte da eine tiefe Stimme und einige helle Stimmchen stimmten in das Lachen ein.
„Na, mein Lieber. Du bist ja lustig. Erst möchtest du die Welt sehen und dann läufst du vor ihr davon. Hahahaha!“
Der Mond! Plötzlich sprach er und lachte den Mann in den Wolken aus.
„Ts ts ts. So was...“ machte ein kleines, dummes Sternchen.
Der Mann blickte mit großen Augen in den Himmel und wollte schon wieder weinen, als ihn plötzlich eine milde Brise umgab und sanft streichelte. Er hörte die Stimme der Sonne, obwohl er sie nicht sehen konnte.
„Hallo, mein Freund! Ich bin gerade auf der anderen Seite der Welt. Immer da, wo der Mond nicht ist. Laß ihn ruhig lachen. In Wirklichkeit ist er neidisch. Neidisch, weil
du etwas entdeckt hast. Weil du die Welt gefunden hast, die er nicht betreten kann, da er immer oben im Himmel sein muß. Hab keine Angst, denn niemand wird dir etwas tun da unten. Geh’ hin und bestaune die Welt, denn sie ist unendlich vielseitig und gewaltig spannend. Sie ist ein Wunder, an das man glauben kann, sie ist großartig und wer immer sie geschaffen hat, er muß ein Meister gewesen sein...“
Mit diesen Worten schlief der Mann in den Wolken ein. Und Morgen würde er allen Mut zusammennehmen und sich der Welt stellen.
Am folgenden Tag nahm der Mann all seinen Mut zusammen und ließ sich noch einmal langsam von den Wolken hinabgleiten, bis er auf der Erde ankam. Sanft setzte er auf dem Boden eines kleinen Wäldchens auf und schaute sich um.
Er bestaunte die Festigkeit des Bodens, die Bäume und Sträucher und den Geruch. Es roch überall. Das kannte der Mann aus den Wolken nicht. Es duftete überall anders und so stark. Er lief ein paar Schritte, bis er eine Stimme hörte.
Scheinbar sang da jemand ein Lied und er schaute sich an, woher diese Melodie kam. Unter ihm auf dem Boden schien der Ursprung der Melodie zu sein. Da war ein langes Etwas mit einem bunten Köpfchen.
„Hallo!“ sagte der Mann.
„Hallo!“ sagte das Etwas.
„Wer bist du denn?“ fragte der Mann.
„Ich bin eine Blume, das sieht man doch!“ piepste die Blume leicht verärgert.
„Entschuldige bitte, ich bin nicht von hier.“
„Uns gibt es aber überall!“
„Nicht da, wo ich herkomme.“ protestierte der Mann.
„Wo kommst Du denn überhaupt her?“ fragte Blume.
„Na von da oben, aus den Wolken.“
Die Blume lachte. Das konnte nicht sein, fand sie, denn in den Wolken gibt es niemanden, außer den Wolken selbst. Aber der Mann aus den Wolken beharrte so lange darauf, daß er aus den Wolken kam, bis sie ihm endlich glaubte.
„Magst du ein paar Schritte mit mir laufen?“ fragte der Mann die Blume.
„Ich kann nicht laufen.“ sagte die Blume.
„Soll ich dich tragen?“ fragte der Mann.
„Nein, ich kann hier überhaupt nicht weg, denn ich bin im Boden gewachsen. Ich bin hier Zuhause.“
Jetzt mußte der Mann über die Blumen nachdenken. Sie mußten scheinbar immer dort bleiben, wo sie waren, auch wenn sie dort nicht glücklich werden konnten. Der Mann aus den Wolken fand das sehr seltsam. So etwas kannte er nicht.
„Sag mal“, fragte die Blume, „wie heißt du denn eigentlich?“
Der Mann zuckte mit den Schultern: „Das weiß ich nicht, mir hat niemand einen Namen gegeben, denn ich wohne ganz alleine und da braucht man keinen Namen, weil niemand da ist, der einen beim Namen nennen könnte.“
„Ach so, na dann... werde ich dich ‘Mann aus den Wolken’ nennen.“
„In Ordnung. Sag‘, wie ist dein Name?“
„Wildrose!“
„Aha!“
Der Mann schaute sich die Blume genau an. Auch sie roch unglaublich gut. Er fragte, ob er sie anfassen dürfe; sie hatte nichts dagegen, im Gegenteil, denn Wildrose war stolz darauf, daß sie beim Mann in den Wolken so großes Aufsehen erregte. Er befühlte ihre zarten Blätter. Da mußte doch irgendwas drinnen sein. Es sah so aus, als wäre da etwas verborgen, aber er fand nichts.
Der Mann dachte sich, es mochte wohl die Schönheit der Blüte selbst sein, die das geheimnisvolle Äußere der Blume rechtfertigte.
„Wildrose, es tut mir leid, ich muß weiter, denn ich habe noch so viel anzusehen hier unter den Wolken.“
Wildrose fand, das sei in Ordnung und verabschiedete den Mann, der sich fröhlich pfeifend auf den Weg irgendwohin machte.
„Paß’ auf dich auf,“ sagte Wildrose „manchmal ist die Welt hier vielleicht gefährlicher, als in deinen Wolken!“
Der Mann wanderte so durch die Gegend, kam über einen Hügel und lief geradewegs auf ein Häuschen im Grünen zu. Vor dem Häuschen war ein kleiner Mann im weißen Kittel damit beschäftigt sich etwas zu betrachten. Das Männchen brummelte etwas in seinen weißen Bart und schüttelte den Kopf. Scheinbar bemerkte es den Mann aus den Wolken gar nicht. Erst als der Mann aus den Wolken sich räusperte und „Hallo! Guten Tag!“ sagte, blickte das beschäftigte Männchen auf und antwortete: „Hallo und guten Tag zurück!“
Dann drehte es sich wieder mit dem Rücken zum Mann aus den Wolken und beobachtete weiter.
„Entschuldige bitte“, fragte der Mann das Männchen „was machst du da?“
„Hmm? Wie bitte? Was?“
„Ich fragte dich, was du da machst?“
„Ich? Ach, ich untersuche diese Blumen. Ich bin ein Botanik Professor! Und du?“
„Dann bin ich auch ein Professor,“ stellte der Mann aus den Wolken fest, „denn
ich untersuche die Welt unter den Wolken.“
Plötzlich lachte der Botanik Professor.
„Hahahaha! Was soll das denn heißen? Die Welt unter den Wolken?“
Der Mann aus den Wolken erklärte, daß er die Welt erst kennengelernt hatte als er eben aus den Wolken kam. Erst wollte ihm der Professor das nicht glauben, aber schließlich zeigte ihm der Mann aus den Wolken, wie er in die Wolken hinauf gleiten konnte und der Professor glaubte ihm. Er wollte dieses „Phänomen“, wie er den Mann aus den Wolken nannte, untersuchen.
„Und wie willst du mich untersuchen?“ fragte der Mann aus den Wolken.
„Nun ja, wir werden einige Tests durchführen, dann muß ich mir dein Herz und deine Innere Beschaffenheit ansehen...“
„Ja, aber“, entgegnete der Mann, „dann mußt du mich doch auseinanderschneiden.“
„Naja, dafür ist das dann ein Fortschritt für die Wissenschaft. Wir können erkunden,
was an dir so besonders ist, Wolkenmann.“ meinte der Professor.
„Wenn du mich auseinanderschneidest, dann bin ich tot und nicht mehr ich selbst. Dann kann ich nichts besonderes mehr sein. Besonders ist man nicht, weil man anders aussieht im Innern, sondern weil man anders ist.
Das konnte der Professor überhaupt nicht verstehen. Der Mann aus den Wolken indes lief davon, denn sich auseinanderschneiden lassen, daß wollte er nicht. Lieber wollte er weiter die Welt erkunden.
Der Mann aus den Wolken erlebte an diesem und an vielen anderen Tagen noch vieles auf der Welt unter den Wolken und es dauerte lange, bis er sie verstehen konnte. Und immer wieder kam er zu Wildrose zurück und erzählte ihr von den Teilen der Welt, die Wildrose nicht kannte. Sie wurden beste Freunde, Wildrose und der Mann in den Wolken. Und immer wieder ging er zurück in die Wolken, die er so sehr vermißte, wenn er zu lange auf der Welt unten geblieben war. Denn oben in den Wolken konnte er näher bei der Sonne sein, oben in den Wolken war er Zuhause und wie schön die vielen Orte und Plätze der Welt unter den Wolken auch sein konnten, zuhause fühlte sich der Mann nur in den Wolken.
„Wo man daheim ist, da ist man schließlich daheim!“ fand auch Wildrose.