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Die Geschichte mit dem verlorenen Ende

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26.01.2018
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Die Geschichte mit dem verlorenen Ende

I
Der Schriftsteller

Der gelbe Vollmond strahlt sanft durch das Fenster und taucht das Zimmer in Inseln aus mattem Licht und Schatten. Es ist angenehm auf dem Bett zu liegen, in einem halbwachen Zustand zu verharren und die dunklen Gegenstände einzeln zu beobachten. Das Glimmen meiner Zigarette beruhigt mich zusätzlich. Ich mag es so dazuliegen und ihre Glut zu betrachten. Wenn man genau hinschaut, erkennt man die seltsamsten Dinge in ihr. Einen Totenkopf zum Beispiel, aber der ist meistens leicht zu erkennen. Komplexere Lebensformen sind schwerer auszumachen. Um beispielsweise einen Drachen oder einen Stier zu finden muss man sich schon etwas mehr anstrengen. Das braucht Übung. Ich nehme einen Zug von der Zigarette und gehe weiter meinen Gedanken nach.
Draußen in der Ferne höre ich einen Zug vorbeifahren. Es ist der letzte, der noch fährt. Vorige Woche kamen die ersten Flugzeuge und warfen ihre Bomben ab. Sie zerstörten einige Fabriken und den Großteil des Schienennetzes. Seitdem kommen sie fast jede Nacht und werfen ihre todbringende Fracht ab. Mit jedem Mal knallt es lauter und ich habe das Gefühl als kämen die Treffer immer näher. Wie eine dunkle Bedrohung umzingeln sie unser Haus und wollen meine Frau und mich holen, doch sie lassen uns zappeln wie Fische am Haken.
Zuerst hört man ihr Brummen in der Ferne. Ganz leise und doch bedrohlich. Mit jeder Minute wird es lauter, bis es schließlich fast unerträglich wird. Die Bomben erkennt man an dem durchdringenden, sirenenartigen Pfeifen. Immer schriller kommen sie näher, bis plötzlich, für einen kurzen Augenblick, Ruhe einkehrt. Der schlimmste Moment ist das Warten zwischen dem Kreischen der Bomben und der Vibration der Explosion. Dieses kurze Nichts, in dem man automatisch die Luft anhält und all seine Konzentration in das Gehör steckt, um zu erfahren, wie weit weg die Bombe einschlug und wo sie vielleicht getroffen hat. War es jemand, den man kennt? Der Bäcker, bei dem wir noch vor ein paar Wochen jeden Morgen frisches Brot gekauft haben, oder eines der vielen namen- und gesichtslosen Opfer, die die Geschichte hervorgebracht hat?
Ich arbeite im Moment an einem neuen Text. Ich denke, ich kann mit Recht behaupten meine bislang beste Geschichte auf Papier gebracht zu haben. Ein wenig romantischer als das, was ich normalerweise verfasste, aber nie zuvor schrieb ich etwas so Großartiges. Gestern notierte ich wie besessen das letzte Kapitel in mein Notizbuch, das mir plötzlich in den Kopf kam. Ich war dabei sehr inspiriert und wurde in einem Zug fertig. Ich war richtig stolz auf die knifflige Pointe, die der Hauptgeschichte ein wenig mehr Spannung und Reiz einbrachte. Völlig übermüdet beendete ich die Geschichte gegen Mitternacht, klappte das Notizbuch zu und fiel direkt ins Bett.
Als ich heute Morgen aufwachte, fielen mir einige Formulierungen ein, die ich verändern wollte. Ich schlug mein Notizbuch auf, suchte die Aufzeichnungen vom Vorabend, aber das Ende meiner Geschichte war verschwunden. Ich blätterte mehrmals alles durch, doch nirgends war sie zu finden. Ich schaute mir das Material näher an, doch es gab keine Anzeichen dafür, dass jemand sie herausgerissen hätte oder ähnliches. Die letzten Seiten des Buches waren weiß und unbeschrieben. Ich erinnerte mich jedoch genau an diese Geschichte, jedes Bild, jedes Detail war so real und das Gefühl, das ich beim Schreiben hatte, jetzt noch so klar vor mir. Ich war wie besessen. Die Wörter hallten in meinem Kopf und wie willenlos schrieb ich diese Geschichte auf.
Den ganzen Tag versuche ich nun schon herauszufinden was geschehen ist und habe das Zimmer seitdem nicht verlassen. Noch immer liege ich hier und gehe meinen Gedanken nach.
Habe ich vielleicht alles nur geträumt? Aber wie könnte ein Traum so real sein, die Gedanken so komplex, dass sie sich auf natürliche Weise im Traum zu einer Geschichte in der Geschichte formen sollten? Nein mit Sicherheit war es kein Traum, ich erinnere mich genau, dass ich am Arbeitstisch saß und schrieb. Mein Füllfederhalter liegt noch immer neben dem Notizbuch in der Art, wie ich ihn nur hinlege, wenn ich schreibe. Ich erinnere mich daran, dass meine Frau ins Zimmer kam, doch ich schickte sie wieder fort, um weiterarbeiten zu können. Ich erinnere mich, wie die Geschichte sich beim Schreiben entwickelte. Immer neue Details tauchten auf. Ich erinnere mich an das befriedigende Gefühl, dass ich empfand, als ich das Kapitel fertigstellte. Nein, es kann kein Traum gewesen sein. Wenn es ein Traum war, dann träume ich auch jetzt, denn es gibt zwischen gestern Abend und jetzt eine Kontinuität, die nur durch einen kurzen, traumlosen Schlaf unterbrochen werden konnte.
Ich nehme einen weiteren Zug von meiner Zigarette. Sanft stoße ich den Rauch aus meinen Mund und beobachte ihn sich im Halbdunkel auflösen. Ich höre ein Brummen, ganz leise, weit entfernt. Dieses kontinuierliche Brummen ohne Seele, der nächtliche Dämon. Mein Herz schlägt schneller. Ich höre genau hin. Plötzlich Stille. Habe ich mich geirrt? Ich gehe ans Fenster und öffne es. Der Mond lächelt mir entgegen. Was für eine herrliche Nacht denke ich, während mir tausende Sterne am Himmel entgegenfunkeln.
Das Brummen ist wieder da. Laut. Nah.
Ich knalle das Fenster zu und renne die Treppen hinunter zu meiner Frau.
„Schnell, in den Keller“, sage ich und nehme sie beim Arm. Zusammen rennen wir die Stufen hinunter. In der Eile habe ich vergessen eine Lampe mitzunehmen.
Das Brummen kommt immer näher.
Wir bewegen uns nicht.
Zusammengekauert sitzen wir auf einer Holzkiste.
Um uns herum ist Dunkelheit.
Kälte.
Ich bewundere sie. Mit einem durchschnittlichen Schriftsteller verheiratet zu sein ist nicht einfach. Ich konnte nie auf das Schreiben verzichten. Es war mein Leben. Hin und wieder fand sich ein Verleger, der meine Kurzgeschichten veröffentlichte, dennoch reichte es nie, um uns über die Runden zu bringen. Sie beklagte sich nicht. Stets ermunterte sie mich weiterzumachen, wenn ich bereits aufgegeben hatte und glaubte an mich.
Der Schrei der Sirenen, er beginnt, näher als zuvor.
Ihr schriller Ton nähert sich uns und wird immer lauter.
Unerträglich.
Ich wünschte, ich könnte ihr wunderschönes Gesicht noch einmal sehen.
Mir fällt die Streichholzschachtel in meiner Tasche ein, die ich immer zum Anzünden meiner Zigaretten benutze. Ich öffne sie und fühle zwei verbleibende Streichölzer. Ich nehme eines in meine zitternden Hände und zünde es an.
Nie zuvor wurde mir, wie in diesem Moment, bewusst was für ein wunderschönes Gesicht meine Frau hat. In dem Zwielicht des kleinen Feuers in meinen Händen strömen ihre Augen so viel Liebe und Zärtlichkeit aus.
Nur meinetwegen sind wir noch hier. Während all unsere Nachbarn schon vor Tagen umzogen, blieben wir zuhause. Nur hier, an meinem Arbeitstisch kann ich schreiben. Nur hier finde ich die Inspiration für meine Geschichten. Nirgendwo sonst auf der Welt bin ich dem Mond, der durch mein Zimmer scheint so verbunden, wie hier. Nirgendwo sonst klingt der Regen so wunderschön, wie wenn er an das Fenster vor meinem Arbeitstisch klopft und an ihm hinunterfließt. Die Tränen des Himmels.
Ich versprach ihr zu gehen, sobald ich mein Werk zu Ende gebracht hätte.
Nun sehe ich ihr in die tränenerfüllten Augen.
„Sie ist fertig. Die Geschichte ist endlich fertig. Gestern Abend habe ich ein Ende gefunden.“
Sie weint geräuschlos.
Die Flamme des Streichholzes erlischt.
Dunkelheit.
Die Sirenen sind da.
„Ich liebe dich“, sage ich zu ihr.
Sie küsst zitternd meine Hand, die ich um ihre Schultern gelegt hatte.
Ich denke an das letzte Kapitel meiner Geschichte.
Stille.


II
Die Geschichte des Jungen

Es war eine Mutprobe. Ich war erst vor Kurzem mit meiner Mutter in die Stadt gezogen. Mein Vater musste uns verlassen, als meine Mutter mit mir schwanger war. Sie zwangen ihn dazu. Das ist alles, was ich von ihm weiß. Niemand redete über ihn.
Seitdem war ich mit meiner Mutter und meiner kleineren Schwester allein. Mit dem Kriegsende gab es in unserem Dorf nicht mehr viel zu tun. Meine Mutter beschloss mit uns in die Stadt zu ziehen, da die Aussicht auf Arbeit dort besser sei, sagte sie. Ich hielt es für keine gute Idee, da ich hörte, dass die meisten Häuser von den Bombenangriffen zerstört wurden und die Menschen noch weniger zu essen haben sollten, als bei uns, aber meine Mutter hörte nicht auf mich. Ich denke sie wollte die alten Erinnerungen hinter sich lassen, die sie mit unserem Haus und meinem Vater verband. Also zogen wir in ein kleines Mietshaus in der Nähe des Bahnhofs.
Ich war zuvor noch nie in einer großen Stadt und alles wirkte einschüchternd auf mich. Während meine Schwester bei unserer Ankunft in kindlicher Naivität vor sich hin pfiff und vor Aufregung auf und ab hüpfte, lief ich mit gesenktem Kopf neben meiner Mutter her, die unseren einzigen verbliebenen Besitz, einen Koffer mit all unserer Kleidung, neben sich her trug.
Meine Mutter fand schnell eine Arbeit beim Bäcker und während ihrer Abwesenheit musste ich auf meine Schwester aufpassen.
Nach einem halben Jahr öffneten die Schulen wieder und ich kam in eine neue Klasse. Die Jungs kannten sich bereits seitdem sie klein waren und ich hatte einen schwierigen Stand bei ihnen. Als der Neue war ich häufig ihren Beschimpfungen ausgesetzt. Sie waren in meinem Alter, doch hatten ihre Gesichter etwas an sich, das mir sagte, dass sie bisher viel durchgemacht hatten. Mein Dorf wurde vom Kriegsgeschehen weitestgehend verschont. Wir hörten zwar die Nachrichten aus der Stadt, doch eine wirkliche Vorstellung von dem, was passierte hatte ich nicht. Nur einmal hörte ich die Flugzeuge. Es war nachts, als sie über unser Dorf flogen. Ich habe noch nie zuvor etwas so Bedrohliches gesehen. Ihre Motoren dröhnten mir in den Ohren und ihre schwarzen Silhouetten jagten mir Angst ein. Instinktiv zog ich meinen Kopf ein. Meine kleine Schwester, die auch mit mir draußen stand, nahm meine Hand und umklammerte sie fest. Ich beruhigte sie und sagte ihr, dass uns nichts passieren würde. Das war das einzige Erlebnis, das ich bis dahin vom Krieg hatte. Und die Jungs aus meiner Klasse mussten es mir anmerken. Sie waren rauer und gröber als ich und vor allem mutiger.
Eines Tages zwangen sie mich um kurz vor Mitternacht an der Schule zu erscheinen. Sie sagten es handele sich um eine Aufnahmeprüfung und falls ich nicht kommen sollte, würden sie mich am nächsten Tag verprügeln.
Ich hatte keine andere Wahl und schlich mich in der Nacht raus. Noch nie habe ich so etwas getan und musste mir unweigerlich vorstellen, wie meine Mutter in mein Zimmer tritt und das leere Bett auffindet. Halbtot vor Sorge würde sie da sitzen und weder ein noch aus wissen.
Ich kam an der Schule an und sah schon von weitem die Jungs aus meiner Klasse. In einem Halbkreis standen sie vor dem verschlossenem Tor der Schule. Hinter ihnen erhellte der Vollmond den Schulhof und ließ die Silhouette des Schulhauses und seine Geheimnisse im Dunkeln vor mir bedrohlich erscheinen. Sie bedeuteten mir ihnen zu folgen und ohne ein Wort gingen wir langsam, einer nach dem anderen, in den zerstörten Teil der Stadt auf dem Hügel hinter der Schule und blieben vor einem der zerbombten Häuser stehen. Sie sagten mir meine Probe bestünde darin, in dem Haus die Nacht zu verbringen. Diese Art von Mutprobe hätte bis jetzt jeder von ihnen bestanden und sei notwendig um ihnen zu zeigen, dass ich trotz meines zarten Gemütes würdig sei in ihrem Kreis aufgenommen zu werden. Sie sagten in diesem Haus, dass von den großen Bombern halb zerstört wurde, würden die Geister der Verstorbenen leben, die im Schlaf von der herabfallenden Decke getötet wurden und jede Nacht wieder auftauchten, um Rache zu nehmen.
Ich schaute auf das Nachbarhaus. Es wurde vollkommen zerstört. Ein einziger, riesiger Steinhaufen. Hier und da ragten einige Holzbretter heraus, wahrscheinlich alte Dachbalken oder Möbel. Eine Bombe musste es direkt getroffen haben. Ich hatte gehört, dass die Flugzeuge nachts kamen, wenn die meisten Leute schliefen. Ohne jede Vorwarnung wurden die Menschen überrascht. Keine Möglichkeit zur Flucht.
Das Haus in dem ich die Nacht verbringen sollte, war zur Hälfte eingefallen, die andere schien mir ebenso instabil. Der Gedanke, hineinzugehen und eventuell unter ihm begraben zu werden machte mir Angst. In die vordere Wand zur Straße waren große Löcher im Obergeschoss eingerissen, sodass man in die vielen Räume hineinschauen konnte.
Die Haustür allerdings hing noch in den Angeln und funktionierte einwandfrei. Einer der Jungs holte einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Er musste schon einmal da drinnen gewesen sein, denn woher sonst sollte er den Schlüssel haben? Dieser Gedanke beruhigte mich ein wenig.
Ich ging durch den dunklen Eingang hinein und hörte, wie er hinter mir die Tür wieder abschloss.
„Morgen früh holen wir dich wieder ab“, riefen sie mir hinterher und entfernten sich mit einem Lachen.
Nun war ich allein. Vor Anspannung hielt ich den Atem an und lauschte in das Haus hinein.
Über der Eingangstür fehlten einige Steine, durch die das Mondlicht den Bereich vor mir etwas erhellte.
Ich sah eine morsche Holztreppe, die in die Dunkelheit hinaufführte. Etwas erstaunt darüber, dass sie im Gegensatz zum Rest des Hauses einen verhältnismäßig guten Eindruck machte, stand ich so einige Minuten geräuschlos da und überlegte, was ich nun tun sollte. Ich dachte an meine Mutter und meine beiden Schwestern, wie sie friedlich in ihren Betten lagen und in ihren Träumen versunken nichts von meinem Leid erahnten.
Langsam fasste ich Mut und begann vorsichtig die Treppe hinaufzusteigen, die bei jedem Schritt bedenklich knarrte. Stufe für Stufe wurde es etwas dunkler, da ich mich weiter vom Licht über der Eingangstür entfernte.
Fast oben angekommen, erschreckte mich ein lautes Geräusch. Ich schaute nach unten. Das Knacken von Holz. Eine Stufe brach unter meinem Gewicht zusammen. Reflexartig streckte ich meine Arme aus und hielt mich an der oberen Stufe der Treppe fest. Ich bekam sie mit einer Hand zu fassen und zog die andere nach. So hing ich mit den Beinen in der Luft. Ich sah nach unten: Dunkelheit.
Ich versuchte mich nach oben zu ziehen, doch bei jedem Versuch gab das Holz etwas nach und dehnte sich gefährlich. Je mehr ich versuchte mich nach oben zu ziehen, desto mehr Kraft verließ meine Arme. Etwas zog mich nach dort unten, etwas Unsichtbares. Meine Muskeln fingen an zu brennen. Meine Finger verließ einem nach dem anderen die Spannung, bis mein Körper schließlich der Dunkelheit nachgab und fiel.
Es fühlte sich an als würde ich ewig fallen. Immer tiefer, immer schneller bewegte sich mein Körper. Schließlich landete ich auf einem Haufen aus Geröll und Staub, der meine Landung etwas abbremste. Ich blieb eine Weile reglos auf dem Rücken liegen und schaute in den schummrigen Lichtkegel über mir. Ich dachte daran, wie schön es wäre jetzt einfach einschlafen zu können und am nächsten Morgen wieder in meinem Bett aufzuwachen.
Von oben fiel etwas Licht herein und ich konnte allmählich einige Konturen um mich herum ausmachen. Ich rappelte mich hoch und verließ langsam den Haufen auf dem ich gelandet war.
Am Ende des Trümmerhügels sah ich etwas Helles auf dem Boden. Ich beugte mich vor und hob es auf. Eine Streichholzschachtel. Ich öffnete sie, nahm das letzte Streichholz in ihr heraus und zündete es an. Langsam erhellte es schemenhaft einen kleinen Bereich um mich herum.
Der Raum musste früher eine Art Vorratskeller gewesen sein. Überall waren Glasscherben und kaputte Kisten auf dem Boden verteilt. Allerdings war er halb mit Trümmern bedeckt und die Decke in Teilen eingefallen. Ich wollte gerade losgehen, als ich über etwas stolperte. Ich leuchtete nach unten und erkannte eine intakte Holzkiste, die plötzlich vor mir war. Es kam mir seltsam vor, dass ich sie eben nicht bemerkt hatte, obwohl sie nun so offensichtlich vor mir stand. Ich beugte mich zu ihr hinunter und sah, dass kein Schloss angebracht wurde. Um keine Zeit zu verlieren, schob ich den Riegel schnell beiseite und öffnete mit angehaltenem Atem den Deckel.
In ihr lag ein schwarzer Füllfederhalter, sowie ein mit Tinte gefülltes Fässchen und ein Ring. Im selben Moment knackte etwas hinter der Kiste. Vorsichtig schaute ich auf.
Bei dem Anblick, der sich mir bot, gefror das Blut in meinen Adern. Ein menschlicher Schädel lag auf dem Boden. Vor Schreck ließ ich das Streichholz fallen, doch glücklicherweise ging es dabei nicht aus. Als ich es wieder aufhob erkannte ich, dass zu dem Schädeln ein vollständig erhaltenes menschliches Skelett gehörte. Es wurde von einem, teilweise vermoderten, hellen Hemd und Anzug bedeckt.
Seltsamerweise lag es in Embryonalstellung auf dem Boden. Ich sah, dass sich etwas in seinen Händen befand. Es war ein Foto, scheinbar das Foto einer Frau, doch es war zu verblichen, um sie genauer zu erkennen. Seine andere Hand berührte das Foto mit einem Finger. Es sah aus, als wollte er ihr Gesicht streicheln.
Was hatte er hier unten gemacht? War er hier gestorben, als das Haus bombardiert wurde? Wohl eher kaum, denn dann müsste er unter dem Schutt begraben worden sein. Die Treppe nach oben! Sie muss verschüttet worden sein und er war hier unten gefangen. Eintausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wenn die Treppe verschüttet wurde, wie sollte ich dann hier raus kommen? Was würde passieren, wenn die anderen Jungs morgen kommen und mich nicht finden sollten? Was würde meine Mutter denken, wenn sie mich wecken kommt und nur mein leeres Bett vorfindet?
In diesem Moment kam von irgendwoher ein Windzug, der mich frösteln ließ. Das Streichholz flackerte kurz auf und ging aus. Völlige Dunkelheit umgab mich.
Ich hörte plötzlich Geräusche, die von oben kamen. In regelmäßigen Abständen gab es ein dumpfes Klopfen. Die Treppe! Jemand lief die Treppe hinauf. Regungslos hockte ich im Dunkeln über der Kiste und wagte nicht auch nur ein Geräusch zu machen. Zitternd hielt ich meinen Atem an, bis sich das Trampeln langsam entfernte.
Nachdem es wieder still wurde, versuchte ich mich zu beruhigen und einen klaren Kopf zu bekommen. Ich war gefangen in einem, wahrscheinlich verschütteten, Keller ohne Ausweg, mit einem menschlichen Skelett und keinerlei Orientierung. Ich erinnerte mich, dass die Treppe von der ich fiel etwa drei Meter entfernt sein musste. Hinter den Knochen auf dem Boden sah ich vorher im Schein des Streichholzes eine Menge Schutt und, wie ich annahm, wahrscheinlich eine Mauer. Rechts von mir war ebenfalls eine Mauer, die ich ertasten konnte, wenn ich den Arm ausstreckte.
Wie weit es nach links ging konnte ich nur schwer sagen, aber es schien mir die einzige Möglichkeit, da ich um alles in der Welt vermeiden wollte im Dunkeln auf das Skelett zu treten.
Ich wolle mich gerade in Bewegung setzen, da fielen mir die Sachen in der Kiste wieder ein. Ich erfühlte den Ring und nahm ihn in die Hand. Eine eigenartige Wärme ging von ihm aus. Zusammen mit Füllfederhalter und Tintenfass steckte ihn schnell in meine Jackentasche.
Auf dem Boden hockend tastete ich mich kriechend vorwärts in Richtung des mir unbekannten Dunkel. Alle paar Meter traf ich auf kleine Steine und Schutt, der mir in die Hände schnitt und meine Knie aufscheuerte. So kroch ich immer weiter und weiter, ohne irgendwo anzukommen. Es kam mir bereits vor wie eine Ewigkeit. Ich kroch und kroch und doch fühlte es sich so an, als würde ich mich nicht fortbewegen. Im immer gleichen Abstand wechselten kleine, kantige Steine, Schutt und kalter Lehmboden sich ab. Geraume Zeit bewegte ich mich durch diese Einöde, ohne Abwechslung. Bis mich langsam Panik überkam. Wie lange war ich nun schon so unterwegs? Eine Stunde, zwei? Wie groß konnte ein Keller sein, dass man ihn solange durchqueren kann? Wurde ich verrückt? Ich musste dort raus!
Schweiß trat kalt aus meinen Poren und mein Puls hämmerte in meinen Schläfen. Irgendetwas stimmte nicht. Ich hielt an und griff mit einer Hand an meinen Hinterkopf. Ich spürte, wie eine warme, zähflüssige Masse meine Haare verklebte. Ich leckte an meinem Finger. Blut. Dieser typische eisenhaltige Geschmack von Blut. Mir wurde schwindelig. Alle Kraft meinen Körper verlassend, sank ich zu Boden.

Langsam öffnete ich meine Augen. Der helle Vollmond schien mir sanft auf das Gesicht, während ich auf dem Boden lag. Mein Körper fühlte sich an wie ein Stein. Eine ungewisse Schwere hielt ihn fest am Boden. Mein Hinterkopf tat weh, als würde jemand mit einer Nadel immer wieder leicht hineinstechen. Es kostete mich einige Kraft, doch ich rappelte mich langsam hoch.
Über mir waren zwei schräge Dachfenster zu erkennen. Überall lagen Reste von Büchern und einzelne, herausgerissene Seiten herum. Einige Regale waren umgefallen. Über allem lag eine dicke Schicht Staub. Das Dach war an mehreren Stellen kaputt. Auf der einen Seite des Raumes stand eine Couch, an der gegenüberliegenden ein alter Schreibtisch, der vor einem riesigen Loch in der Wand stand, durch das man hinunter auf die Straße schauen konnte stand. Ich musste im Obergeschoss des Hauses sein. Unten erkannte ich den Weg wieder, durch den die Jungs mich hier hergebracht hatten, der nun vom Vollmondlicht erhellt wurde. Alles wirkte so ruhig und friedlich. Nicht ein Laut war zu hören. Ich dachte an meine Mutter und meine Schwester, wie sie jetzt zuhause friedlich in ihren Betten lagen und schliefen.
Der Tisch wirkte erstaunlich neu und sauber im Vergleich zu dem Chaos im Rest des Raumes. Außer ein paar Glasscherben darunter waren keinerlei Spuren von Verwüstung an ihm auszumachen. Nichteinmal Staub konnte ich sehen. Früher musste dort, wo jetzt das Loch klaffte ein Fenster gewesen sein. Ich erkannte die Überreste eines Fensterrahmens.
Ich wollte wieder in Richtung Flur gehen, als ich ein Geräusch hörte. Es klang so als würde jemand ein Streichholz anzünden. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Instinktiv hockte ich mich hinter eines der umgefallenen Bücherregale und blieb wie angewurzelt am Boden. Durch einen Spalt konnte ich sehen.
Jemand lag auf der Couch, ein Mann. Er zündete sich eine Zigarette an. Er trug einen dunklen Anzug und Lederschuhe. Seine langen Haare waren offen. Die Glut der Zigarette erhellte das Gesicht. Seine weichen Züge waren bedeckt von einem Dreitagebart. Konzentriert zog er an seiner Zigarette und schaute durch das Dachfenster auf den Mond.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Seine gesamte Erscheinung hatte etwas Seltsames an sich. Vorsichtig schlich ich mich zu einem Loch in der Wand, wo ich mich in ein einen Hohlraum zwängte, um ihn besser beobachten zu können.
Wie ein Blitz durchfuhr es meinen Körper. Mein Atem stockte bei dem Anblick.
Sein gesamter Körper war fast komplett durchsichtig. Eine bläulich-schimmernde Masse, an eine zähe Flüssigkeit erinnernd. Die Haut sah aus wie eine dicke, dunkelblaue Membran. Wellenförmige, nebelhafte Schwingungen bewegten sich langsam in seinem Organismus hin und her. Sie schienen von einigen, verschiedenen weißlichen Punkten auszugehen und zwischen ihnen hin- und herzuwandern. Unter seiner durchsichtigen Gestalt konnte man deutlich den Schutt auf dem Sofa erkennen. Ich unterdrückte den Drang zu schreien und hielt mir die Hand vor den Mund. Mein Körper war so sehr unter Anspannung, dass ich mir dabei in die Finger biss. Ich merkte, wie langsam warmes Blut meine Hand hinunterlief und auf meine Hose tropfte, doch blieb ich regungslos in meinem Loch hocken, den Blick starr auf das gerichtet, was ich vor mir sah.
Im Haus war es totenstill. Einzig das regelmäßige Aufglühen der Zigarette war zu hören.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Was, wenn er mich bemerken würde? An Flucht war jedoch nicht zu denken. In meinem Loch ging es nicht vorwärts und verlassen wollte ich es auch nicht. Ich verfluchte die Jungs aus meiner Klasse und mich selbst, dass ich so dumm war mich auf ihre Mutprobe einzulassen.
In weiter Ferne hörte ich einen Zug. Es musste der Mitternachtszug sein, den ich nachts von meinem Zimmer aus hören konnte. Jede Nacht begleitete er mich. Stundenlang lag ich wach und wartete. In Gedanken bereitete ich mir passende Geschichten zurecht. Ich stellte mir vor wer seine Fahrgäste wären, wohin sie reisten und wie sie aussahen. Jede Nacht dachte ich mir eine andere Person aus: der Liebende, dessen Herz gebrochen, sich nach der Weite der Wüste sehnt, reiche Dame, die ihre Verwandten in England besucht, der abenteuerlustige junge Mann, der sein Glück in Indien wagt...
Ich malte mir alle Stationen ihrer Reise aus. Überfälle, gefährlich knarrende Brücken, Stürme, Banditen. Ich dachte an Menschen, die sie begleiteten, überlegte mir sogar einzelne Gespräche mit Reisenden, die sie unterwegs trafen. So glitt ich, Nacht für Nacht, nahtlos von der Welt meiner Fantasie in die Welt meiner Träume hinüber.
Als der Mann aufgeraucht hatte, drückte er die Zigarette an einem Stein aus, den er vom Boden aufhob. Er stand auf und seine nebelhafte Erscheinung lief im Zimmer hin und her. Er schien über irgendetwas nachzudenken. Plötzlich ging er zu dem Arbeitstisch und öffnete eine kleine Schublade. Er holte ein ledernes Buch hervor und blätterte einige Minuten darin.
Wie er so dastand, das Gesicht vom Mond beschienen und konzentriert in sein Buch vertieft konnte ich ihn besser erkennen. Er hatte sehr sanfte Gesichtszüge, einen Dreitagebart und eine kleine, etwa vier Zentimeter lange, fast nicht auszumachende Narbe bedeckte seine linke Wange, die ich nun als kleiner Schatten erkennen konnte. Seine Augen sahen müde aus. Ein leichtes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Wie ich ihn so betrachtete, spürte ich eine seltsame Verbindung zwischen mir und diesem Wesen. Unter seinem Gesicht waren die wellenartigen Schwingungen deutlich erkennbar. Es schien als würden sie sich schneller bewegen, je stärker er sich konzentrierte. Vibrationsartig strömten sie durch die blaue Masse seines Körpers hin und her. Offenbar ohne Ziel. Er wirkte sehr aufgeregt. Je mehr er im Buch blätterte, desto schneller wurden sie. Während sie anfangs noch in scheinbar geordneten Bahnen schwammen, wurden sie jetzt immer unkontrollierter. Wirr vibrierten sie aufeinander zu und stießen sich voneinander ab, fast als würden sie versuchen miteinander zu kämpfen. Je mehr ich mich auf sie konzentrierte, desto mehr fühlte ich mich gefangen in ihnen. Ich war nicht mehr in der Lage wegzusehen. Wie sehr ich es auch versuchte, es ging nicht. Wie hypnotisiert gehorchten meine Augen nicht mehr meinem Willen. Sie zwangen mich meinen Blick auf sie zu richten, auf ihr Innerstes. Mit einem Mal konnte ich sie hören. Ihre Vibrationen durchdrangen mein Ohr. Ein tiefes, gleichmäßiges Brummen, unterbrochen von kurzen Momenten der Stille. Ein Brummen wie die Schwingungen der Erde selbst. Es drang durch mich hindurch. Mir wurde schwindelig und mein Körper schwankte. Immer tiefer drangen sie in mich hinein. Ihr Brummen wurde lauter. Immer schneller. Unerträglich. Mein Schädel dröhnte. Ich legte meine Hände um meinen Kopf. Alles wankte. Stechende Schmerzen, plötzliche Stille.
Er sah mich an.
Die Wellen waren wieder ruhig, wie vorher. Starr vor Schreck war ich immernoch unfähig mich zu bewegen und kauerte in meinem Loch in der Wand.
Sein Blick war direkt auf mich gerichtet. In seinen Augen lag eine tiefe Traurigkeit. Er kam mir seltsam vertraut vor. Ich weiß nicht wie lange wir uns so ansahen, doch es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Während all dieser Zeit dachte ich an nichts. Meine Gedanken waren gefüllt mit absoluter Leere. Nie zuvor hatte ich einen solchen Frieden empfunden.
Mit einem Mal ließ er das Buch fallen und rannte weg. Erst jetzt fiel mir sein starkes Humpeln auf. Sein rechtes Bein war steif, wodurch ihm das Rennen schwer fallen musste. Er lief durch die Tür, aus dem Raum, in den Flur und ich hörte ihn die Treppe hinunterrennen. Es wirkte fast so als würde er vor irgendetwas fliehen. Er musste in den Keller gerannt sein.
Nachdem er weg war, wartete ich noch eine Weile und kroch schließlich aus meinem Loch.
Ich ging zum Arbeitstisch und wollte das Buch vom Boden aufnehmen, doch hielt ich vor Schreck inne. Auf dem Buch lag eine dicke Schicht Staub. Es sah so aus, als wäre es schon seit Monaten nicht mehr berührt worden. Wie konnte das sein?
Ich nahm das Buch, setzte mich an den Schreibtisch und begann darin zu blättern. Es schien eine Art Notizbuch zu sein. Auf den ersten Seiten waren unzusammenhängende Sätze geschrieben. Weiter hinten verbanden sich die Sätze zu kurzen Episoden, die schließlich in den Anfang einer Geschichte übergingen. Ich fing an sie zu lesen. Im dunklen Zwielicht des Mondscheins musste ich mich stark konzentrieren.

Es war die Geschichte eines Mannes, der seine Frau verlassen musste, um in den Krieg zu ziehen. Er durchlitt Qualen, da er wusste, dass seine Frau zuhause mit seinem Kind allein blieb und ein weiteres erwartete.
Er weigerte sich auf Gefangene zu schießen, woraufhin einige Soldaten seiner Einheit, als Rache, sein Knie zertrümmerten. Er musste lange Zeit im Krankenhaus verbringen und verlor, im Fieberwahn, den Großteil seiner Erinnerungen. Der einzig verbliebene Besitz aus früheren Tagen war das Foto einer Frau und ein silberner Ring an seinem Finger.
Entbehrungsreiche Jahre reiste er umher, auf der Suche nach der Frau auf dem Foto. Er befragte jeden den er traf, doch niemand kannte oder hatte sie je gesehen. Schwach geworden nach langer Zeit des Suchens, konnte er, durch eine glückliche Fügung, in einer Kleinstadt ein bescheidenes Haus erwerben und sich dort niederlassen.
Täglich betrachtete er das, zunehmend verblassende, Foto der Frau, von dem eine solche Anziehung und Zuneigung ausging, dass er nach einiger Zeit anfing sich einzubilden sie sei wahrhaftig bei ihm. Er stellte sich vor, sie würde mit ihm in dem Haus leben. Gemeinsam kochten sie, lasen Bücher, unterhielten sich und stritten sogar hin und wieder. Die Liebe zu der Frau wurde von Tag zu Tag stärker.

Ich konnte nicht aufhören zu lesen. Die Wörter wiederholten sich in meinem Kopf wie ein Echo und bevor ich den nächsten Satz las, wusste ich bereits, was weiter geschah. Die Bilder der Geschichte wurden zu realen Bildern vor mir. Bei jeder Szene, die beschrieben wurde, fühlte ich mich als wäre ich von ihr durchdrungen.
Doch als ich das letzte Kapitel aufschlagen wollte, hörten die Aufzeichnungen plötzlich auf. Der Autor schien unterbrochen worden zu sein. Ich konnte sehen, wie er mit dem Stift zum nächsten Buchstaben angesetzt hatte, doch der Strich war verzogen. Nicht abgesetzt, ganz so als ob er mitten beim Schreiben unterbrochen wurde.
Noch ganz benommen von der Geschichte, klappte ich das Buch zu und ging meinen Gedanken nach. Irgendwann drang ein schriller Ton an die Grenze meines Bewusstseins, ganz fern, ganz leise. Das Geräusch wiederholte sich noch einmal. Ich kam sehr schwerfällig wieder zu mir. Ein drittes Mal erklang das Geräusch, diesmal deutlicher. Ein Pfeifen. Das Erkennungszeichen. Die Jungs aus meiner Klasse! Ich schaute auf und bemerkte, wie der Morgen bereits dämmerte. Die Sonne war kurz davor aufzugehen.
Schnell steckte ich das Buch in meine Jackentasche und verließ den Raum. Im Zwielicht des Treppenhauses tastete ich mich langsam von Stufe zu Stufe vor, wobei jede von ihnen bedenkliche Knacklaute von sich gab. Ich achtete besonders auf das Loch, durch das ich am Abend zuvor in den Keller gestürzt war und meisterte auch diese Hürde.
Ich klopfte das verabredete Signal von Innen an die Haustür und die Jungs öffneten mir. Unter ihrem Jubel machte ich meine ersten Schritte zurück in die Wirklichkeit meines Lebens, nun als Teil ihrer Gruppe.
Ich fand es schwer, meine Aufregung und Verwirrung zu verbergen, doch zum Glück waren sie alle zu verschlafen um etwas zu bemerken. Auf ihre Fragen antwortete ich nur knapp und niemand schien wirklich anzunehmen, dass etwas Eigenartiges in diesem Haus geschehen sei. Ich beschloss den anderen nichts von meinen Erlebnissen zu berichten und ging nach Hause. Zu meinem großen Glück schlief meine Mutter noch fest als ich zurückkehrte.
Nach der Schule schloss ich mich in mein Zimmer ein und las in dem Buch. Etwas fühlte sich seltsam an. Je mehr ich las, desto klarer wurde es mir. Ich hatte das Ende vergessen. Mir fiel es wie ein Schleier von den Augen; in der letzten Nacht, als ich die Geschichte las, wusste ich wie sie endete. Bevor ich auch nur das letzte, fehlende Kapitel gelesen hatte, kannte ich es bereits. Doch egal wie sehr ich mich anstrengte, es fiel mir einfach nicht mehr ein. Ich musste zurück.
In der folgenden Nacht schlich ich mich wieder hinaus und ging zurück in das Haus. Die Tür war verschlossen, aber ich fand eine Möglichkeit über die Steine in ein Loch im Obergeschoss zu klettern. Ich legte das Notizbuch in das Schubfach des Arbeitstisches und bezog in meiner Aushöhlung in der Wand Position.
Nach kurzer Zeit erschien er wieder. Sein nebelhafter Körper bildete sich aus dem Nichts. Die wellenartigen Membranen bewegten sich langsam und gleichmäßig, während er sich eine Zigarette anzündete. Wieder lief er im Raum hin und her und blätterte anschließend im Buch. Meine Aufregung kannte keine Grenzen und ich fragte mich, ob er mich wieder ansehen würde. Tatsächlich, gerade in dem Moment, in dem die Membranen mit Höchstgeschwindigkeit vibrierten und mich hypnotisch gefangen hielten, sah er mich abrupt an. Unfähig mich zu bewegen oder zu sprechen spürte ich wieder diese seltsame Verbundenheit. Mit einem Mal rannte er los, die Treppe hinunter. Ich war allein.
Ich nahm das staubige Buch vom Boden und setzte mich an den Schreibtisch, nahm Füllfederhalter und Tintenfass aus dem Keller aus meiner Jackentasche heraus und begann das letzte Kapitel der Geschichte zu schreiben.
Obwohl ich wusste, wie die Geschichte endete, fand ich es unglaublich schwer die passenden Worte zu finden. Entweder empfand ich sie als zu hochgestochen oder zu profan. Untreffend oder zu eindeutig. Ich überlegte bis mein Kopf schmerzte und war doch nur in der Lage ein paar Sätze auf das Papier zu bringen.
Das Kitzeln der aufgehenden Sonnenstrahlen zwang mich aus meiner Trance. Ich steckte die Sachen ein und hastete nach Hause.
Am folgenden Tag verbrachte ich meine freie Zeit damit an die Geschichte und das Haus zu denken. Besonders an die seltsame Anziehung, die es auf mich wirkte. Ich konnte mir das alles nicht erklären. Vor allem aber konnte ich mich, sosehr ich auch nachdachte, nicht an das Ende der Geschichte erinnern. Es schien als sei das Ende irgendwie mit dem Haus verbunden und das Kapitel hätte nur Zugang zu meinem Geist, wenn ich mich in dem Haus befände.
Daraufhin beschloss ich jede Nacht in das Haus zu gehen, bis ich die Geschichte zu Ende geschrieben hätte.
Die Nachmittage verbrachte ich damit, so viel wie möglich zu schlafen und erklärte meiner Mutter und meinen Lehrern, die körperlichen Veränderungen mit allgemeinem Unwohlsein.
Eine Woche lang schlich ich mich jede Nacht in das Haus und schrieb fleißig weiter an der Geschichte, deren letztes Kapitel Stück für Stück wuchs. Stolz und erschöpft fiel ich jeden Morgen ins Bett, um einige kurze Momente der Erholung zu genießen, bevor mein Leben und meine Verpflichtungen nach mir riefen.
Meine letzte Nacht in dem Haus war anders. Ich wartete in meinem Loch, doch der Mann erschien nicht wie üblich auf dem Sofa. Ich wurde nervös und fing an mich zu fragen, was passiert war. Nur noch ein paar Sätze fehlten. Ich war dem Ende so nahe und nun war er nicht einmal da, um meinen Erfolg zu sehen. Was sollte ich tun? Angst überkam mich, dass er mich für immer verlassen hätte. War er unzufrieden mit meiner Geschichte? War sie nicht so, wie er sie sich gewünscht hatte? Ich hatte doch alles so aufgeschrieben, wie es tatsächlich war. Ich kannte schließlich ihr Ende.
Unruhe überkam mich. Ich beschloss dennoch weiterzumachen und nicht so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Also setzte ich mich an den Tisch und schrieb die letzten Zeilen, das Ende der Geschichte, in das Buch, dessen Seiten exakt an dieser Stelle ebenfalls endeten.
Ein warmes Gefühl durchströmte meinen Körper. Ich schaute auf die Buchstaben unter mir, streichelte sanft über das Papier und schloss das Buch.
Tränen liefen mir über das Gesicht. Von Gefühlen überwältigt fing ich an zu weinen. Ich weinte über die Schönheit der Geschichte und die Zerbrechlichkeit ihres Helden, über meinen Stolz die Geschichte zu Ende geschrieben zu haben, die Anstrengungen, über die Leere, die ich empfand da die Geschichte nun fertig war und damit meine Rechtfertigung an diesem Ort zu sein. Ich weinte um den Schriftsteller, der es nie schaffte seine Geschichte beenden zu können. Ich weinte über meine Einsamkeit, über den Verlust meines Vaters, den ich nie kannte. Ich weinte über die Liebe meiner Mutter, die allem entbehrte, um ihre Kinder versorgen zu können. Lange saß ich so da und ergab mich diesen Gefühlen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich weinte.
In diesem Augenblick spürte ich ihn. Ich spürte seine Anwesenheit, seinen sanften Blick in meinem Rücken, wie er auf dem Sofa liegend, mich beobachtete, über mich wachte, während langsam die Dunkelheit der Nacht vom sich nähernden Tageslicht verdrängt wurde.
Ich legte das Buch in die Schublade des Schreibtisches und verließ das Haus.

Ich spürte, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich sie sah. Ich stand über ihr und beobachtete sie. Meine Mutter lag ruhig in ihrem Bett und schlief.
Sie hatte ein gütiges Gesicht. Um den Hals trug sie ihre goldene Kette, mit dem Ring, den sie von meinem Vater bekam, bevor er wegging. Abends hörte ich sie manchmal vor Verzweiflung weinen, doch nie ließ sie sich uns gegenüber etwas anmerken.
Ich streichelte ihr sanft über das Gesicht, ganz vorsichtig, bedacht sie nicht aufzuwecken. Ein letztes Mal sah ich sie an, bemüht mir ihre Züge im Gedächtnis einzuprägen und schloss leise die Tür.
Als ich den Raum im Dachgeschoss betrat, saß er am Tisch und beugte sich über das Buch mit dem Ledereinband. Ich hatte nicht mit ihm gerechnet und war etwas erschrocken. Angespannt blieb ich im Türrahmen stehen.
Draußen fing es an zu regnen. Ich konnte die Tropfen deutlich auf dem Dach über uns prasseln hören. Schon auf dem Weg hierher lief ich durch dichten Nebel. Es war heute Nacht dunkler als sonst.
Ich konnte sein Gesicht nur halb sehen, da ich etwas schräg zu ihm stand. Die Membranen bewegten sich heute langsamer als sonst. Konzentriert las er das von mir geschriebene Ende der Geschichte. Ich spürte seine Gedanken und wie die Worte in seinem Kopf widerhallten.
Er ließ sich nichts anmerken, doch ich wusste was er empfand. Ich kannte seine Gefühle genauso gut wie er. Egal was wir taten, unser beider Existenzen waren auf seltsame Art für immer miteinander verbunden.
Er war fertig. Ich hielt den Atem an. Innerlich ging ich noch einmal das Ende der Geschichte durch. Er bewegte sich nicht und starrte gedankenverloren auf das Papier.
War die Geschichte so richtig? Mir kamen Zweifel. Vielleicht hatte ich einen Fehler begangen. Erst jetzt wurde mir die Verantwortung und Tragweite meiner Handlungen bewusst. Es war seine Geschichte. Die Geschichte seines Lebens und gleichzeitig des meinen.
Langsam klappte er das Buch zu und sah hinaus in den verregneten Himmel. Lange verharrten wir so und lauschten gemeinsam dem Prasseln des Regens.
„Danke, mein Junge“, durchbrach es die Ruhe meiner Gedanken wie ein Donner.
Er drehte seinen Kopf dabei etwas in meine Richtung, wobei er seinen Blick nicht von den Wolken ließ.
„Jetzt sind wir wieder vereint.“
Seine Stimme klang warm und vertraut, gleichzeitig aber wirkte sie als würde Nebel sie umschließen, als würde jemand aus einer tiefen Höhle einem zurufen, ohne dass man wüsste aus welcher Richtung sie kommt. Die Membranen in seinem blau-schimmernden Körper bewegten sich dabei wieder schneller. Er stand vom Stuhl auf und drehte sich in meine Richtung.
Der Regen kam mir jetzt lauter vor. Ich schaute hinaus durch das Fenster. Wolken zogen vorbei und gaben, für einen kurzen Augenblick, das Mondlicht frei. Er war fort.
Mir fiel der Ring aus der Kiste im Keller wieder ein, den ich bis jetzt vergessen hatte. Ich holte ihn aus der Tasche meiner Jacke heraus und sah ihn mir an. Innen war etwas eingraviert:
In ewiger Liebe. S.
Es war der gleiche, den meine Mutter an ihrer Kette trug.
Den Ring in meiner Hand haltend, ging ich zum Schreibtisch. Das Buch war verschwunden. Ich öffnete die Schublade, doch auch hier war es nicht. Er musste es mitgenommen haben.
Ich blickte in die graue Dunkelheit der Nacht. In der Ferne umschlang dichter Nebel alles. Der Regen hatte tiefe Pfützen hinterlassen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich setzte mich an den Tisch und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Einige Zeit saß ich so da und schaute gedankenverloren in die Nacht. Ich dachte an die Geschichte in dem Büchlein und plötzlich verstand ich. Er war es!
Ich hörte ein Geräusch und sah durch das Loch in der Wand auf die Straße hinunter. Beleuchtet von der Straßenlaterne konnte ich seine nebelhafte Erscheinung erkennen. Den Arm hatte er um eine Frau gelegt, mit der er aus der Tür des Hauses auf die Straße trat. In der anderen Hand hielt er einen Regenschirm, den er schützend über die beiden ausbreitete. Sie liefen einige Schritte durch den prasselnden Regen. Ich unterdrückte den Drang ihnen hinterherzurennen.
Sie blieben stehen und er schaute in meine Richtung hinauf. Unter seinem Regenschirm lächelte er mir zu. Tränen liefen lautlos meine Wange hinunter.
Mit der Frau im Arm ging er langsam die Straße entlang. Ihre durchsichtigen Körper lösten sich auf und verschwanden im Nebel.

 
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Hey @Sascha R

mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Hat mich unterhalten und ich bin trotz der Länge dran geblieben.

Wenn man genau hinschaut erkennt man die seltsamsten Dinge in ihr. Einen Totenkopf zum Beispiel, aber der ist meistens leicht zu erkennen. Komplexere Lebensformen sind schwerer auszumachen. Um beispielsweise einen Drachen oder einen Stier zu finden muss man sich schon etwas mehr anstrengen. Das braucht Übung.
Das hat mir sehr gut gefallen. Ich werde die nächste Zigarette genauer betrachten.
Ich wünschte ich könnte ihr wunderschönes Gesicht noch einmal sehen.
Mir fällt die Streichholzschachtel in meiner Tasche ein, die ich immer zum Anzünden meiner Zigaretten benutze. Ich öffne sie und fühle, dass nur noch ein Streichholz drinnen ist. Ich nehme es in meine zitternden Hände und zünde es an.
Nie zuvor wurde mir, wie in diesem Moment, bewusst was für ein wunderschönes Gesicht meine Frau hat. In dem Zwielicht des kleinen Feuers in meinen Händen strömen ihre Augen so viel Liebe und Zärtlichkeit aus.
Das fand ich auch sehr cool. Hat ein schönes Bild in meinem Kopf erzeugt und mich berührt.
Er musste uns verlassen, als meine Mutter mit mir schwanger war. Sie zwangen ihn dazu. Man sagte, später wurde er von einem seiner Offiziere getötet, weil er sich weigerte auf Menschen zu schießen, die sie gefangengenommen hatten. „Verräter“ nannten sie ihn. Das ist alles, was ich von ihm weiß. Niemand redete über ihn.
Das verstehe ich nicht ganz, warum wird hier erzählt, dass er von einem seiner Offiziere getötet wurde und später, dass er sein Ende in dem Hauskeller gefunden hat?
und ich hatte einen schwierigen Stand bei ihnen
Das finde ich komisch formuliert. Klingt zumindest in meinen Ohren nicht sauber.
Vielleicht "ich hatte einen schwierigen Start bei ihnen"?
Ein menschlicher Schädel lag auf dem Boden Vor Schreck ließ ich das Streichholz fallen. Doch glücklicherweise ging es dabei nicht aus. Als ich es wieder aufhob erkannte ich, dass zu dem Schädeln ein vollständig erhaltenes menschliches Skelett gehörte.
Warum nur ein Skelett? Was ist mit der Frau? Ist sie irgendwie rausgekommen und ist seine jetzige Mutter oder ist seine Mutter die zweite Frau des Mannes und die erste hat er bloß nicht gesehen?
Ich spürte, wie eine warme, zähflüssige Masse meine Haare verklebte. Ich leckte an meinem Finger. Blut. Dieser typische eisenhaltige Geschmack von Blut.
Da hatte er eine Wunde am Hinterkopf. Danach gehst du aber nicht mehr groß darauf ein. Was ist mit der Wunde? Wenn sie ihm sogar die Haare verklebte, wars ja nicht allzu wenig.

Das ist mir so aufgefallen. Danke für deine Geschichte, war mir eine Freude.

Man liest sich!
Gruß aufdemWeg

 

Hallo @Sascha R,

auch mir hat deine Geschichte gut gefallen, auch wenn ich ein paar Probleme mit ihr hatte. Den Plot finde ich sehr schön, den Bogen vom Schriftsteller zum Jungen spannst du gut. Das Ende verstehe ich nicht ganz. Ich interpretiere es so, dass der Vater mit einer "Geisterkopie" der Mutter weggeht und nicht, dass die Mutter gestorben ist. Das wird ja nirgends angedeutet. So wichtig ist das aber nicht, schön fand ich es trotzdem. Deine Sprache ist ansprechend bildhaft und verträumt, da habe ich bis auf ein paar Stellen nichts zu meckern.

Mein Hauptproblem ist die Länge. Ich habe nichts gegen lange Geschichten und diese hier braucht die vielen Worte auch. Nur gab es mir hier zu viele akribische, unwichtige Details, die viele Szenen - meiner Meinung nach - unnötig in die Länge zogen. Ich glaube, du hättest da einiges straffer schreiben können, vor allem der ganze Besuch des Jungen im Haus. Gekürzt hast du dann, aber für mich an den falschen Stellen: Die Hintergrundgeschichte des Vaters ist reines Tell. Das hätte ich gerne erlebt, gesehen und gefühlt, damit die emotionale Komponente der Geschichte so richtig zum Tragen kommt. Das macht die Geschichte in meinen Augen auf keinen Fall kaputt, sie könnte aber viel besser sein, finde ich.

Ab und zu stolperte ich über seltsame oder unpassende Formulierungen, das stach schon etwas aus der sonst schönen bildlichen Sprache heraus. Ein paar Beispiele und anderer Kleinkram:

Mit einem mehr oder weniger durchschnittlich erfolglosen Schriftsteller verheiratet zu sein ist nicht einfach.
"Mehr oder weniger" und "durchschnittlich" sagen fast dasselbe und verwässern den Satz für mich.

Ich öffne sie und fühle, dass nur noch ein Streichholz drinnen ist.
Finde ich unschön. Besser sowas wie: Ich öffne sie und fühle das letzte Streichholz?

Die Flamme des Streichholzes geht aus.
Ein stärkeres Verb wäre hier schöner: Erlischt?

und machten Schweinegeräusche nach
Das Bild ist zu schwach. Wie klingt denn so ein Schwein?

Eine Streichholzschachtel. Ich öffnete sie und nahm das letzte Streichholz in ihr raus und zündete es an.
Ich dachte, dass der Vater bereits das letzte Streichholz verbraucht hatte? Oder war das nicht real?

in Richtung des mir unbekannten Dunkel
Hört sich seltsam an und Dunkelheit ist ja generell irgendwie unbekannt.

Eine ungewisse Schwere
Hört sich auch seltsam an.

Sie schienen von einigen, verschiedenen weißlichen Punkten auszugehen
Ich weiß, was du meinst, aber es hört sich nicht schön an.

Die Wellen waren wieder normal.
Wie sehen die "normalen" Wellen denn aus?

erklärte meiner Mutter und meinen Lehrern, die offensichtlichen körperlichen Veränderungen mit allgemeinem Unwohlsein, sowie unbestimmten Krankheitssymptomen.
Das ist mir als Leser nicht offensichtlich und unter unbestimmten Symptomen kann ich mir nichts vorstellen.

Innerlich wusste ich, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich sie sah.
Kann er es denn auch äußerlich wissen?

Tränen liefen lautlos meine Wange hinunter.
Tränen sind immer lautlos, denke ich.

Das bisschen Gemecker waren für mich nur Kleinigkeiten, generell habe ich die Geschichte gemocht.

Viele Grüße,
Catington

 
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Tach @Sascha R,

willkommen hier. Ich schreibe beim Lesen mit. Nimm dir, was du gebrauchen kannst.
Edit: Mensch, jetzt sehe ich gerade, dass du gar nicht neu hier bist. Würd mich freuen, wenn ein bisschen mehr von dir kommt, als nach deiner letzten Geschichte. :shy:

Es ist angenehm auf den Bett zu liegen
Dem

Wenn man genau hinschaut[Komma?] erkennt man die seltsamsten Dinge in ihr.

Der Bäcker, bei dem wir noch vor ein paar Wochen jeden morgen frisches gekauft haben, oder eines der vielen namen- und gesichtslosen Opfer, die die Geschichte hervorgebracht hat?
Morgen, groß. Oder morgens.
namens-(?)

Ich denke[Komma?] ich kann mit Recht behaupten meine bisher beste Kurzgeschichte auf Papier gebracht zu haben.
Ich blätterte mehrmals alles durch[Komma?] doch nirgends war sie zu finden.
Ich wünschte[Komma?] ich könnte ihr wunderschönes Gesicht noch einmal
Hm. Es fehlen einige Kommas im Text, denke ich. Bin jetzt absolut nicht die Kommaqueen - Aber ich kenne eine. @TeddyMaria ... Ich sag nur: Prädikate! ;)

Nur wegen mir sind wir noch hier.
Vorschlag, um den Reim zu umgehen, aber das schöne „wegen“:Pfeif: beizubehalten:

"Nur meinetwegen sind wir noch hier."

Während all unsere Nachbarn schon vor Tagen in die Schutzbunker umzogen, blieben wir zuhause.
zu Hause


„Schnell, komm! In den Keller.“, sage ich
Satzpunkt aus WR raus, wenn ein Redebegleitsatz folgt.

Er musste uns verlassen, als meine Mutter mit mir schwanger war. …
Seitdem war ich mit meiner Mutter und meiner Zwillingsschwester allein. …
während ihrer Abwesenheit musste ich auf meine beiden Schwestern aufpassen. …

Meine kleine Schwester, die auch mit mir draußen stand, nahm meine Hand und umklammerte sie fest. …
Erst ist die Mutter (nur) mit ihm schwanger, dann sind sie allein zu dritt, dann schon zu viert. Von welchem Mann ist die jüngere Schwester?

Halbtot vor Sorge würde sie da sitzen
Dasitzen, zusammen


Ich sah eine morsche Holztreppe, die in die Dunkelheit hinauf führte.
hinaufführte, zusammen

da ich mich weiter vom Licht über der Eingangs[T]ür entfernte.

Ein menschlicher Schädel lag auf dem Boden Vor Schreck ließ ich das Streichholz fallen.
Satzpunkt fehlt.


Hinter den Knochen auf dem Boden sah ich vorher im Schein des Streicholzes
h fehlt.

Ausser ein paar Glasscherben unter ihm waren sonst keinerlei Spuren
Außer


Ich dachte an meine Mutter und meine Schwester,

Eine Schwester oder zwei Schwestern?


Leise, schleichend bewegte ich mich zu einem Loch in der Wand, wo ich mich in ein einen Hohlraum zwängte, um ihn besser beobachten zu können.
Hier könnte das erste Komma mMn weg. Ein "ein" zuviel. Er ist nicht leise UND schleicht, sondern schleicht leise, oder?

Es wirkte fast so als würde er vor irgendetwas fliehen. Er musste in den Keller gerannt sein.

Ah, jetzt sieht der Junge die Wiederholung des Bombenangriffs. Sehr cool.


Er erwachte in einem Kriegslazarett ohne Erinnerungen, außer an das, was im Dorf geschehen war.
Sein Knie wurde zertrümmert und sein Schädel war gebrochen. Er musste einige Monate im Krankenhaus verbringen, bis er, schließlich genesen, entlassen wurde.

Hm. Ist mir jetzt ein bisschen zu sehr runter erzählt der Abschnitt.


wusste ich bereits, bevor ich weiter las,
weiterlesen kannst du auch zusammenziehen

Täglich betrachtete er das zunehmend verbleichende Foto seiner, ihm unbekannten, Frau, von dem eine solche Anziehung und Zuneigung ausging, dass er nach einiger Zeit anfing[Komma] sich einzubilden sie sei tatsächlich bei ihm.
Durch die komplizierte Satzkonstruktion gebrauchst du hier viele Kommas. Trotzdem fehlt noch eins, meine ich. Im restlichen Text fehlen noch einige.

Es war die Geschichte eines Mannes, der seine Frau verlassen musste, um in den Krieg zu ziehen. Er durchlitt Qualen, da er wusste, dass seine Frau zuhause sein Kind erwartete

Ach wie schräg. Er schrieb die Geschichte vom Vater des Jungen. Ich mag, dass das so verworren ist. :)


von Innen an die Haustür
von innen


Innerlich wusste ich, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich sie sah. Ich stand über ihr und beobachtete sie. Meine Mutter lag ruhig in ihrem Bett und schlief.

:( Warum das denn?

Mit der Frau im Arm ging er langsam die Straße hinunter.

Ah, er wusste, dass die Mutter stirbt und ihr Mann sie zu sich holt, damit die beiden endlich wieder vereint sind, oder?

wie die Worte in seinem Kopf wiederhallten.
widerhallten

Sie fielen sich in die Arme und riefen uns etwas zu, das ich nicht verstand. Meine Ohren waren wie betäubt. Meine Schwester lief zu ihnen, während ich allein zurück auf der Schaukel blieb.

Ich dachte, der Vater wäre in den Krieg gezogen, als die Mutter schwanger war und kam nicht mehr zurück. Spielt diese Szene in seiner Traumwelt?

Mein inhaltliches Fazit:
Für eine Kurzgeschichte ist dein Debüt hier schon ziemlich lang. Das birgt die Gefahr, als Neuling erstmal links liegen gelassen zu werden. Nach wenigen Sätzen war mir klar, dass sich das Weiterlesen lohnt.
Ich mochte deine emotionalen Szenenbilder, wie gleich zu Beginn die (trotz drohender Bombardierung) romantische Streichholzszene oder die schaurige Mutprobe in dem eingestürzten Haus. Die Stelle, als der Junge im Keller dann auf das Schreibzeug und das Skelett mit dem Foto stieß fand ich total spannend und gut konstruiert. Bis dahin dachte ich, der Junge sei der Sohn des Schriftstellers. Am Ende angelangt überlegte ich dann, ob er es vielleicht doch ist. Der Mitternachtszug deutet auf eine gleichermaßen rege Fantasie. ;) Und er spürte auch diese gewisse Verbindung zu dem Geisterwesen. Das „Danke, mein Junge“ gibt dann Klarheit. Die Idee, dass der Junge das letzte Kapitel zu Ende schreibt, weil sein Vater es nicht mehr konnte, finde ich richtig gut. Du hast den Überblick behalten und die Figuren mit ihren Lebensläufen innerhalb der Zeitsprünge in die Handlung verflochten. Da steckt richtig Plot-Arbeit drin. Sprachlich hat es mich auch überzeugt. Deine Schreibe hat einen guten Erzählfluss, baut Tempo auf, ist mitreißend.
Bin gespannt was noch von dir kommt. :)


Viele Grüße
wegen

 
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Hallo @aufdemWeg,
Danke für's Lesen meiner Geschichte und kommentieren!
Bitte gerne um Rückmeldung vom Betrachten der nächsten Zigarette.
Danke auch für die kritischen Bemerkungen.
Das mit dem Offizier stammt tatsächlich aus einer früheren Version. Habe ich jetzt gestrichen.
Ich habe mich für ein Skelett im Keller entschieden, da seine Frau nicht tatsächlich existiert in seinem Haushalt und nur Produkt seiner Erinnerung/ Fantasie ist. Erst am Ende finden sie "real" wieder zusammen.
Die Wunde am Hinterkopf...ja schwierig. Da überlege ich auch noch, ob mir das gefällt.

Hallo @Rob F ,
danke für's Lesen und Kommentieren!
Auch danke für die Anmerkungen. Die Wiederholungen schaue ich mir nochmal an. Kommasetzung...ja da muss ich ran!
Inhaltlich perfekt zusammengefasst. Danke für das tiefe Auseinandersetzen mit der Geschichte. Freut mich wirklich!

Hallo @Catington,
auch hier vielen Dank für's Lesen, Kommentieren und vorallem inhaltliche Auseinandersetzen mit der Geschichte!
Gute Tipps für die Formulierungen. Manche scheinen tatsächlich etwas hölzern.
Ja, auch der Abschnitt über den Vater wirkt sehr "runter erzählt". Ich schaue mal, ob man da etwas mehr Würze reinbringt.

Am Ende dachte ich schon, dass die Mutter verschwindet. Der Junge deutet es an, indem er am Morgen sagt er wird sie zum letzten Mal sehen. Vielleicht ist das nicht ganz so deutlich rübergekommen.

Vielen Dank nochmal!

Hallo @wegen,

Danke für's Lesen und Kommentieren (und auch die Komplimente)!
Entsprechende Textstellen ändere ich.
Kommasetzung... muss ich ran, ja.
Das mit den Schwestern hatte ich übersehen. Das stammt noch aus einer vorigen Version. Tatsächlich sollen es nur sein: Mutter, Sohn und eine Tochter.
Freut mich, dass die der Text gefallen hat.
Vielen Dank.

 

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