- Anmerkungen zum Text
Ich erhebe keinerlei Anspruch auf historische Korrektheit oder Authentizität. Das hier ist reine Fiktion von jemanden, der nicht dabei gewesen ist, für die, die nicht dabei gewesen sind. Entstanden auf die Bitte hin, die Geschichte meiner Lederjacke zu erzählen.
Die Geschichte einer Jacke und die Geschichte einer Liebe
Im Sonnenschein eines leicht bewölkten Himmels saß der Student Ron auf einer Parkbank und glotzte auf sein Smartphone. Unbeschwert sah er in der leichten Sommerhitze die Angebote auf Ebay-Kleinanzeigen durch. Sein Daumen wischte rasch über die leuchtende Oberfläche; er dachte eigentlich kaum nach und entschied instinktiv, ob ihm ein Angebot gefiel oder nicht.
iphone 7, 680€, leichte Gebrauchsspuren, sonst top Zustand
Holzkiste NVA, 22€, Kiste voller Überraschungen ?
Kinderwagen, 120€, verkaufen unseren Kinderwagen, Jeremy kann jetzt selber gehen
SHISHA, 23€, 164cm, ???SHISHEN??
Wandklapptisch Holz, 15€, platzsparend (NUR selbstabh), 79x59cm
Lederjacke, 40€, Gr M, selbstabh
Nachdem er ein eindeutiges Gefallen an der Lederjacke gefunden hatte, schrieb er eine Nachricht an den Verkäufer; er fände die Jacke wirklich überaus schön und wolle daher fragen, ob man sich treffen könne; er würde gern die Jacke abholen. Nach nicht einmal fünf Minuten erhielt er eine Antwort mit der genauen Adresse. Man verabredete sich in einer knappen Stunde.
Im Lampenschein eines U-Bahnwagens saß der Student Ron auf einer Bank und glotzte auf sein Smartphone. Unbeschwert sah er in der milden Kühle die Profile auf Tinder durch. Sein Daumen wischte rasch über die leuchtende Oberfläche; er dachte eigentlich kaum nach und entschied instinktiv, ob ihm eine Frau gefiel oder nicht.
Tatjana, 24, FU Berlin, In love with good food, sportlich, kein ONS
AISHA, 23, 164cm, ???SHISHEN??
Simone, 22, Mädchen voller Überraschungen ?
Lea, 23, HU, NO ons, reisen, yoga, 179cm
Kim, 22, dtf aber auch dtbyf (down to be your friend)
Nachdem er ein eindeutiges Gefallen an AISHA, Simone und Kim gefunden und sogar mit zweien gematcht hatte, schrieb er eine Nachricht an Kim; er fände sie wirklich überaus schön und hinreißend und wolle daher fragen, ob man sich treffen könne; er würde sie gerne kennenlernen. Nach nicht einmal fünf Minuten erhielt er eine Antwort mit einer genauen Adresse. Man verabredete sich in knappen zwei Stunden.
Als er die Lederjacke in den Händen hielt, kam sie ihm sogar noch viel schöner vor als auf dem Foto im Internet. Das Leder hatte einen leichten Rotton und wurde auf Brusthöhe durch einen dunklen Strickeinsatz unterbrochen; innen war sie mit Schafsfellimitat gefüttert. Er zahlte bar und nahm noch vor Ort ein Foto von sich in der neuen Jacke auf und ergänzte damit sein Tinderprofil.
Als er Kim vor Augen sah, kam ihm ihr Aussehen erstaunlich ernüchternd vor. Beide hatten sich in der Nähe ihrer Wohnung auf einen Kaffee getroffen. Sie hatte auf ihren Tinderfotos durch geschickte Posen und Filter ihre – gelinde gesagt – kräftige Figur und ihre unreine Haut gekonnt verschleiert. Ron fühlte sich enttäuscht und ärgerte sich, auf so etwas hereingefallen zu sein. Ihn ekelte vor der Frau, die er nur als fett und hässlich wahrnahm. Nach nicht einmal dreißig Minuten brach er auf unter dem Vorwand, noch dringend etwas für sein Studium erledigen zu müssen.
Erneut saß er in der U-Bahn und sah auf sein Smartphone. Erfreut bemerkte er, dass Simone (22, Mädchen voller Überraschungen) ihm eine Nachricht geschrieben hatte: Er habe eine wirklich äußerst schöne Lederjacke.
Noch am selben Abend trafen sich die beiden in einer Bar in der Nähe von Rons Wohnung. Nach zwei Cocktails beschlossen sie, zu ihm zu gehen. Dort schliefen sie drei Mal miteinander, bis sie gegen kurz nach eins aufbrach, da sie ihre Pille noch nehmen müsse und deshalb nicht über Nacht bleiben könne. Noch wach von ihrem Sex durchsuchte Ron die Taschen seiner neuerworbenen, altgedienten Lederjacke. Darin fand er einige Briefe. Sie schienen alle durch dieselbe Hand geschrieben und der Reihenfolge nach geordnet zu sein. Er las den ersten
Berlin 05.08.1976
Mein liebster Elias,
mir kam heute in den Sinn, wie ich dich damals kennenlernen durfte, und daher fühle ich, ich muss dir mal wieder schreiben, um dich und mich daran zu erinnern, dass trotz allem das Leben und das Schicksal wohl von Zeit zu Zeit nicht nur Härten parat halten.
Ich war sechzehn Jahre alt und ein schrecklich verträumter junger Mann. Ständig mit den Gedanken andernorts und nie dort, wo sie gerade sein sollten. Was hat man mich in der Schule geschimpft.
Ich saß in einer U-Bahn und träumte. Sah mir die Wolken über den Dächern der sozialistischen Gesellschaft an und dachte wahrscheinlich wirklich noch an so etwas wie einen Aufbruch in eine bessere Zeit und Zukunft. Was war ich nicht naiv.
Dann fiel mein Blick auf dich. Du saßt da und sahst genauso verträumt aus dem Fenster wie ich. Ganz offensichtlich irgendwo anders. Ein leichtes lächeln hing um deine Lippen, eine Strähne deines Scheitels fiel dir in die Stirn. Du trugst ein blaues Hemd, deine braune Schultasche hattest du auf deinen Schoß gelegt und deine rote Lederjacke neben dich. Zwei Stationen bevor ich hätte aussteigen müssen, gingst du schon zu Tür. Mein Blick klebte an dir, als du den Zug verließt und über den Bahnsteig schlendertest. So hatte ich fast zu spät gemerkt, dass du deine Jacke hast liegen lassen. Ohne auch nur einen Moment zu überlegen, sprang ich auf, quetschte mich gerade noch rechtzeitig durch die Tür und lief dir nach.
Als ich dich in der Bahnhofshalle eingeholt hatte, warst du erst sehr überrascht, ja fast zornig, dass ich dich von hinten an der Schulter festhielt. Als du deine Jacke bemerktest, fingst du an zu strahlen vor Glück – und ich bei diesem Anblick auch.
Du bestandst darauf, dich erkenntlich zu zeigen und ludst mich ein, dich auf dem Weg zu deinem Musikunterricht zu begleiten. Wir kamen nie dort an, weil wir uns so in unserm Gespräch verloren.
Später waren wir an einem See. Ich fror so erbärmlich, dass du mir dir deine Lederjacke gabst. Als ich sie dir später wiedergeben wollte, meintest du, sie gehöre jetzt mir. Die ganze Zeit über hatte ich mich gefragt, ob du auch so fühlst wie ich. In diesem Moment wusste ich: dir geht es genauso. Wir verstanden uns auch ohne Worte. Jeden Tag habe ich seitdem an dich gedacht.
Ich fürchte, ich muss jetzt ein Ende finden. Wir rücken aus – die Baustelle ruft. Wer nicht schießen will, muss schleppen. Da kennt die sozialistische Gesellschaft keine Ausnahme. Ich wollte ja nicht an die Waffe, sondern lieber zu den Bausoldaten.
Hoffentlich bis bald.
In Liebe
dein Karl
Wider Erwarten schrieb Simone Ron einige Tage später, ob er nicht Lust hätte, sich nochmal mit ihr zu treffen. Ron war zunächst etwas verwirrt. Er war es gewohnt, dass die Tinderdates, die noch in der Nacht wieder nach Hause gingen, für gewöhnlich nicht mehr schrieben und man sich im Leben nicht mehr begegnen würde außer vielleicht nach einigen Wochen in der Erzählung eines Freundes, der ebenfalls ein Tinderdate mit ihr gehabt hatte. „Ah, die hab‘ ich auch gefickt“, pflegte er in solchen Situationen in einem beiläufigen, lässigen Ton zu sagen. Mitunter erregten Ron die Diskussionen über den Sex mit dieser Person dann doch so sehr, dass er sich hin und wieder doch nochmal meldete, um zu fragen, ob man sich nicht vielleicht mal wieder sehen wolle; das letzte Mal sei ja doch sehr schön gewesen.
Er studierte im vierten Semester Kommunikationsdesign, zuvor hatte er ein Kunststudium begonnen und nach zwei Semestern wieder abgebrochen. Auf Nachfrage hätte er wohl geantwortet, er sei sich bislang nicht sicher, was er genau wolle und könne sich demnach noch nicht festlegen. Seit dem Beginn seines zweiten Studiengangs war er auf Tinder. Fast wöchentlich traf er sich mit Frauen, zumeist jedoch nur einmalig. Manchmal hatten sich daraus auch Freundschaften ergeben, die regelmäßigen Geschlechtsverkehr mit einschlossen, emotionale Verpflichtungen indes ausschlossen.
Simone war eine hoch attraktive, schlanke und – seinem eigenem Ermessen nach – höchst dehnbare Dame in der Blüte ihrer Jugend. Mit ihr zu schlafen, hatte ihm sehr gut gefallen, denn sie schien nicht auf ein Kondom zu bestehen und war in diversen Arten des Lustspiels äußerst geübt und schlug diese Praktiken auch von sich aus vor. Daneben hatte er sie im Gespräch als nicht unbedingt unsympathisch erlebt. Insofern war er dem Gedanken nicht abgeneigt, sie wieder zu sehen, um erneut mit ihr zu schlafen.
Diesmal trafen sie sich direkt bei ihm. Als sie hereinkam, bestand ihr Gespräch aus einem Hey, wie geht’s? und einem Ja, ganz gut. Kaum war die Tür geschlossen, waren ihre Hosen offen. Nackt lagen sie nach dem Sex nebeneinander auf Rons Bett und Simone erklärte ihm nochmal, was genau er sich unter ihrem Studiengang Life Sciences vorzustellen habe und dass sie diesen Studiengang gewählt habe, weil sie sich damit noch nicht so ganz festlegen müsse. Kurz darauf schliefen sie erneut miteinander. Danach las Ron ihr einen der Briefe vor, die er in der Jacke gefunden hatte.
Berlin 01.09.1977
Mein lieber Elias,
mit schwerem Herzen schreibe ich dir. Man hat mich abgelehnt. Ich darf nicht studieren, weil ich den Dienst an der Waffe verweigert habe und mich stattdessen dazu entschlossen habe, als Bausoldat am Spaten zu dienen und nicht am Gewehr. Statt einem Studienplatz wurde mir nun ein Ausbildungsplatz als Baumaschinenschlosser zugeteilt, den ich anzutreten habe oder aber mit Konsequenzen rechnen muss.
Ich fühle mich taub; kann den Ärger und Frust noch gar nicht wirklich fassen. Seitdem ich denken kann wollte ich Philosophie und Germanistik studieren – nichts anderes hat mich je gereizt.
Meine Träume sind zerstört, ich werde nie studieren. Ich werde in einem Arbeiter und Bauern Staat gegen meinen Willen zum Arbeiter. Weinend stehe ich vor dem Scherbenhaufen meines Lebensentwurfs, weil ich einfach nicht auf einen anderen Menschen schießen wollte; weil ich es mit mir schlichtweg nicht vereinbaren konnte, zu lernen, wie ich zu einem gewissen- und gedankenlosen Werkzeug der modernen Kriegsführung werde.
Nun du bist in der NVA ja auch nicht gewissen- und ganz bestimmt nicht gedankenlos geworden; das weiß ich. Aber anders als du wollte ich statt der Schusswaffe die Schaufel und statt Granaten zu werfen lieber Schubkarren schieben. So habe ich das erste Mal in meinem Leben körperlich gearbeitet in der stillen Hoffnung, danach endlich mit dem Kopf zu schaffen – jetzt werde ich den Rest meines Lebens mit den Händen arbeiten müssen.
Noch schwerer wird es mir ums Herz, wenn ich daran denke, was aus uns wird. Du hast einen Studienplatz in Dresden; mein Betrieb wird nördlich von Berlin sein. Wie oft werde ich zu dir fahren können? Werde ich dann bei dir schlafen können, wenn du im Wohnheim lebst? Wirst du überhaupt je zu mir kommen können?
Mir ist schlecht, ich zittere; mein Kopf steht fern von mir. In trüben Gedanken liege ich allein in meinem Bett, weine und wünsche mich nur in deine Arme.
Ich liebe dich.
Karl
Ron und Simone trafen sich seit diesem Tag oft – sogar oft genug, dass man von täglich sprechen kann. Viele Stunden lagen sie zu zweit nebeneinander, eng aneinander geschmiegt sahen sie sich staffelweise Serien im Internet an; erzählten sich ihre Sorgen, ihre Wünsche und ihre Vorstellungen.
„Was willst du eigentlich vom Leben?“, fragte Simone Ron eines Tages.
„Ich weiß es nicht so recht, aber ich denke, in erster Linie geht es mir darum, einfach Spaß zu haben; eine schöne Zeit mit meinen Freunden zu verbringen. Ich mach echt auch einfach sau gern Party und habe gern vielen und guten Sex. Was ich wirklich arbeiten will, weiß ich nicht und will mich da eigentlich auch gar nicht so sehr festlegen. Ich denke, ich mache auch mein Studium vor allem darum, damit ich halt was mache; damit mir meine Eltern nicht im Nacken sitzen. Sicherlich möchte ich auch irgendwann Geld verdienen, um mir die Dinge finanzieren zu können, die mir Spaß machen – manchmal gehe ich auch so richtig gerne einkaufen oder fliege in den Urlaub.
Ich will ein entspanntes Leben haben und keinen Stress. Was bringt es mir denn, wenn ich fünfzig Stunden die Woche arbeite und dabei einfach keinen Spaß habe? Das ist ja ein fürchterliches Leben – das sehe ich nicht ein. Ich nehme mir in diesem Leben die Freiheit und die Zeit, die ich brauche, um das zu tun, worauf ich gerade Lust habe“, antwortete Ron.
„Und hättest du manchmal gern eine Freundin?“, wollte Simone wissen.
„Ich weiß es nicht so recht. Dann muss ich mich halt einschränken und ich möchte eigentlich nicht in meiner Freiheit beschnitten sein. Beziehungen sind oft so ein Stress – man muss ja wirklich Verantwortung übernehmen: ich kann dann nicht mehr schlafen, mit wem ich gerade will, und würde mich jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet schon auch ärgern, etwas verpasst zu haben. Ich kann mir keine Beziehung vorstellen, in der ich mich wirklich festlegen muss.“
„Aber hast du denn kein Interesse an emotionaler Nähe und Intimität?“, fragte Simone.
„Warum schließen sich emotionale Nähe und Sex mit andern Personen denn notwendigerweise aus? Es macht doch für unsere Vertrautheit nichts aus, ob ich jetzt auf irgendeiner Party mit einer anderen schlafe. Ich glaube, allenfalls würde ich eine offene Beziehung führen wollen. Dann hält man sich noch gewisse Freiheiten offen, muss nicht gleich alles aufgeben und führt ja trotzdem eine Beziehung. Wie denkst du denn darüber?“
Simone antwortete: „Ich glaube, ich kann mich halt schwerer auf eine Person einlassen, wenn ich in einer offenen Beziehung bin. Klar hat das nichts mit Liebe zu tun, wenn man besoffen auf einer Party was mit jemandem hat und ich denke, ich finde das auch nicht schlimm, aber irgendwo weiß ich auch, dass es mir vielleicht doch ein wenig weh tut. Dann habe ich ein Problem, mich ganz einzulassen weil ich einfach Angst habe, verletzt zu werden.
Auf der anderen Seite will ich natürlich niemanden einschränken – ich lasse mir ja auch nicht gerne Grenzen setzen.“
Im Nachhinein hatte sich Simone oft gefragt, was passiert wäre, hätte Sie Ron in diesem Moment gefragt, ob er mit ihr zusammen sein wolle – gern auch in einer offenen Beziehung. Sie hatte es nicht getan. Sie hatte Angst, ihn – nach seinen vorherigen Ausführungen – damit vor den Kopf zu stoßen. So kam es, dass Ron ein paar Wochen später damit begann, ihre Nachrichten nur noch spärlich zu beantworten, bis er schließlich ganz damit aufhörte. Er hatte mit Hanna (23, Yogalehrerin, 420, bi und polygam, offen für alles, gerne ffm aber auch mmf oder fff) gematcht und begonnen, sich mit ihr zu treffen. Bei den Reizen, die sie Ron bot, hatte er Simone alsbald vergessen. Sie hingegen war doch knapp dreieinhalb Wochen betrübt, da sie gern gewusst hätte, was passiert ist und ihn doch irgendwo sehr lieb gewonnen hatte. Sie hatte nichts weiter von Ron als einen der Briefe, den er versehentlich bei ihr vergessen hatte.
Neuruppin 17.02.1981
Mein liebster Elias,
Ich sitze am Schreibtisch meiner kleinen, drückenden Stube, schwitze fast in der trockenen und durch den Zentralboiler aufgeheizten Luft und schreibe dir. Draußen ist es dunkel, das Wasser beschlägt an der kalten Fensterscheibe, in der sich die gelbe Glühbirne vor den kahlen Betonwänden spiegelt. Meine Hände schmerzen beim Schreiben. Nicht mehr wie am ersten Tag, mittlerweile sind sie ja rau und furchig, aber dennoch schmerzt es mich, länger den Stift zu halten. Rücken und Beine tun mir weh vom vielen Stehen. Ermüdet schleppe ich mich abends durch graue Gassen nach Hause und stehe vor leeren Regalen, in der absurden Hoffnung, es käme bald eine Lieferung. Kaum jemanden kenne ich hier, nichts hält mich hier – ich verbittere und dennoch gibt es noch eine Hoffnung, die mich hält: dich.
Mich verzehrt es nach dir, nach deinem Körper; danach die Lust in deinen Augen zu sehen, um wenigstens dort eine Freude auf Erden finden zu können – wenn sie auch nur kurzlebig sein mag.
Wie gern denk ich daran zurück, als ich das letzte Mal bei dir in Dresden war. Fünf Monate ist das jetzt her und wie sehr wünsche ich mich wieder zu dir. Doch du hast Recht, es ist gefährlich. Du riskierst einiges, wenn ich bei dir bin. Deine Karriere als Physiker steht auf dem Spiel. Stell dir nur vor, wenn sie dich exmatrikulieren würden, müsstest du Schlosser werden so wie ich. Ich sehe dich da keinen Tag, aber, wie ich dich kenne, würdest du dich wahrscheinlich trotzdem besser anstellen als ich mich jetzt.
Ach mein Elias, fünf Monate sind so eine lange Zeit. Wie sehnsüchtig warte ich darauf, dich wieder zu sehen; wie sehnsüchtig warte ich darauf, dich anzufassen; dir eine Freude zu bereiten.
Ich stelle mir gern vor, wir könnten einfach zusammen sein; könnten gemeinsam leben, ohne Skandal; könnten jeden Tag nebeneinander aufwachen und wieder nebeneinander einschlafen; bräuchten nichts mehr von der Welt außer einfach nur uns. Ich glaube, sogar mein Schlosserdasein wäre mir dann keine Qual mehr, wenn nur wir sein könnten.
Schön sind sie, die Gedankenspiele – hart die Realität. Draußen schlägt es zwölf, die Heizung bollert und ich werde Müde und muss allein schlafen.
Du bist meine Hoffnung und wir werden uns bald sehen, das weiß ich, mein Lieber.
Ich wünsche dir alles Gute und liebe dich.
Dein Karl
Im Sonnenschein eines leicht bewölkten Himmels saß der Student Ron auf einer Parkbank und glotzte auf sein Smartphone. Unbeschwert sah er in der leichten Sommerhitze die Profile auf Tinder durch. Sein Daumen wischte rasch über die leuchtende Oberfläche; er dachte eigentlich kaum nach und entschied instinktiv, ob ihm eine Frau gefiel oder nicht.
Plötzlich fiel ihm auf, dass der Akkuzustand seines Geräts sich dem Ende neigte. Um dennoch wenigstens telefonisch erreichbar zu bleiben, schaltete er sein Telefon in den Energiesparmodus.
Er saß da, der Wind wehte und die Sonne fiel ihm ins Gesicht. Er atmete tief ein. „Schön, das Leben“, dachte er, danach kam ihm kurz Simone in den Sinn. „Vielleicht hätte ich mich doch nochmal melden sollen“, fragte er sich. Er verscheuchte den Gedanken als albern und absurd und griff in seine Innentasche, um einen der Briefe herauszuziehen, da er nicht wusste, was er sonst zu tun hatte. Die Prüfungen waren erst in ein paar Wochen.
Neuruppin 12.02.1984
Mein lieber Elias,
wenn du diese Zeilen liest, bin ich bereits tot; bin zum Selbstmörder geworden und habe mich freien Willens dazu entschlossen, mir mein Leben zu nehmen, weil mein Handeln hier in der DDR nicht frei sein konnte.
Weil ich dazu verurteilt wurde, irgendwo in der Provinz ein Schlosserdasein zu führen, das mir aufgedrückt wurde, anstatt mich studieren zu lassen. Doch vor allem werde ich gehen, weil wir einfach nicht zusammen sein können. In deinem Realismus weißt du so gut wie ich, dass du nicht aufhören wirst in der Physik nach Erfolg zu streben, weil es das einzige ist, was dir irgendeine Freude bringt. Wenn du mit mir zusammen bist, kannst du das nicht.
Du wirst in absehbarer Zeit heiraten müssen, der Karriere wegen. Du wirst in absehbarer Zeit zu große Angst haben, mich überhaupt zu empfangen. Und ich möchte, dass du weißt: ich war dir niemals Gram oder Böse deswegen. Ich verstehe dich vollkommen und ich möchte, dass du glücklich bist. Ich wünsche dir das Beste.
Ich habe mein Leben damit zugebracht, mich zu fragen, warum ich bin, warum ich lebe, warum die DDR ein beschissener Unrechtsstaat ist. Habe lachend mit einer Träne in den Augen das nächste Warum hinter jede Antwort gesetzt, die man mir irgendwie gab.
Im Schweiße meines Angesichts grub ich jeden Tag. Immer weiter, immer tiefer wollte ich den Dingen auf den Grund gehen und habe letztlich doch nicht mehr geschaffen, als mir selbst ein Grab auszuheben. Ich habe nichts gefunden, nur verloren, was ich eigentlich suche.
In dieses Loch fern der Sonne fiel eines Tages das Licht, das mir eine Antwort auf alle Fragen werden sollte. Du. Es gibt sie nicht die Antwort und doch ist es die Liebe. Nichts anderes verleiht meinem Dasein als Mensch einen Sinn, als einen anderen Menschen zu lieben. Einer Person unentbehrlich zu sein; einem Menschen alles zu geben, was ich habe. Ich will nichts anderes vom Leben als dich. Ich will nichts anderes vom Leben, als dich bedingungslos zu lieben. Ich will nichts anderes vom Leben, als bei dir zu sein.
Das kann ich nicht. Das kann ich nicht, weil unsere Liebe nicht möglich ist in dem Staat, in dem wir leben. Ich kann nicht zu dir, weil ein alleinstehender Mann nicht so oft zu einem anderen alleinstehenden Mann fährt. Ich kann nicht zu dir, weil ich dich herabziehe. Deinen Träumen, Wünschen und Zielen im Leben nichts mehr bin als ein Hindernis. Du hast etwas im Leben, an dem du Glück finden kannst. Du hast eine Passion, der du nachgehen kannst. Wenn wir beieinander sind, kannst du das nicht. Würden wir in einem andern Land leben, würden wir in einer anderen Zeit geboren sein, dann wären wir möglich. So sind wir es nicht. In der DDR gibt es keine schwulen Professoren.
Darum gehe ich, weil ich dir nicht im Weg stehen will; weil ich nicht schuld sein kann und möchte an deinem Unglück und dennoch einfach nicht ohne dich leben kann und will.
Ich sterbe, weil wir unsere Beziehung niemals offen werden leben können. Ich sterbe, weil mir einsames Dasein als Baumaschinenschlosser, der ich nie sein wollte, einfach nur lästig ist. Ich will nicht ein Leben lang warten, leiden und an dich denken müssen und mich fragen, ob ich je wieder zu dir kann. Ich habe keine Hoffnung mehr und bin mein Leben leid.
Finde mich im nächsten Leben, Elias. Finde mich dort, wo es kein Verbrechen ist, seine Meinung zu sagen; wo es gesellschaftlich nicht geächtet ist, wenn ein Mann mit einem Mann zusammenlebt; wo man studieren kann, was man will, ohne vorher zwangsläufig beim Militär gewesen zu sein; wo man kaufen kann, was man will, weil es weil keinen Mangel in einer Planwirtschaft gibt; wo freie Jugend auch freie Jugend heißt. Finde mich dort, wo wir frei sein können.
In ewiger Liebe
dein Karl
PS: Ich schicke dir die Lederjacke wieder, denn ich möchte, dass du sie hast als; dann kann wenigstens etwas von mir immer bei dir sein, so wie du immer bei mir warst. Hüte sie gut, die Jacke, und die Liebe in deinem Herzen.