Die Geschichte einer Frau
Der Wind fegt durch die spärlich beleuchteten Straßen und über die Dächer der Häuser. Regen prasselt gegen das große Fenster. Francine sitzt in ihrem großen, weich gepolsterten Schaukelstuhl. In diesem klobigen Ding wirkte sie noch zarter als sie ohnehin schon war. Ihr rotes, krausiges Haar trug sie zu einem Zopf gebändigt und das fade Licht unterstrich das Schimmern ihrer samtigen Haut.
Eine große Wohnung und ein geregeltes Einkommen erhielt sie für sechs Jahre ihres kostbaren Lebens.
Sie war gerade 16 Jahre alt, als Luke in ihr Leben trat. Er war damals 31 und von Beruf Makler. Unter ihren Freundinnen war er als Lady-, oder sollte man besser Girlie - Killer sagen, verschrien. Keine seiner Freundinnen war älter als 18 Jahre. Francine dachte bei ihr wäre alles anders. Er umwarb sie als galanter Gentleman und zeigte ihr die Welt und deren angenehmsten Seiten. Finanziell hatte Luke ausgesorgt und daraus machte er auch kein Geheimnis. Auf drängen seines, nicht minder erfolgreichen Vaters, machte Luke ihr eines Tages einen Heiratsantrag. Der Alte machte sich wohl immer noch die Hoffnung, sein Sohn würde ihm endlich einen Enkel bescheren. Er konnte ja nichts von der Zeugungsunfähigkeit seines Sohnes wissen. Dies war auch sicher einer der Hauptgründe für Luke, kleine Kinder zu hassen.
Am Ende dieser Ehe kam Francine letztendlich auf etliche Nebenbuhlerinnen von denen sie erfahren hatte und unzähligen dessen Existenz Luke geschickt vertuschte. Seitensprünge, Krankenhausaufenthalte und ein Leben in völliger Isolation - das war die Bilanz ihrer Ehe. Die Überschreibung der Eigentumswohnung, monatliche Unterhaltszahlungen, das hielt der Richter für eine angemessene Entschädigung nach all dieser Zeit. Für Francine ein Schlag ins Gesicht.
Der Regen ließ nicht nach, im Gegenteil; die Tropfen wurden größer und trommelten unaufhörlich gegen die Scheibe. Ja - Francine hat in ihren jungen Jahren schon einiges erlebt. Manch’ geschickter Autor könnte daraus einen Bestseller formen.
Doch lassen wir Francine doch einfach mit ihren eigenen Worten erzählen.
„Ich bin jetzt 25 Jahre alt, 25 Jahre. Ein viertel Jahrhundert! Das klingt soviel und doch ist es sowenig. Wenn ich bedenke wieviele Jahre meines Lebens sinnlos waren, die besten Jahre meines Lebens einfach verschenkt...
Wie verschwommen doch die Welt durch diese nasse, große Scheibe ausschaut!? Alles verschwimmt zu einer Einheit. Ohne jegliche Grenzen. Alles verfließt ineinander. Ich kann nicht aufhören die Welt durch diese Scheibe zu betrachten....
Nach meiner Scheidung sollte ein neues Leben beginnen...
Mit meinen 22 Jahren in einer solch’ großen Wohnung! Wenn ich zwei Dinge hätte aussuchen müssen, auf die ich am ehesten hätte verzichten können, es wären wohl die Haustürklingel und das Telefon gewesen. Diese beiden Dinge waren wohl stummer als ein Stein in der Wüste. Zu dieser Zeit war das „Guten Morgen. Was darf es ein?“ - des Bäckers das längste Gespräch welches ich führte. Ich weiß nicht mehr ganz genau, wieviele Abende ich weinend vor diesem Fenster saß und an meiner Entscheidung Luke zu verlassen zweifelte. Mein Leben schien am Ende zu sein. Alles deutete daraufhin, daß ich eines Tages nicht mehr aufwachen würde, die einzigsten Menschen auf meiner Beerdigung wären die Sargträger und der Pfarrer. Diese Menschen würden genauso ihren Job erledigen wie der Bäcker am Morgen. Mein Leben schien wahrlich am Ende zu sein - und zwar bevor es eigentlich richtig begonnen hatte.
Doch dann kam dieser Morgen:
Ich war beim Bäcker und saß wie jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit vor meinem Frühstückstisch: zwei Hörnchen, Marmelade, eine Schale Müsli, zwei Tassen Kaffee und die Morgenzeitung, die wie immer ungelesen auf dem Tisch liegen blieb. Ich haßte diese Angewohnheit, aber Luke konnte furchtbar wütend werden wenn ich sie mal vergaß oder es einfach keine mehr gab.
Ein völlig fremd gewordenes Geräusch sorgte für ein kräftiges Zucken in meinem Körper. Ich glaube kein Mensch kann sich vorstellen, daß eine einfache Haustürklingel eine solche Reaktion in einem hervorrufen kann.
Ding, Dong! Ein zweites mal klingelte es an der Tür....Wer konnte das nur sein?? Das wird doch nicht...?Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. Luke konnte es doch nicht sein. Er wollte nach unserer Scheidung die Geschäfte seines Vaters in Spanien übernehmen. Er wird doch nicht....?? Nein, lieber Gott! Nein! Mein Körper fing zu zittern an. Meine Beine wurden weich. Wie in Trance ging ich zur Tür. In meinem Kopf liefen immer wieder die gleichen Bilder ab: Luke, wie wütend er war, seine blutige Faust, so sehr hatte ich gehofft das endlich um mich herum alles dunkel werden würde...! Ich öffnete die Tür. Gott weiß warum ich es tat, aber ich öffnete sie. Und dort stand...: eine..., ...eine Frau!!??
Sie hatte blonde Haare bis zum Po und strahlend blaue Augen. Sie lächelte mich an und ihr Gesicht schien förmlich zu strahlen. „Hallo! Bitte entschuldigen sie die Störung, ich komme wohl ungelegen!“ ,sie drehte sich um und wollte gehen. Ich stammelte etwas davon, jemand anderes erwartet zu haben, aber sie soll doch bitte rein kommen. Verwirrt schaute sie mich durch ihre großen Augen an. Nach einem kurzen Zögern streckte sie mir jedoch ihre Hand entgegen und stellte sich vor:
„Mein Name ist Michelle! Michelle Sorms!? Ich komme wegen der Anzeige, wir haben doch zusammen telefoniert...?“ Nun war uns beiden die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Ich wußte beim besten Willen nicht wovon sie überhaupt sprach!? „Helfen sie mir doch bitte auf die Sprünge, ich habe zur Zeit etwas viel um die Ohren....!“Ich war viel alleine, aber ich war nicht dumm! „Sie hatten in der Zeitung inseriert, es hieß Sie hätten ein Zimmer unter zu vermieten. Am Telefon sagten Sie mir, ich solle es mir anschauen. Alles weitere könnten wir dann persönlich besprechen...?“ Die Verwirrung, zumindest die auf ihrem Gesicht, schien sich zu legen. Sie fing an von sich zu erzählen. Sie sei vom Beruf Maskenbildnerin, beim städtischen Theater angestellt, neu in der Stadt und lebe zur Zeit in einer Pension außerhalb. Sie benötige dringend ein Zimmer, da sie die hohen Kosten nicht länger aufbringen könne. Ich fühlte mich so gut wie lange nicht mehr. Wir redeten eine ganze Weile über ihren Beruf, den derzeitigen Wohnungsmangel und, und, und...!
„Wenn sie wollen können sie sich ein Zimmer aussuchen und wir richten es gemeinsam her!“ Meine Antwort schien Michelle zu überraschen. Sie wollte mit mir noch über die Miete reden, mir eine Bescheinigung des Arbeitgebers vorlegen. Doch ich versicherte ihr, daß die Miete erst nach einem Monat „probewohnen“ fällig wäre und sie niedriger als üblich ausfallen würde. In Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung von all dem was sich hier abspielte - schließlich gab ich nie eine Anzeige auf....!
Gleich nachdem Michelle ging, sie mußte noch ihr Zimmer in der Pension kündigen und ihre persönlichen Dinge abholen, begann ich damit das Gästezimmer herzurichten. Doch dabei bekam ich Zweifel. War ich überhaupt fähig mit einem anderen Menschen zusammen zu leben?
Die folgenden Tage und Wochen vergingen wie im Flug. Nur wenig später waren sämtliche Zweifel weggewischt! Wenn Michelle von der Arbeit kam hatte ich das Essen schon fertig. Kochen war eine große Leidenschaft von mir, doch neue Rezepte forderten nun mal einen unparteiischen Kritiker... Michelle war es manchmal sogar peinlich so von mir verwöhnt zu werden, aber wirklich unangenehm war es ihr nicht. So ergab es sich, daß wir immer mehr gemeinsam machten. Unser Abend endete meist bei einem oder zwei Glas Wein und endlos langen Gesprächen. Sie war die Freundin für mich geworden nach der ich mich seit Jahren sehnte. Sie erfuhr alles über meine Ehe mit Luke, seinen Seitensprüngen und die Geschichte meiner Narbe am Rücken. Michelle hingegen erzählte von ihren Abenteuern, meist mit Schauspielern vom Theater, die nie länger als ein paar Tage dauerten, in der Regel aber meistens noch vor dem Frühstück endeten. Sie erzählte mir, wie sehr sie sich nach einer festen Beziehung sehne, nach einer Schulter zum anlehnen, Geborgenheit, Liebe, Vertrauen.... Für mich war es völlig unverständlich wie ein Mann eine Frau wie Michelle nach einer Nacht fallen lassen kann!? Mit der Wärme die sie verbreitet, wenn sie ein Raum auch nur betrat. Ihre sanfte Stimme, es ist wunderbar ihr beim erzählen zuzuhören. Und nicht nur das, sie war zudem auch noch wunderschön! Sie war schlank und hatte einen wunderbaren, runden und festen Busen. Wenn wir mal gemeinsam vor dem Spiegel standen und mal wieder alles anprobierten was unsere Garderobe so hergab, geizten wir beide nicht mit Komplimenten. Nach kurzer Zeit waren wir eigentlich immer der Meinung, uns habe sowieso keiner von diesen Machos verdient. Wir benahmen uns halt manchmal wie zwei durchgeknallte Teenies...
Doch dann kam der Tag, an dem Michelle nach Hause kam und mir scheinbar endlos von dem Hauptdarsteller aus dem neuen Stück „Endlose Gefühle“ vorschwärmte. Endlose Gefühle!? Wie kitschig!! Aber er habe so tolle Augen und er hat einen richtigen Knackarsch! Gleich bei ihrem ersten Aufeinandertreffen habe er sie zum Essen eingeladen. In mir stieg ein fremdes Gefühl hoch: ich war eifersüchtig! Wollte dieser ach so tolle Kerl mir etwa meine einzigste Freundin wegnehmen? Michelle war in kürzester Zeit zu dem Mittelpunkt in meines Lebens geworden. Sie war der einzigste Mensch mit dem ich über all meine Ängste und Sorgen reden konnte. Sollte mir all das jetzt wieder genommen werden?
Schnell war dieser Abend dann auch gekommen. Michelle stand ewig vor dem Spiegel und probierte etliches an Kombinationen aus. Egal ob rot, blau oder welche Farbe auch immer, ihr schien alles zu fade für diesen besonderen Abend. Sie entschied sich für ein schwarzes Stretchmini - Kleid. Sie war wunderschön! Das Dunkle in ihrer Kleidung unterstrich ihr engelhaftes Aussehen ins unermeßliche. War ich neidisch oder vielleicht eifersüchtig auf ihren Erfolg bei den Männern? Hatte ich schlicht weg Angst sie zu verlieren? Ich wußte nach einer Antwort brauchte ich nicht mehr zu suchen, sie würde jetzt nichts mehr ändern....
An diesem Abend leerte ich unsere obligatorische Flasche Samstagabend Wein ganz allein. Immer wieder hatte ich diese Bild vor Augen, als sie plötzlich vor meiner Haustür stand und dann das Bild als sie gerade ging. Es schien mir so endgültig, obwohl sie nur zu einem Essen ging.
Ich hatte schon geschlafen, der Wein hatte seine Wirkung hinterlassen, als ich eine Tür hörte. Sie war wieder da! Ich hörte weitere Schritte und bemerkte, daß sie nicht alleine war. Sie waren bemüht leise zu sein. Ihre Bemühungen nahmen ein jähes Ende als ich eindeutige Geräusche aus Michelle’s Zimmer vernahm. Ich vergrub mein Gesicht im Kissen. Tränen rollten über meinem Gesicht....
Doch plötzlich herrschte eine totale Stille, unterbrochen von einem kräftigen Schrei und starkem knallen einer Tür! Ich bekam Angst, was war dort bloß geschehen?
Ich riss all meinen Mut zusammen und wollte nach Michelle sehen. Doch soweit kam ich nicht. Michelle stand vor meinem Bett. So hatte ich sie noch nie gesehen. Sie weinte und ihre Hand umklammerte eine Flasche von unserem Lieblings - Wein, als wäre diese Flasche ihr letzter Halt. „Kann ich heut’ nacht bei Dir schlafen? Ich fühle mich so scheiße!“ Sie fing an mir von Vincent, Ihrem Hauptdarsteller zu erzählen. Den ganzen Abend habe er ihr etwas von Liebe auf dem ersten Blick vorgeschwärmt, ihr Komplimente gemacht und erzählt wie nervös er doch war, als er sie um ein gemeinsames Essen bat. „ Dann ging alles ganz schnell, er hatte nicht einmal mehr Zeit sich sein Hose auszuziehen! Und zum Schluß bat er mich noch, gegenüber den Kollegen solle ich doch bitte diskret sein!“
Dieser Abend wurde noch recht lang. Der Wein weniger und weniger und wir kamen zu dem Entschluß, daß alle Männer Schweine sind, oder sich erfolgreich vor uns verstecken würden....
„Stell Dir vor, uns könnte jemand so sehen! Zwei deprimierte, halbnackte Frauen gemeinsam im Bett und lästern über Männer....“ Michelle schaute mir tief in die Augen, ich spürte förmlich wie die Röte in meinem Gesicht aufstieg. Michelle aber schmiegte sich wortlos an mich. Ihre Haut fühlte sich so wunderbar warm und zart an. Zaghaft legte ich meinen Arm um sie und schloß meine Augen. Arm in Arm schliefen wir ein....
Ein Finger streicht sanft durch mein Gesicht. Über meine Wange. Über meine Lippen. Langsam öffne ich meine Augen. Ich schaue in ihr vertrautes Gesicht. Es kommt immer näher. Ich spüre ihren Atem. Ihre warme Haut. Diese sanften Lippen. So unendlich weich. Mein Mund öffnet sich. Unsere Zungenspitzen berühren einander. Ein Schauer jagt durch meinen Körper. Alles um mich herum verschwimmt. Ich scheine zu schweben. Unsere Zungen spielen miteinander. Meine Hand erforscht ihren Körper. Ich spüre ihre Hitze. Unendlich langsam gleitet ihre Hand über meine brüste, über meinen Bauch, über meine Hüfte, meinen Po, meine Schenkel. Ich fange zu zittern an. Ihre Küsse werden fordernder. Ihre Zunge umkreist meine Brüste. Jede ihrer Berührungen wird von tausenden kleinen Stromschlägen begleitet. Ich genieße ihren Duft. Ich sauge ihn in mir auf als gäbe es kein Morgen. Unsere körper schmiegen sich aneinander. Sie verschmelzen. Alles um mich herum verschwimmt zu einer Einheit. Ohne Grenzen. Eine Einheit. Ohne Grenzen. Michelle schaut mir in die Augen. Ein Gefühl voller Vertrautheit, voller Geborgenheit, Liebe...“Ich Liebe Dich! Nie wieder werde ich Dich allein lassen! Ich Liebe Dich!“
Nein - ich bin nicht allein. Ich bin einfach nur glücklich!
So, ja genau so war das damals. Damals schwor sie mich nie wieder alleine zu lassen. Sie gestand mir ihre Liebe und ich gestand ihr meine. Und jetzt? Jetzt sitze ich hier! Allein vor dem Fenster. Vor der nassen Scheibe. Sie lässt alles verschwimmen. Lässt keine Grenzen zu. Alles verschwimmt zu einer Einheit. Ohne Grenzen. Eine Einheit. Sie erinnert mich an Michelle. Ich vermisse sie so sehr. Ohne sie fühle ich mich einsam. Ohne sie fühle ich mich wieder so allein!
Aber.... - ....sie hat ja gleich Feierabend !