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Die Geschichte der weißen Bohne
Die Geschichte der weißen Bohne ist leichter zu verstehen, wenn man weiß, wie eine trockene Bohne aussieht. Das ist aber nicht weiter schwer.
Das sind die kleinen, weißen, nicht ganz runden oder fast ovalen Dinger mit einer kleinen Delle in der Mitte, die köstlich schmecken. Allerdings nur, wenn sie richtig gekocht werden.
Solche Bohnen wachsen in Schoten, genau wie die Erbsen, aber nach der Ernte werden sie erstmal getrocknet und sind dann sehr lange haltbar.
Aber niemand hat sich gefragt, wieso die Bohnen so eine komische Form haben.
Nun, ich hätte da eine Erklärung.
Also, es war einmal ein Bohnenstock, der glücklich und zufrieden in einem Gemüsegarten wuchs. Es war mitten im Sommer und der Stock war voll mit Schoten, die schon so reif waren, dass sie kurz vorm Platzen standen.
Eine Schote hatte es besonders schwer, denn die Bohnen in ihrem Inneren verstanden sich überhaupt nicht miteinander. Eigentlich sitzen die Bohnen ganz artig auf ihren Plätzen, bis es soweit ist, dass sie raus müssen, aber diese hier waren wohl eine wilde Sorte. Sie schubsten sich, sie knufften sich, sie drückten sich gegeneinander und jeder versuchte, einen besseren Platz als die anderen zu bekommen.
Die Schote ließ sich das eine Weile gefallen und versuchte sich so weit aufzublähen, dass alle Bohnen in ihrem Inneren genügend Platz haben. Aber irgendwann verlor sie die Geduld, denn die Bohnen wurden immer frecher, je mehr Platz sie bekamen.
"Kann mir bitte einer sagen, was mit euch los ist?", fragte die Schote, die am Ende ihrer Geduld war.
"Wieso glaubt ihr, das Recht zu haben, mich so zu behandeln als ob ein ein Sack Kartoffeln bin? Ich habe überall blaue Flecken von eurem Geschubse und platze bald aus allen Nähten! Was denkt ihr wohl, was passieren wird, wenn ich wirklich platze? Ihr werdet alle rausfliegen, euch irgendwo auf dem Boden verteilen und von den Hühnern gefressen! Vernünftige Bohnen warten, bis die Zeit reif ist, lassen sich pflücken, sortieren, in Körbe packen und in warme Kammern stellen. So war es schon immer, solange wir existieren. Wenn aber einer von euch wirklich nicht mehr warten kann, ans Tageslicht zu kommen, braucht ihr das nur zu sagen. Von mir aus rennt in euer Unglück! Na, wer ist so mutig?"
Die Bohnen blieben still und blickten erschrocken umher.
Ganz tief in einer Ecke saß eine kleine Bohne, die kleinste von allen. Sie fasste sich ein Herz und entschied sich für die Freiheit. Sie hatte genug von ihren Geschwistern und wollte sofort aus der Schote herauskommen. Da sie die kleinste war, hatte sie besonders viel zu leiden.
Die Schote warnte sie nochmal, aber vergeblich - die kleine Rebellin wollte raus, koste es, was es wolle.
Die Schote öffnete sich gerade so viel, dass die Bohne herausspringen konnte. Leider nahm sie zu viel Anlauf, vielleicht war auch die Wut, die in ihr brodelte, Schuld daran, dass sie weiter sprang als geplant. Sie fiel nicht in den Garten, sondern flog in hohem Bogen über den Zaun und landete auf dem Feldweg.
Benommen von der Landung tastete sie sich ab und stellte fest, dass nichts gebrochen war. Anschließend schaute sie sich um und entdeckte nicht weit entfernt eine grüne Tomate, die genau wie sie im Sand lag. Warum sie da lag, war schwer zu sagen. Vielleicht wurde sie von einem übermütigen Kind über den Zaun geworfen, denn Tomaten können nicht fliegen.
Jedenfalls wunderte die Bohne, die ihr ganzes Leben noch nie eine Tomate gesehen hatte und glaubte, dass jeder so aussah wie sie, sich sehr. Dann fing sie laut an zu lachen.
"Wie siehst du denn aus? Schwester, du bist ganz schön dick! Und warum bist du so grün im Gesicht, hast du Bauchschmerzen?"
Die kleine Bohne lachte immer weiter, sie lachte und lachte bis sie vor lauter Lachen platzte.
"Du hast deine gerechte Strafe bekommen", sagte die Tomate, "es ist nicht schön, über andere zu lachen. Vor allem, wenn du sie nicht kennst."
Die Bohne konnte nichts sagen, denn sie war zweigeteilt und lag unbeholfen im Sand.
Kurze Zeit später konnte man von Weitem eine kristallklare Stimme hören. Auf dem Feldweg erschien ein kleines Mädchen, das trällernd und hüpfend näherkam.
Hin und wieder blieb sie stehen und pflückte fröhlich Gänseblümchen, blaue Wegwarte und zarten Mohn, die sie zu einem kleinen Strauß zusammenband. In der anderen Hand hielt sie ein Körbchen mit Speisen, die sie ihrer Oma mitbringen wollte.
Plötzlich blieb sie stehen und betrachtete erstaunt die zwei Bohnenhälften.
"Ohje, was ist passiert, wieso bist du geplatzt?", fragte das Mädchen voller Mitleid. "Ich verstehe, du kannst natürlich nicht reden in deinem Zustand. Weißt du was, ich werde versuchen, dich wieder ganz zu machen, ich habe zufällig alles, was ich dazu brauche, bei mir."
Sie suchte in dem Körbchen und zog eine kleine Tasche mit Nähgarn und Nadeln heraus, setzte sich hin und legte die zwei Bohnenhälften in ihren Schoß.
"Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich schwarzen Garn zum nähen benutz, aber wie du siehst, habe ich keinen anderen dabei. Keine Sorge, ich werde mir Mühe geben, dass es nicht zu sehr auffällt."
Sie nahm die zwei Bohnenhälften zwischen die Finger und drückte die Nadel in der Mitte hinein. Sie nähte die Bohne wieder zusammen. Zum Schluss machte sie vorsichtshalber einen doppelten Knoten in der Mitte und schaute sich ihre Arbeit zufrieden an. Die Bohne sah etwas eingedrückt aus und hatte jetzt einen schwarzen Punkt, aber dafür war sie wieder heile.
"Nun weißt du, dass es nicht gut ist, über andere zu lachen", sagte die Tomate. "Siehst jetzt nicht mehr so schön und glatt aus wie früher."
"Na und", sagte die Bohne, die jetzt wieder reden konnte, "trotzdem bist du dick und immer noch grün im Gesicht. Ich habe wenigstens eine Taille, was du nicht hast!"
In Wahrheit war sie über die Delle an ihrem Bauch aber gar nicht begeistert.
"Sie ist nicht dick!", sagte das Mädchen. "Sie ist eine Tomate und so wie sie aussieht, ist das ganz normal. Und für die Farbe kann sie auch nichts, sie ist nur noch nicht reif. Ich kenne aber einen Trick von meiner Oma, damit sie nicht grün bleibt. Sie muss nur eine Weile im Dunkeln sitzen, dann wird sie schön rot. Ich werde euch beide zu meiner Oma bringen, dort stelle ich die Tomate in eine dunkle Kammer. Und du", sagte sie zu der Bohne, "kommst in die Erde. Vielleicht haben wir nächstes Jahr dann ganz viele Bohnen."
Sie steckte die Tomate und die Bohne in die Tasche ihrer Kittelschürze und fing wieder an zu trällern.
Und so ist es dazu gekommen, dass alle Bohnen in der Mitte etwas eingedrückt sind und die weißen Bohnen einen schwarzen Punkt haben. Natürlich sind über die Jahre andere Bohnen erschienen, anders gefärbt und vielleicht auch anders schmeckend, aber die Form haben sie alle bis heute behalten.
Eine Ausnahme gibt es jedoch. Man sagt, dass die Bohnen sich ihrer Umgebung anpassen und es gibt wirklich eine wunderschöne Bohne, die aussieht, als ob jemand Engelsflügel darauf gezeichnet hätte. Sie ist schön glatt, oval und hat keine Delle in der Mitte.
Es gibt auch eine sehr schöne Geschichte zu diesen Bohnen.
Es gibt auch eine sehr schöne Geschichte über diese Bohne.
Die Geschichte besagt, dass vor über 400 Jahren, während des 30-jährigen Krieges ein Dorf von Feinden zerstört wurde. Der Pfarrer aus diesem Dorf hatte es vor der Zerstörung gerade noch geschafft alle kostbaren Sachen aus der Kirche im Garten zu vergraben. Es waren goldene Kelche, goldene Kreuze und auch ein goldener Monstranz. Ein Monstranz ist ein heiliger, mit Gold verzierter Gegenstand, der dazu dient, den Gläubigen die Hostie zu zeigen. Er sieht so ähnlich aus wie ein Handspiegel, nur viel größer und viel schöner. Und die Hostie ist ein aus Sauerteig gebackenes brot, der den Leib Christi darstellen soll. Deshalb ist ein Monstranz auch heute noch, genau wie damals, ein heiliger Gegenstand in den Kirchen.
Der Pfarrer begrub also diese wertvollen Sachen im Garten und pflanzte an diesem Ort ein paar Bohnen, um sich die Stelle zu merken. Als der Bohnenstock später Bohnen bildete und diese aus den Schoten eingesammelt wurden, hatte alle Bohnen eine besondere Zeichnung darauf. Manche sagen, es sähe aus wie Engelsflügel, andere sagen, es sähe aus wie ein Monstranz.
Diese besonderen Bohnen werden bis heute meistens benutzt, um schöne Rosenkränze zu basteln. Sicherlich kann man die Bohnen auch kochen und essen, aber das wäre eigentlich viel zu schade.