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Die Geschichte der Schwalbe
Es gibt viele schöne Orte auf dieser Welt und wenn man genau hinschaut, findet man fast immer einen Grund, eine Geschichte darüber zu schreiben. Und so habe ich einen zauberhaften Ort gefunden, der mir fast von alleine seine Geschichte erzählt hat.
Es geschah weit weg, in einem Land, wo die Sonne fast immer scheint. In diesem Land gab es ein Dorf, klein und alt, ruhig und grün, bunt und sauber und so versteckt, dass kaum einer wusste, wo es ist. Das Dorf hatte viele Häuschen, die aussahen wie alte Frauen, die gebückt zueinander standen und sich pausenlos unterhielten. Die Häuser waren etwas ganz besonderes, denn dort sammelten sich im Frühjahr viele Schwalben, die ihre Nester unter die Dächer bauten. Überall im Dorf wuchsen Blumen, Palmen und große Kakteen. Die bunte Pracht war schon von weitem zu sehen und man konnte denken, dass die Natur ihre Farben an diesem Ort besonders großzügig verteilte. Es gab auch eine Menge Blätter und Blüten, trockenes Gras und weiches Moos, und in der Mitte des Dorfes sprudelte fleißig ein Springbrunnen.
Es war alles da, was eine Schwalbe brauchte, um ein Nest zu bauen, und deshalb flogen sie seit Jahrzehnten im Frühjahr dorthin. Eines Tages baute eine kleine Schwalbe an einem dieser Häuser ihr Nest und war dabei sehr aufgeregt, ja sogar richtig böse. Sie versuchte immer wieder, das Nest mit trockenem Gras zu stopfen, aber irgendwie schaffte sie es nicht. Sie zappelte hin und her und wurde immer nervöser, denn ausgerechnet vor dem Haus saß auf einem Baum eine andere Schwalbe, die ziemlich schüchtern dreinschaute. Es war ihr Mann und er sah so aus, als ob er sich gar nicht wohlfühlte.
„Kannst du mir sagen, wo du die ganze Nacht warst?“, fragte schließlich die kleine Schwalbe und versuchte dabei vergeblich, ein Stöckchen und ein paar Blätter am Nest anzubringen.
„Kein Wunder, dass du müde bist, wenn du dir die Nächte um die Ohren schlägst. Wir haben nicht mehr viel Zeit, das Nest muss für die Kinder fertig sein und du amüsierst dich lieber, statt mir zu helfen. Wir haben auch noch kein Stroh für das Kinderbett und überhaupt, wie soll ich alles alleine schaffen! Von mir aus kannst du dahin zurückgehen, wo du herkommst, ich werde bei meiner Schwester schlafen, auf dich ist kein Verlass!“
Ihr Mann blickte traurig und schuldbewusst drein und überlegte, wie er sich mit seiner Frau versöhnen könnte. Sie hatte Recht, gar kein Zweifel, aber nun konnte er daran nichts mehr ändern. Schuld waren seine Freunde. Sie hatten ihn überredet, mit ihnen zu feiern, und es wurde wirklich sehr spät. Und zu allem Überfluss sah er nicht weit entfernt die Frau Elster, die ganz bestimmt alles mitbekommen hatte.
„Wenn sie das weitererzählt, bin ich ein toter Mann“, dachte er verzweifelt und kam sich sehr schäbig vor, ungewaschen und mit zerwühlten Federn. Er wäre am liebsten in Boden versunken. Und seine Frau wollte auch nichts mehr von ihm wissen!
In der Tat, Frau Elster saß etwas höher auf dem Baum, zupfte an sich herum und tat so, als ob nur ihr Federkleid wichtig wäre. Aber in Wirklichkeit war sie ganz Ohr. Lange würde sie sich nicht mehr zurückhalten können, denn Elster plappern für ihre Leben gerne.
„Gut gesagt, Frau Nachbarin!“, platzte es aus ihr heraus. „Heutzutage sind alle Männer gleich. Die denken nur ans Feiern und selten findet man einen, der häuslich ist.“
Und weil, wie gesagt, Elstern von Natur aus sehr neugierig sind und gerne schwatzen, nutzte sie die Gelegenheit, plapperte weiter und fragte so nebenbei:
„Sag, wie kommt es, dass ihr so gut fliegen könnt mit den gespaltenen Schwanzfedern? Da fehlt doch was!“
„Das ist eine lange Geschichte. An der fehlenden Feder ist die Fee schuld“, antwortete die Schwalbe schmunzelnd und vergaß für ein Moment ihren Ärger.
„Was für eine Fee? Feen gibt es doch nur im Märchen und auch wenn es Feen wirklich geben sollte, was hat sie mit euren Federn am Hut? Oder trug sie eine an ihrem? Feen können zaubern, aber eine Feder kann doch nicht verzaubert werden! Oder doch?“, plapperte die Elster ohne Luft zu holen und außer sich vor Aufregung.
„Nicht ganz verzaubert“, sagte die Schwalbe. „Es wundert mich, dass du die Geschichte nicht kennst. Weißt du was? ich hatte sowieso vor, eine kleine Pause zu machen, komm näher und ich werde dir die Geschichte erzählen.“
Dann holte sie aus dem Nest eine kleine Walnussschale, stocherte kurz darin herum und zog zwei dicke Regenwürmer heraus, die sie sich mit der Elster teilte. Nachdem sie gegessen hatten, fing die kleine Schwalbe an, die Geschichte ihrer Familie zu erzählen.
„Es war einmal vor sehr langer Zeit ein Mädchen. Das Mädchen hieß Lola. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern und sehr verwöhnt. Keiner konnte ihr was recht machen, sie war sehr launisch und änderte ihre Meinung alle paar Minuten. Die Eltern versuchten ständig, sie umzustimmen, aber sie schrie, stampfte mit den Füßen und weinte so lange, bis sie ihren Willen bekam. Sie konnte sehr anstrengend sein und es passierte nicht selten, dass die Eltern erleichtert aufatmeten, wenn sie schlafen ging. Aber am nächsten Tag fing das Theater natürlich von vorne an und Lola sorgte wieder für absolutes Chaos. Nichts konnte sie zufrieden stimmen und die Mutter weinte oft vor Enttäuschung und Erschöpfung. Eines Tages, als Lola schmollend in ihrem Zimmer saß, flog eine kleine Fee durch ihr Fenster. Sie war sehr klein, aber sobald sie im Zimmer war, wuchs sie ganz schnell und ihr Kopf reichte fast bis an die Decke. Sie war sehr schön und trug ein langes goldenes Kleid, das nur so funkelte. In einer Hand hielt sie einen goldenen Stab, der am Ende gebogen war wie der Griff eines Regenschirms. Die Fee schaute Lola etwas böse und zugleich traurig an.
„Guten Tag, kleine Lola“, sagte die Fee und als sie sprach, schwebte sie handbreit über dem Boden.
„Ich beobachte dich schon lange und habe gesehen, dass du überhaupt nicht nett und lieb sein kannst. Das ist nicht schön, denn deine Eltern lieben dich über alles und erfüllen dir jeden Wunsch aber du bist immer schlecht gelaunt und machst deine Eltern sehr traurig. Siehst du diesen Stab? Es ist kein gewöhnlicher Stab. Damit kann ich zaubern und meistens bestrafe ich damit Kinder, die ungehorsam sind. Ich werde dir eine Woche Zeit geben, damit du dich ändern kannst und ein liebes Mädchen wirst. Wenn du dich in dieser Woche geändert hast, wirst du von mir nie wieder etwas hören. Solltest du dich aber nicht geändert haben, komme ich wieder und du bekommst die Strafe für deinen Ungehorsam!“
Nachdem die Fee die letzten Worte aussprach, wurde sie wieder ganz klein, wie ein Schmetterling, und flog durch das Fenster.
Lola wurde sehr nachdenklich und fragte sich, was das für eine Strafe sein sollte. Angst hatte sie nicht, aber sie nahm sich vor, lieb zu sein, so wie die Fee es wollte. Doch lieb zu sein war anstrengend und Lola hielt es nicht lange aus. Schon am dritten Tag konnte man wieder ihr Geschrei durch das ganze Haus hören und nach einer Woche erschien die Fee wieder und sprach zu Lola.
„Leider hast du nicht auf meinen Rat gehört, kleine Lola, und nun bin ich gezwungen, dich zu bestrafen. Du musst auch wissen, dass die Strafe niemals mehr zu ändern ist.“
Sie klopfte mit dem Zauberstab auf den Boden und Lola fing an, durch Zimmer zu schweben. Sie flog zum Fenster und während sie flog, verwandelte sie sich langsam in einen kleinen Vogel. Sie war fast draußen, aber ihr dunkelblauer Rock blieb mit dem Saum am Fensterbrett hängen. Lola zog wütend daran und riss den Rock auf. Ein Stückchen davon blieb flatternd am Fensterbrett zurück. Lola flog weit in die Luft und ihre Schwanzfedern hatten in der Mitte einen Spalt, genau so groß wie das Stückchen Stoff, das am Fensterbrett blieb. So wurde die kleine Lola eine schöne Schwalbe, die frei und hoch in den Himmel flog und anschließend verschwand. Von da an gab es keine kleine Lola mehr und das sollte ihr Schicksal sein.
Jetzt weißt du warum unsere Schwanzfeder gespalten ist.“
„Oje“, sagte die Elster empört und plusterte sich so sehr auf, dass sie wie eine Kugel aussah. „Und ihr müsst büßen für eure Urururgroßmutter? Und was haben die Eltern gemacht, nachdem Lola verschwand?“
„Wieso büßen? Wir kennen es nicht anders und ich kann mir nicht vorstellen, ein Mensch zu sein. Dort oben ist die Freiheit und es gibt nichts Schöneres, als mit dem Wind um die Wette zu fliegen oder andere Orte kennenzulernen. Und unsere gespaltene Schwanzfeder ist sogar sehr nützlich, denn so können wir besser lenken. Nur wenn wir im Frühjahr hier an unseren Geburtsort kommen, schauen wir immer an allen Fenstern nach, um vielleicht das Stückchen Rock zu entdecken. Deshalb bauen wir unsere Nester unter die Dächer oder nah an Fenstern.
Und ja, auch an die Eltern von Lola hat die Fee gedacht.
Sie sollten nicht darunter leiden, dass ihre kleine Tochter verschwunden ist. Sie schickte den Eltern im Traum die Fee des Vergessens und als sie aufwachten, wussten sie nicht mehr, dass sie eine Tochter hatten. Kurz darauf haben sie eine neue Tochter bekommen und waren sehr glücklich.
Und nun muss ich weiter bauen“, sagte die kleine Schwalbe, „bald werden wir Kinder haben, die schnell groß werden und dann müssen wir zurückfliegen.“
Frau Elster rupfte sich die Feder zurecht und flog eilig auf einen anderen Baum. Sie hatte jetzt eine Menge zu erzählen, denn Elstern sind von Natur aus sehr geschwätzig.