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Die Geisterinsel: Kathreen und das Mädchen
Kathreen und das Mädchen
Kathreen kroch aus dem Explosionskrater. "Scheiße, mir tut alles weh. Wie lange war ich außer Gefecht? Die Schlacht ist offensichtlich vorbei."
Mit schmerzverzerrtem Gesicht stand sie auf, dann sah sie sich um. Das Schlachtfeld wies Dutzende Explosionskrater auf. Überall lagen Leichen und Leichenteile, zerfetzte Kleidung, verbogene Schwerter, verbeulte Rüstungen... Über der scheußlichen Szenerie lag der süßliche Verwesungsgeruch. Krähen und andere Aasfresser taten sich schon an den Toten gütlich.
"Ich muss ziemlich lange weg gewesen sein," stellte die Söldnerin fest. "Zum Glück wurde ich noch nicht angeknabbert. Obwohl, das hätte bei mir auch keinen großen Unterschied gemacht."
Ein Windstoß ließ sie frösteln. Da bemerkte sie erst, das sie nackt war. "Die Explosion hat meine Kleidung zerfetzt. Und von meinen langen Haaren ist auch nicht viel über."
Auf einem Hügel standen noch die Überreste eines Katapultes. "Vielleicht ist es sogar das Katapult, das mir die Bombe vor die Füße geworfen hat. Das Schwarzpulver wird die Kriege noch sehr verändern. In dieser Schlacht sind mehr Menschen gefallen wie vorher in einem ganzen Krieg."
Die Söldnerin sah sich auf dem Schlachtfeld nach Brauchbaren um. Sie zog einem Toten die Stiefel aus, einem anderen die Hose, bis sie sich komplett eingekleidet hatte. Sie fand ein brauchbares Schwert, Pfeil und Bogen nahm sie auch noch mit.
"Das Zeug müffelt ganz schön, aber ich bin nicht in der Lage wählerisch zu sein. Ich brauch noch was zu Essen und zu Trinken. Dann versuch ich rauszufinden, wie die Schlacht ausgegangen ist."
Nach kurzer Suche fand sie am Rand des Schlachtfeldes einen Bach, dort schlug sie ihr Lager auf. Über einem Feuer grillte sie sich ein Stück Fleisch.
"Wo hast du das Fleisch her?" wurde die Söldnerin gefragt.
"Frag besser nicht, Kleines."
Ein blondes blauäugiges Mädchen von sechs oder sieben Jahren war auf der anderen Seite des Feuers aus der Nacht gekommen.
"Warum bist du alleine?" fragte Kathreen das Mädchen. "Wo sind deine Eltern?"
"Meine Eltern sind tot," antwortete das Mädchen. Jetzt bemerkte die Söldnerin, das der Blick des Kindes leer war.
"Wir hatten hier in der Nähe einen kleinen Hof. Vor ein paar Tagen stürmten einige Soldaten unser Haus. Ich konnte durch die Hintertür fliehen und hab mich in der Nähe versteckt. Von dort hab ich alles gesehn." Die Augen des Mädchens wurden feucht, sie schluchzte. "Sie haben so lange auf meinen Vater eingeprügelt, bis er sich nicht mehr rührte."
Das Kind hatte sich neben die Söldnerin gesetzt. "Meine Mutter haben sie auch umgebracht. Doch vorher haben sie... Es waren fünf oder sechs, einer hat sie festgehalten, während die anderen..."
Dann weinte das Mädchen hemmungslos, Kathreen nahm sie in den Arm.
'Seine Eltern zu verlieren ist schlimm,' ging es der Söldnerin durch den Kopf. 'Aber sie so zu verlieren ist grausam. Und dann noch Zeuge zu sein, wie die eigene Mutter vergewaltigt wird... Das ist der Krieg, mit den sauberen Schlachten in den alten Heldensagen hat das nicht viel zu tun.'
Nach einer Weile beruhigte sich das Mädchen wieder. Kathreen gab ihr etwas von dem Fleisch ab. "Wie heißt du den, Kleines?"
"Selina. Und du?"
"Mein Name ist Kathreen. Ich bin eine Überlebende der Sauerei dort drüben." Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter. "In den fast sechzig Jahren die der Krieg nun schon dauert, war das die bisher blutigste Schlacht. Und das nur weil sich damals die Söhne von Heinrich VIII nicht über die Thronfolge einig waren. Wenn Panthera und ich damals geahnt hätten, wie die Sache ausgeht, dann hätten wir eingegriffen. Jetzt ist es völlig aus dem Ruder gelaufen und wir können nur noch versuchen den Schaden zu begrenzen. Darin waren wir aber bisher nicht sonderlich erfolgreich."
Selina sah Kathreen aus großen Augen an. Da wurde es der Söldnerin erst bewusst, das sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte.
"Ich mach dir einen Vorschlag, Kleines: Ich wollte in meine Heimat zurückkehren, da kann ich dich mitnehmen. Dort merkt man nicht viel von dem Krieg, er wird dort niemals hinkommen. Du könntest dort friedlich leben und versuchen, zu vergessen, was dir passiert ist. Was hältst du davon?"
Etwas verlegen lächelte das Mädchen. "Nimmst du mich wirklich mit?"
"Aber ja, du kannst mir vertrauen."
"Danke."
"Wir machen uns gleich morgen früh auf den Weg, aber jetzt lass uns schlafen."
Kathreen legte noch etwas Holz nach, damit das Feuer nicht zu schnell ausging. Dann wickelte sie sich und das Mädchen in eine Decke. Da die Decke ebenfalls vom Schlachtfeld stammte war sie blutgetränkt, aber müde wie die beiden waren, störte sie das nicht.
Selina kuschelte sich eng an die Söldnerin. Kathreen schluckte, sie konnte durch die Kleidung den warmen Mädchenkörper spüren. 'Reiß dich zusammen' dachte sie. 'Komm nicht auf dumme Gedanken. Sie ist noch ein Kind, mindestens sechs Jahre zu jung dafür. Auch wenn du schon lange nicht mehr dazu gekommen bist, ist das noch kein Grund sich an einem Kind zu vergreifen.'
Die Söldnerin umarmte das Mädchen, es dauerte nicht lange, bis beide schliefen.
Nachdem sie sich am Morgen im nahegelegenen Bach gewaschen und die Wasserschläuche aufgefüllt hatten, machten sie sich auf den Weg. Mittags kamen sie an der ausgebrannten Ruine eines Bauernhofes vorbei. Selina drängte sich ängstlich an Kathreen.
"Sind das die Reste von...?" Fragte die Söldnerin.
"Ja, das war unser Hof."
"Lass uns hingehn," sagte Kathreen, "ich glaube nicht, das die Soldaten noch da sind. Außerdem sollten wir deine Eltern begraben. Und mit etwas Glück finden wir auch noch was Brauchbares."
Die toten Eltern des Mädchens lagen noch mitten auf dem Hof. Mit einem Holzbrett als improvisierte Schaufel hob die Söldnerin ein Grab für die Toten aus. Das Mädchen sah sich inzwischen in der Ruine um.
Nach einer Weile musste Kathreen eine Pause machen, erschöpft setzte sie sich auf den Hackklotz. Einen Moment später ging sie zum Brunnen und zog einen Eimer Wasser hoch. Sie roch kurz daran und probierte vorsichtig. "Scheint nicht vergiftet zu sein," stellte sie fest. "Im Krieg muss man mit so ziemlich allen rechnen. Mir macht Gift nichts aus, aber die Kleine..."
"Viel haben die Soldaten nicht übriggelassen," Selina war wieder bei Kathreen. "Ich hab noch ein Brot gefunden, es ist nicht mehr frisch, aber man kann es noch essen. Die meisten Tiere sind tot oder verschwunden. Aber ein paar der Hühner sind noch da."
Sie teilten sich das altbackene Brot. "Hast du sonst noch was Brauchbares gefunden?" fragte die Söldnerin nach. "Kleidung, Decken, Werkzeug...?"
Das Mädchen schüttelte den Kopf. "Leider nein. Aber ich kann ja noch mal suchen."
"Mach das. Wenn ich deine Eltern begraben habe, fangen wir uns eins der Hühner fürs Abendessen."
Sie hatte die Gräber fertig ausgehoben, nun legte sie die beiden Toten hinein.
'Mist, irgendwie hab ich nicht genug Erde, um die Gräber zu zumachen. Hm. Wenn ich von da hinten was wegnehme dürfte das nicht auffallen.'
Als sie fertig war steckte sie noch jeweils ein Brett ans Kopfende der beiden Gräber. "Weist du, wie deine Eltern heißen?", fragte Kathreen Selina.
Das Mädchen nannte ihr die Namen und die Söldnerin ritzte sie in die Bretter. Danach beteten sie kurz zusammen vor den Gräbern.
Cat gab dem Mädchen einen Klaps auf die Schulter. "Kümmern wir uns um unser Essen, das bringt dich auf andere Gedanken."
Wie sie bald merkten war es nicht einfach ein Huhn zu fangen. Kathreen schlich sich an eines der Hühner heran, dann sprang sie. Doch das Huhn flatterte davon und sie landete der Länge nach auf der Erde. Selina lachte über die Ungeschicklichkeit ihrer neuen Freundin.
"Mach du es erst mal besser," sagte die Söldnerin, während sie sich den Staub von ihrer Kleidung klopfte.
Auch Selinas Versuch endete mit einer Bauchlandung. Doch gemeinsam schafften sie es schließlich eines der Hühner zu fangen. Sie legten es auf den Hackklotz. "Halt es gut fest," sagte Kathreen, während sie ihr Schwert zog. Mit einem sauberen Hieb schlug die Söldnerin dem Tier den Kopf ab.
Das sterbende Huhn begann zu flattern und rutschte dem Mädchen aus den Händen.
"Nein nicht in die..." Kathreen lies ihr Schwert fallen und sprintete hinter dem kopflosen Huhn her. Kurz vor der Jauchegrube bekam sie es zu fassen.
"Puh." Die Söldnerin wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Das die Viecher in dem Zustand noch so schnell sein können..."
"Vor einiger Zeit ist eines sogar noch bis aufs Dach geflogen," sagte Selina.
Das Huhn wurde von ihnen über einem Lagerfeuer gegrillt. Nach dem Essen suchten sie sich einen Schlafplatz in der Ruine.
Am nächsten Morgen wurde Selina von einem lauten Plätschern geweckt. Das Mädchen stand auf und sah sich um, die Ursache des Geräusches hatte sie schnell gefunden. Kathreen stand nackt neben dem Brunnen und hatte gerade einen Eimer Wasser über sich gegossen. "Das ist genau das Richtige, um morgens in Schwung zu kommen," stellte die Söldnerin fest.
Sie zog einen weiteren Eimer herauf. "Du solltest dich auch waschen, Selina," sagte sie dabei. Das Mädchen wusste nicht was es sagen sollte, den ihr war an ihrer neuen Freundin etwas aufgefallen. "Deine Haare," sagte sie erstaunt, "wie konnten sie so schnell nachwachsen?" Die roten Locken gingen der Söldnerin wieder bis zu den Schultern.
Statt einer Antwort bekam die Waise einen Schwall Wasser ins Gesicht. "Was sollte das denn?" Beschwerte sie sich.
"Ich hab dir doch gesagt, du solltest dich auch waschen. Beeil dich, wir sollten früh aufbrechen. Bis zu meinem Heimatdorf ist es noch weit."
"Wo liegt den dein Dorf?" Fragte Selina, während sie begann sich zu waschen.
"An der Küste vom Grünen Meer. Eigentlich heißt es Perlenbucht, wegen der vielen Muscheln. Aber die meisten kennen es als Schwarzhafen. Wir werden noch mehrere Tage brauchen."
Nach einem kargen Frühstück aus Gemüse, das sie noch auf dem Feld gefunden hatten, brachen die beiden auf. Durch das trockene Wetter waren die unbefestigten Wege sehr staubig. Selina hustete, sie nahm einen Schluck aus dem Lederschlauch.
"Teil dir das Wasser ein," wurde sie von Kathreen ermahnt, "bis zur nächsten Wasserstelle ist es noch weit."
Etwas später kamen ihnen zwei Reiter entgegen. "Hier muss ein Feldlager in der Nähe sein," stellte die Söldnerin fest. "Sonnst wären die zwei nicht in voller Rüstung unterwegs."
"Na ihr zwei Hübschen?" Wurden sie kurz darauf von einem der Ritter angesprochen. "Wollt ihr nicht mitkommen um ein paar einsamen Männern etwas Trost zu spenden?"
"Ich kann mir denken wie der 'Trost' aussehn soll," winkte Kathreen ab. "Die Kleine ist dafür zu jung, und ich hab keine Lust, es mit nem Dutzend oder noch mehr Männern zu machen. Also lasst uns in Ruhe."
"Das war keine Bitte..."
"Na und? Ihr wisst wohl nicht mit wem ihr es zu tun habt. Mein Name ist Katarine von Kantzora, auch bekannt als Cat Feuerhaar."
"Du willst die berühmte Söldnerin sein, die schon über hundert Schlachten schlug?" Das Lachen des Ritters hallte in seinem Helm.
"Wenn du einen Beweis willst, gerne. Halt dir kurz die Ohren zu, Selina."
Mit einem kurzen Sprint überbrückte die Söldnerin die Entfernung zum ersten Reiter. Cat sprang, aus der Drehung trat sie dem Ritter in die Seite. Dieser verlor dadurch das Gleichgewicht und fiel aus dem Sattel. Auf dem Rücken liegend zappelte er hilflos, wie eine umgedrehte Schildkröte.
"Die scheppern immer so beim Runterfallen," stellte Kathreen mit einem kalten Lächeln fest.
Der andere Ritter galoppierte ein Stück zurück, dann nahm er seine Lanze im Anschlag. Cat griff nach der Lanze des Gestürzten. Die Söldnerin hielt die Waffe schräg nach vorne, das Ende hatte sie unter ihrem Fuß. So erwartete sie den heranstürmenden Angreifer.
'Du wirst dich gleich wundern, falls du noch dazu kommst,' stellte sie in Gedanken fest. Unter ihrem Fuß war eine Baumwurzel, an die sie den Lanzenstiel gestützt hatte. 'Jetzt muss ich nur noch den richtigen Moment abpassen.'
Im letzten Augenblick ließ sie sich zur Seite fallen, brachte aber dabei die Lanze noch mit einem kleinen Stoß in die richtige Position. Wieder gab es ein lautes Scheppern. Der Ritter kniete plötzlich auf dem Weg. Die Waffe hatte sich durch den Harnisch, tief in seine Brust gebohrt. "Du Hure," röchelte der Sterbende.
Die Söldnerin zuckte mit den Schultern. "Berufsrisiko," sagte sie dabei.
Dann hockte sie sich neben den anderen Ritter, der immer noch hilflos zappelnd auf dem Boden lag. "Was machen wir jetzt mit dir?", fragte sie ihn. "Sollen wir dich in der Sonne langsam gar schmoren lassen?"
Es war Sommer und die Sonne brannte heiß vom Himmel.
"Gnade, bitte hilf mir."
"Erst große Töne spucken, und nun um Gnade winseln? Na ich will mal nicht so sein." Die Söldnerin nahm ein Schwert vom Sattel eines der Pferde. Mit einem gezielten Stich zwischen dem Kragen und dem Helm der Rüstung, durchtrennte sie Kehle und Halswirbelsäule des Hilflosen.
Cat hörte wie jemand erschrocken Luft holte. Selina war auffällig blass geworden. "Warum...?" Fragte das Mädchen.
"Es hieß, 'sie oder wir.' Das ist nun mal der Krieg. Oder hättest du lieber für die Beiden und ihre Kameraden die Beine auseinander genommen? Ich glaub nicht das sie auf dein Alter Rücksicht genommen hätten. Solchen Typen ist jede Spalte recht."
Selina schüttelte sich. Sie wusste, das Kathreen recht hatte. Aber musste sie so brutal werden? Das war das erste Mal, das sie vor ihrer neuen Freundin Angst hatte.
"Kannst du reiten?" Wechselte die Söldnerin das Thema. Sie war dabei, die Pferde von ihren Rüstungen zu befreien.
"Äh? Ja ich kann reiten."
"Gut, mit den Pferden kommen wir viel schneller voran. Das spart uns n paar Tage."
Mehrere Stunden ritten sie schweigend nebeneinander. 'Hab ich sie so sehr erschreckt?' Überlegte Kathreen. 'Fast vier Stunden nicht ein Wort. Besser ich lass ihr noch etwas Zeit.
Ich freu mich schon Panthera und die Anderen wiederzusehen. Ich bin lang nicht mehr auf Kantzora gewesen. Soll ich Selina mitnehmen? Das soll sie selbst entscheiden. Es ist nicht ungefährlich für die Kleine. Aber ich hab es ja damals auch geschafft. Das ist jetzt schon über hundert Jahre her.' Die Unsterbliche seufzte.
Sie hatten den getöteten Rittern nicht nur die Pferde sondern auch das Geld und die Vorräte abgenommen. So brauchten sie sich um das Abendessen keine Gedanken zu machen. In einem Bach füllten die beiden ihre Lederschläuche.
"Noch ungefähr zwei Stunden, dann kommen wir zu einer guten Übernachtungsmöglichkeit," sagte Kathreen.
"Noch zwei Stunden? Mir tut jetzt schon der Hintern weh," beschwerte sich Selina.
"Das hältst du noch aus. Siehst du da unten ist..." die Söldnerin erstarrte.
"Bei allen Göttern, jetzt läuft es völlig aus dem Ruder," stellte sie entsetzt fest. In der Richtung in die sie zeigte lag das Feldlager eines Heeres, die Zeichen waren aus der Entfernung noch nicht zu erkennen. Neben dem Lager waren die rauchenden Ruinen eines großen, festungsähnlichen Gebäudes.
"Was ist das, Kathreen?"
"Eigentlich wollte ich dort übernachten. Das war ein Kloster, ein Frauenkloster." Die Söldnerin schüttelte sich. 'Besser nicht daran denken, was jetzt in dem Lager passiert.'
"Los, wir suchen uns ein Versteck, wo wir sicher übernachten können," sagte sie zu dem Mädchen. "Wenn die uns finden, werden die nächsten Stunden kein Vergnügen, zumindest nicht für uns."
Nach einer kurzen Suche fanden sie, in einer Felswand, eine geräumige Höhle, in der sie ihr Nachtlager aufschlugen.
"Das ist sehr nah am Weg, hier wird man uns schnell finden," stellte Selina fest.
"Mach dir darüber keine Gedanken, wir werden den Eingang verschließen."
"Und wie?"
Kathreen hatte einen Stein aufgehoben, den sie nun mit beiden Händen umschlossen hatte. Es sah aus als würde sie beten. Ein leichtes Flimmern lag um die Hände der Unsterblichen. So verharrte sie ein paar Minuten. Schließlich lies sie mit einem Seufzen die Hände sinken, und gab Selina den Stein.
"Leg den Stein in den Eingang," wies sie das Mädchen an, "Pinkel kurz drauf, geh ein paar Schritte zurück und sag dann laut und deutlich: 'Wachse'."
Kathreen wirkte sehr erschöpft. Sie schleppte sich an die Höhlenwand, wo sie sich langsam hinunterrutschen lies.
Selina legte den Stein in den Höhleneingang und hockte sich darüber. Da sie sowieso dringend musste, lies sie es einfach laufen. Dann ging sie wieder ein Stück in die Höhle. "Wachse."
Der Stein schien den Urin in sich aufzusaugen. Es knirschte und grummelte. Das Mädchen konnte zusehen, wie der Stein wuchs, bis er den Höhleneingang fast vollständig ausfüllte. Es blieben nur noch ein paar schmale Spalten, durch die Luft hinein konnte. Selina war beeindruckt. 'Ob sie mir das beibringt?'
Vorsichtig tastete sich das Mädchen wieder zu ihrer Freundin. Durch die schmalen Spalten kam nur noch sehr wenig Licht in die Höhle. Eines der Pferde schnaubte, die Dunkelheit und das Eingeschlossen sein, schien die Tiere nicht sehr zu stören. Als Selina wieder bei Kathreen war, merkte sie schnell, das die Söldnerin schon schlief. Sie legte sich daneben, es dauerte nicht lange, bis sie auch schlief.
"Wie kommen wir hier wieder raus?" Fragte Selina am nächsten Morgen.
"Ganz einfach," antwortete Kathreen. Sie klopfte dreimal gegen den Felsen, dabei sagte sie: "Vade retro."
Knirschend schrumpfte der Fels wieder auf seine ursprüngliche Größe. Die Söldnerin steckte den Stein ein. "Der Zauber funktioniert noch einmal," erklärte sie.
"Wo hast du das gelernt?"
"Keine Fragen, keine Lügen, Kleines. Vielleicht erzähl ich es dir noch, aber frag bitte nicht."
Kathreen merkte, das Selina eine Frage runterschluckte. Während sie selber frühstückten, ließen sie die Pferde auf einer Wiese grasen. Nach dem Frühstück ritten die beiden gemächlich weiter.
"Noch drei oder vier Tage, dann sind wir in meinem Heimatdorf," sagte die Söldnerin unvermittelt. "Dort werd ich dir einiges erklären."
Plötzlich hörten sie lauter werdendes Pferdegetrappel. Kathreen sah sich um. Hinter ihnen kam ein Reitertrupp den Weg hinauf. Die Söldnerin erkannte die Feldzeichen. "Mist, das ist der Trupp zu dem die beiden Ritter von gestern gehörten. Wenn die die Pferde erkennen haben wir ein Problem. Los!"
Cat und Selina galoppierten. Der Trupp beschleunigte ebenfalls sein Tempo. Wie die Söldnerin mit einem Schulterblick feststellte, holten die Verfolger auf.
'Scheiße, das ist hauptsächlich Kavallerie, ihre Pferde sind schneller als unsre schweren Kaltblüter. Was jetzt? Ah, das könnte gehn.'
"Beeil dich, Selina, wir müssen den Pass dort erreichen. Da kann ich sie aufhalten."
Ohne sich umzusehen hielt das Mädchen auf den schmalen Weg durch die Felswände zu. Kaum hatte sie die Stelle erreicht, hörte sie, wie Cat etwas rief. Dann gab es ein lautes Poltern.
"Da kommen die so schnell nicht durch," stellte die Söldnerin fest.
Ein großer Felsen versperrte hinter den beiden den Durchgang. Als sie genauer hinsah, bemerkte Selina, das Kathreen einen feuchten Fleck im Schritt hatte.
Den restlichen Tag blieben die beiden unbehelligt. "Bis zur Perlenbucht kommt keine größere Siedlung, nur noch einzelne Bauernhöfe und Holzfällerhütten. Normalerweise treiben sich hier keine Truppen rum. Aber nach der Sache von heute morgen, und dem Überfall auf das Kloster, bin ich mir da nicht mehr so sicher."
Sie hatten ihr Nachtlager auf einer kleinen Waldlichtung aufgeschlagen. Die Vorräte, die sie den Rittern abgenommen hatten gingen zur Neige, daher wollte Kathreen nach was Essbaren suchen. Doch sie brauchte nicht weit zu gehen. "Beweg dich nicht, Selina," wies sie ihre junge Freundin an.
Mit einem schnellen, entschlossenen Griff hatte die Söldnerin die Schlange, die neben dem Mädchen aufgetaucht war, am Schwanz gepackt. Cat lies die Schlange zweimal über ihren Kopf kreisen, und schlug sie dann, wie eine Peitsche, hart auf einen Stein. "Damit ist unser Abendessen gesichert," bemerkte Kathreen.
Ein paar Tage später klapperten die Hufe ihrer Pferde auf einem Schotterweg. "Riechst du das, Sel?" Kathreen atmete tief durch.
"Irgendwie salzig," antwortete das Waisenmädchen.
"Der Wind kommt wieder vom Meer. Wir sind ganz nah an der Küste. Hinter dem Hügel dort ist Schwarzhafen. Bald bin ich wieder daheim. Hoffentlich ist Panthera da."
"Wer ist Panthera?" Fragte Selina nach.
"Eine gute Freundin von mir," antwortete Kathreen, "sie und ihre Schwester haben mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Leider hat sie als Schwarzer Fährmann grade in diesen unruhigen Zeiten viel zu tun. Viele glauben, die Alten herausfordern zu können, nur weil sie ein paar Schlachten überlebt haben."
Inzwischen waren die beiden auf dem Hügel angekommen. Wie Selina von dort aus feststellte, war der Ort für ein Dorf nicht gerade klein, und recht wohlhabend; fast alle Straßen im dem Ort waren gepflastert. Die umliegenden Felder schienen mehr als genug zu sein, um die Bewohner zu versorgen. Ein paar kleine Boote dümpelten im Hafen. Die Häuser machten einen gepflegten Eindruck.
Wenig später waren sie auf dem Dorfplatz, nahe am Hafen. Sie stiegen von ihren Pferden. "Tante Kathreen, endlich bist du wieder da." Ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren stürmte auf die Söldnerin zu.
"Hallo Marianne. Schön, dich zu sehn." Cat umarmte das Dorfmädchen. "Du bist groß geworden."
"Es sind ja auch fast drei Jahre vergangen. Komm mit, die anderen freuen sich bestimmt auch dich zu sehn."
"Ist Panthera da?"
"Vor zwei Tagen ist sie mit einem Fremden rausgefahren."
"Schade. – Ach so, das ist Selina. Selina, das ist Marianne."
Die beiden Mädchen begrüßten sich, dabei wirkte das Waisenmädchen etwas schüchtern.
"Sind deine Eltern zu Hause?" erkundigte sich Kathreen bei Marianne.
"Mein Vater ist noch draußen, aber Mutter ist da."
Die drei gingen in das Haus des Mädchens. "Mama, ich hab Besuch mitgebracht."
"Wen den? – Oh. Kathreen, du bist wieder da? Und wer ist die Kleine?"
"Das ist Selina," erklärt die Söldnerin. "Sie hat im Krieg ihre Eltern verloren, und ich hab ihr versprochen, mich um sie zu kümmern. Aber vorher will ich noch mit Panthera nach Kantzora, kann sie so lange bei euch bleiben, Jun?"
"Natürlich, Tantchen," sagte Jun. "Wenn du sie bei dir aufnehmen willst gehört sie ja fast zur Familie."
Selina schien verwirrt. "Kathreen ist viel älter als sie aussieht," erklärte die Dorfbewohnerin. "Sie ist die ältere Schwester der Großmutter meines Mannes. Sie ist schon über hundert Jahre alt. – Oh, hat sie dir das noch nicht gesagt, Kleines?"
"Nein, das hatte ich noch nicht," antwortete die Söldnerin. "Das ist mir unterwegs irgendwie durchgegangen. Ich muss dir noch einiges erklären, Selina."
"Hundert Jahre? Aber..."
"Ich bin unsterblich, seit meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr bin ich nicht mehr gealtert. Und ich kann nicht sterben, egal wie übel ich zugerichtet werde."
"So wie vor vier Jahren, beim Holzfällen," wandte Jun ein. "Ein Baum fiel anders als gedacht. Mein Mann war starr vor Schreck. Kathreen hat ihn zur Seite gestoßen, und wurde selber vom Baum getroffen. Ihr Schädel und der gesamte Oberkörper waren zertrümmert, trotzdem war sie nach drei oder vier Tagen wieder fit."
"Ich bin schon unzählige Male gestorben, und immer wieder auferstanden. Es gibt nur eine Möglichkeit, mich wirklich umzubringen...
Vor hundert Jahren war ich auf Kantzora, der Geisterinsel. Ich hab sehr viel dort gelernt, auch Zaubern.
Selina, wenn Panthera wieder da ist will ich mit ihr zur Geisterinsel fahren. Du kannst mitkommen. Du kannst so werden wie ich. Aber du kannst dabei auch umkommen. Überleg es dir, du hast Zeit, bis das Schwarze Schiff wieder hier ist.
Wenn du nicht mitkommen willst... Ich werde in ein paar Tagen wieder hier sein, und dann können wir zusammen ein ruhiges Leben im Dorf führen, wie ich es dir versprochen habe."
"Du und ein ruhiges Leben?" Wunderte sich Jun. "Ob du das lange durchhältst, Cat? Du warst doch bisher nie länger als ein Jahr hier."
"Das wird sich zeigen," sagte die Unsterbliche lachend. "Äh, hast du für uns beide was zum Anziehn, Jun? Mit den Sachen kann man sich ja kaum noch unter die Leute trauen."
"Da findet sich bestimmt was. Für dich guck ich mal die alten Sachen von Marianne durch, Selina. Ein Bad würde euch beiden aber auch gut tun."
"Hat das Badehaus noch auf?"
Wenig später waren Selina und Kathreen auf dem Weg zum öffentlichen Badehaus im Dorf. In einer großen Tasche hatten sie Waschzeug und frische Wäsche zum wechseln dabei. Unterwegs wurde die Söldnerin häufig gegrüßt und angesprochen, das halbe Dorf schien sie zu kennen.
Im Frauenbad angekommen, zogen sie sich im Umkleideraum aus. Im nächsten Raum wusch sich Kathreen die Haare, danach wusch sie Selinas Haare. Das Mädchen begann zu schluchzen. "Was ist denn, Selina?"
"Früher hat Mama mir immer so die Haare gewaschen. Ich – ich..." Sie weinte sich in Kathreen Armen aus.
'Sie wird noch lange brauchen, um das Erlebte zu überwinden,' ging es der Unsterblichen durch den Kopf. 'Ich weis nicht, ob ich dir dabei helfen kann, Kleines. Aber ich werde tun, was ich kann.'
Schließlich beruhigte sich das Mädchen wieder. Nach dem Waschen entspannten sich die Beiden in dem großen Warmwasserbecken.
"Das hab ich auf meiner Reise am meisten vermisst," bemerkte Kathreen. Nach und nach kamen noch andere Frauen und Mädchen aus dem Dorf ins Bad. Es dauerte nicht lange, bis die Luft von Klatsch und Tratsch erfüllt war. Immer wieder war Flüstern, Kichern und Lachen zu hören.
"Lass uns gehn, bevor wir noch völlig verschrumpeln," sagte Kathreen nach einer Weile zu Selina.
Wieder im Haus von Kathreens Verwandtschaft, hatte Jun schon das Abendesser fertig. Ihr Mann Kato und ihr Sohn Markus waren vom Fischen zurück. So aßen sie zu sechst zu Abend. Für die Nacht machte es sich die Söldnerin, mit einer Decke in der Stube bequem. Selina schlief mit Marianne in einem Bett.
Sie waren am nächsten Morgen gerade mit dem Frühstück fertig, als sie einen Ruf hörten: "Das Schwarze Schiff kommt zurück."
Cat lächelte. "Endlich," sagte sie. "Ich hab Panthera schon lange nicht mehr gesehn. Nach all der Zeit kann ich wieder meine Freunde auf Kantzora besuchen."
Sie eilte zum Hafen. Sie sah noch, wie Panthera wieder einen neuen Pfahl am Weg zum Pier aufstellte, ein weiterer Schädel säumte die Straße. "Ich muss hier mal wieder ausdünnen," stellte der Schwarze Fährmann fest. "Ist nicht mehr viel Platz hier." Die Panterfrau wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
"Hallo, Panthera."
Der Schwarze Fährmann drehte sich um. "Ach du bist's Kitty. Schön dich zu sehn. Wie ist's dir in der letzten Zeit ergangen? Ich hab ein paar Mal gesehn, wie dein Licht flackerte."
"Auf Kantzora erzähl ich dir und den Anderen alles in ruhe. Fährst du morgen wieder?"
"Übermorgen. Gib mir etwas Zeit, ich brauch wieder nen Mann."
Cat lachte. "Na gut, dann übermorgen. Wie immer Mittags?"
"Natürlich, erzählst du mir dann auch, wer die Kleine da ist?"
Die Söldnerin hatte gar nicht bemerkt, das Selina ihr gefolgt war.
"Mein Name ist Selina. Und wer bist du?"
"Man nennt mich Panthera oder auch Schwarzer Fährmann. Hast du noch nie von mir gehört?"
"Kathreen hat mir etwas von Euch erzählt, aber das war nicht viel."
"Ich werd dir auch nicht mehr als nötig erzählen," erklärte die Panterfrau. "Wir Unsterblichen wollen unsre Geheimnisse bewahren.
Also Kitty, bis übermorgen Mittag." Zielstrebig ging der Schwarze Fährmann auf die Taverne 'zum Schädelweg' zu.
Zwei Tage später wartete Kathreen, zur verabredeten Zeit, am Schwarzen Schiff. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis Panthera kam. Mit einer qualmenden Pfeife im Mundwinkel schlenderte die Panterfrau den Weg zu ihrem Schiff hinunter.
"So wie du aussiehst, hast du bekommen was du wolltest, Panthera," stellte Cat fest.
"Das hab ich. Ich bin lang nicht mehr so gut gekommen."
"Dann las uns fahren."
Die beiden Unsterblichen wollten gerade ablegen, als Selina auf sie zugerannt kam. Schwer atmend blieb sie vor den beiden stehen. Als sie wieder Luft bekam, fragte das Mädchen: "Nehmt ihr mich mit?"
Kathreen und Panthera sahen sich kurz in die Augen, dann nickten beide.